Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Gemäß der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 teilen wir dir mit, dass diese Webseite eigene technische Cookies und Cookies Dritter verwendet, damit du effizient navigieren und die Funktionen der Webseite einwandfrei nutzen kannst. Falls du weiter navigierst, erklärst du dich mit der Installation der Cookies einverstanden.
Aufgrund deiner Einstellungen für Drittanbieter können wir diesen Inhalt nicht anzeigen.
Es wird gerappt, kurz vor der Generalprobe. Soundcheck im Studio der Vereinigten Bühnen Bozen. „Wir sind die, wir sind die, wir sind die Guten!“, tönen die vier Schauspieler:innen auf der Bühne. Es sind die beiden Südtiroler Schauspielgrößen Peter Schorn und Jasmin Mairhofer sowie Nico Dorigatti aus Niederösterreich und Antje Weiser aus Oberbayern, die als die personifizierten Tugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit in skurrilen Outfits ihre Rap-Skills zum Besten geben – und bereits für die ersten Lacher im Publikum sorgen, das heute nur aus Mitarbeitenden des Theaters sowie einigen Presseleuten besteht. „Jasmin hört man ein bisschen zu wenig“, ruft Regisseurin Elke Hartmann zum Tontechniker nach oben. Man spürt die Anspannung im Raum. Es ist eine der guten Anspannungen, eine, bei denen alle gepusht genug sind, um ordentlich Gas zu geben und doch noch entspannt genug, weil es sich „nur“ um die finale Probe vor der Premiere handelt. Die Stimmung ist also gut, im Saal.
Die große Zeit der Sünden ist vorbei
Die vier Tugenden Klugheit/Prudentia (Peter Schorn), Gerechtigkeit/Iustitia (Nico Dorigatti), Tapferkeit/Fortitudo (Antje Weiser) und Mäßigung/Temperantia (Jasmin Mairhofer) – allesamt übrigens weiblich gelesene Tugenden – finden zu einer Tagung zusammen, so wie sie es alle paar Jahrzehnte tun. Sie diskutieren darüber, wer es von ihnen am schwersten hat. Überlegen, was sie tun könnten, um die Menschen auf einen halbwegs guten Pfad zu führen. Analysieren den Status Quo der Gesellschaft, in der eine exzessive Lebensweise und patriarchale Strukturen entlarvt und gecancelt werden. In der sündhaftes Verhalten und Laster nicht mehr cool sind. Selbstoptimierung ist das A und O, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Klugheit sind – so vermarkten es die Menschen zumindest – wieder in. „Die große Zeit der Sünden, Schwestern, ist vorbei!“, frohlockt Prudentia, die wohl die am positiv gestimmteste der Tugenden zu sein scheint. Denn Fortitudo ärgert sich über den vermeintlichen Mut „feiger Schweine“ und wünscht sich mehr realistische Selbstwahrnehmung. Temperantia dreht in einer Szene des Stücks durch, würde sie doch mal gerne die komplette Pralinenschachtel verputzen und generell einfach mal komplett über die Strenge schlagen. Und nur, weil sich der Mensch die Tugenden auf die Stirn schreibt, bedeutet das nicht, dass er auch nach ihnen lebt. Viel heiße Luft auf dieser Welt – das ist besonders Iustitia klar. Sie rastet bei dem Gedanken daran, dass ihr keiner wirklich zuhört, komplett aus: „Ich bin fucking Iustitia und mir wird seit Jahren ins Gesicht gekotzt!“
Kontraste
So gekonnt kontrastreich hat sich die Bühne im Studio des Stadttheaters noch nicht oft präsentiert: Weiße Stoffbahnen schaffen den Raum, in dem sich das Meeting der Tugenden abspielt. Die schrägen Aufmachungen der vier Protagonistinnen (die ziemlich geniale Arbeit von Kostümbildnerin Katja Bottegal sollte hier auf jeden Fall erwähnt werden) verstärken als kleine Farb- und Stoffexplosionen Bühnenbild und Story bestens – und sie unterstreichen die Charakteristika der Tugenden: Da hätten wir zum einen Prudentia, die im Streberlook und blauer Gehirn-Jacke daherkommt. Iustitia, die mit gelbem Haar und spitz ausgestellten Schulterpolstern im Jacket eine „Mords Figur“ macht. Fortitudo, die in mutigem Pink und silbernen Stöckelschuhen einen Rucksack samt Schwert, griechische Säule und Helm bei sich trägt (und hinter der Bühne ihren Schoßlöwen warten lässt). Und Temperantia, die mit steiler Pinselfrisur, einem immer festklemmenden Dolch im Schuh und einem Weinglas, aus dem man nicht trinken kann, aufmarschiert.
