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Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 11.07.2019
Leben

Ein Himmel für Nils

Veröffentlicht
am 11.07.2019
Wie verarbeitet man den Tod des eigenen Kindes? „Ich verspreche dir“, schreibt Mutter Melanie an Nils, „bald wirst du uns wieder glücklich sehen. Immer, immer, immer traurig, aber nicht unglücklich.“
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Wie beginnt man eine Geschichte, an deren Anfang ein kleiner Junge tot ist? Erzählt man vom bodenlosen Kummer, von seinen blonden Haaren, von seinem Ritterschwert? Wie er geboren wurde an einem der letzten Märztage vor sieben Jahren? Wie er unerwartet wieder ging, frühmorgens im Juli 2015 mit drei Jahren und ein paar Monaten? Immer, immer, immer traurig, aber nicht unglücklich. Ich verspreche dir, schreibt Melanie an Nils, bald wirst du uns wieder glücklich sehen. Immer, immer, immer traurig, aber nicht unglücklich. Was man wissen muss: Nils war ein Ritter. Sein Schild und sein Schwert nahm er mit in die Klinik, wenn er gegen seine Leukämie in den Kampf zog und sie mit Nadeln, Schläuchen und Chemo kamen. Die Leukämie, die wie eine Erkältung urplötzlich da war, kurz vor seinem dritten Geburtstag.

März zweitausendachtzehn: Heute vor sechs Jahren war ich zu feige für eine Geburt ohne PDA. Ich habe die Hebamme gnadenlos angejammert, mir eine setzen zu lassen. Heute hätte ich den Schmerz genommen. Hundertausendfach. Würde er ihn mir zurückbringen. (Aus dem Blog von Melanie Garanin)