„Ein humoristisches Stück kann etwas sehr Wichtiges: Es kann dich mit einem Lachen öffnen, um dann bittere Wahrheiten in dir zu versenken. Und das gelingt der Autorin dieses Stückes sehr gut“, trifft Regisseurin Elke Hartmann den Nagel auf den Kopf. Sie konnte von Intendant Rudolf Frey für das Stück „Die Guten“ von Rebekka Kricheldorf als Regisseurin gewonnen werden. „Was herausfordernd ist, ist der Wechsel zwischen wahnsinnig witzig und ganz ernst. Das Stück schaut da hin, wo sich Menschen fehlverhalten.“
Da gehen sie, fahren sie, sitzen sie… Denken nur bis zum nächsten Bier, Fick, Erfolg. Ihre Gehirne sind permanent damit beschäftigt, ihr Selbstbild aufzuhübschen. Sie lügen sich selbst besser, als sie sind, damit sie überhaupt die Kraft zum Weitermachen haben.
TemperantiaFür Hartmann ist es ein großer Spaß, ein Quartett zu haben, das nicht immer harmonisch ist – obwohl sie eigentlich ums gleiche kämpfen. Aufgrund der politischen Situation, die sich hier in Europa tut, habe das Stück laut Regisseurin etwas sehr Treffsicheres und vielleicht auch etwas Belehrendes – aber nicht auf eine brechtsche, sondern auf eine humorvolle Art. Dafür sorgen nicht nur die spitzen Dialoge des Theaterstücks selbst, sondern auch die Darsteller:innen, die den vier Tugenden sympathisches und menschliches Leben einhauchen. Das macht jede:r auf seine Weise sehr authentisch und mit selbstironischen Zügen – und irgendwie passt auch jede Rolle bestens zu den Schauspieler:innen. Ob das Stück wohl auch funktionieren würde, wären die Rollen vertauscht? Nun, so ist jedenfalls alles herrlich rund. Wären die Dialoge weniger provokant und komplex, würde das Ganze sogar als Kindertheater funktionieren. Bei den Großen hallt auf jeden Fall nach – und schreit sogar nach Wiederholung, damit man von den raschen Dialogen in einem zweiten Durchlauf noch mehr mitbekommt. Und um nochmal mitzugehen, mit den Protagonisten, ihrem Selbstbewusstsein und der gleichzeitigen Daseinskrise. Nochmal hinzuschauen, wie sie, die Tugenden aller Tugenden, in ihrem eigenen Charakter schwächeln und in ihrer Existenz zu wanken beginnen. Sie schmeißen Stühle, wollen betrunken sein, führen plötzlich Selbstgespräche. Ja: Wer will denn auch immer das sein, was er schon immer war?
Während man am Anfang des Stücks vielleicht ein bisschen Zeit benötigt, um in die Story und die Gedankengänge der Tugenden hineinzukommen, wird man spätestens bei einer dieser Szenen abgeholt. Gerade diese schlagen nämlich eine Brücke zum Publikum, sorgen für Zugänglichkeit und Momente des Schmunzelns … weil man diese Verzweiflung selbst gut nachfühlen kann.
Und apropos nachfühlen: Wir haben bei den Proben Elke Hartmann dann noch zum Zick-Zack-Interview gebeten.
Wie stehst du denn selbst zu diesem allseits präsenten Thema Selbstoptimierung?
Elke Hartmann: Bisher habe ich da versagt! (lacht) Ich finde das Wort Selbstoptimierung ganz grauenvoll. Das beinhaltet, dass du an Vielem, was dir passiert, selbst schuld bist. Wenn du alt wirst, bist du selbst schuld, oder wenn du Krebs kriegst, hast du sicher selbst was falsch gemacht … Denkt man an die Tugenden, dann betrifft dieser Selbstoptimierungswahn vor allem die Mäßigung. Für mich ist der Mut immer der entscheidende Punkt. Ganz oft weiß man, was man tun soll oder hat ein deutliches Gefühl dafür und es fehlt eigentlich nur der Mut, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten oder für jemanden einzustehen.
Wie stehen deine personifizierten Bühnen-Tugenden zum aktuellen Zeitgeist?
Ich glaube, die wählen alle links. (lacht) Nein, ernsthaft: Sie sind sehr traurig darüber und verzweifeln darüber, was in der Welt passiert. Gerne fantasieren sich die vier Tugenden in eine Größe hinein und behaupten von sich, sie seien ganz toll. Aber im Grunde haben sie keine Macht über die Menschen und können nicht mehr als das, was Influencerinnen können und sagen: Seid nett.
Als Influencerinnen werden die vier Tugenden im Stück übrigens dann auch gezeigt: in Form von Reels auf Monitoren, in denen die über 2.000 Jahre alten Tugenden Justitia, Prudentia, Temperantia und Fortitudo Social-Media-Tugend-Content liefern, um die jungen Leute zu erreichen. Ja, auch sie gehen mit der Zeit.
Hand aufs Herz: Welche Laster wirst du nicht los?
Naja, mit der Mäßigung habe ich es nicht so (lacht). Na, ich hab alle. Ich bin manchmal ungerecht, manchmal dumm und feige bin ich auch oft. Aber das mit der Mäßigung ist schon so ne Sache … Ich gehe oft auf Premieren und denke mir: Heute trinke ich nichts und dann verlasse ich die Premiere völlig betrunken (lacht).
Der Mensch ist zu erstaunlich guten Dingen imstande.
PrudentiaWo zeigen sich die vier Tugenden des Stückes in der heutigen Zeit?
Es gibt solche Menschen der Gegenwart, wie es der russische Kremlkritiker Alexey Nawalny war oder auch Gisele Pelicot, die beide sehr viel von diesen Tugenden vereinen.
Sie alle werden im Stück erwähnt und von den Tugenden gehuldigt: Nawalny, Pelicot, Malala, Pussy Riot, die Iranerin in der Unterwäsche. Und es werden die Bösen beim Namen genannt … sogar Barack Obama fällt in diesem Zuge und somit werden auch indirekt immer wieder Zweifel aufgeworfen: Wer ist wirklich zu 100 Prozent gut? Wer lebt wirklich tugendhaft? Und wenn am Ende sogar die Tugenden selbst beginnen einander zu verurteilen, weil eine von ihnen ihr Schicksal mit Antidepressiva zu bewältigen versucht, dann beginnt das System des In-Schubladen-Denkens ganz unauffällig zu wanken. Das schafft beim Publikum Momente des Nachdenkens.
Welche Fragen wirft das Stück „Die Guten“ auf?
Das Stück veranlasst die Zuschauenden bestenfalls zur Selbstreflexion: Wie verhalte ich mich selbst? Was kann ich verändern? Welche Möglichkeiten habe ich? Der Philosoph Rutger Bregman hat kürzlich ein Buch geschrieben und die Message darin ist: Der Mensch ist eigentlich ein guter Mensch. Diesen Gedanken mag ich sehr. Und seit wir an diesem Stück arbeiten, fällt es mir tatsächlich auch öfter auf, wenn jemand etwas Gutes macht.
Weitere Infos zum Stück sowie alle Termine gibt es hier: https://www.theater-bozen.it/production/die-guten/
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support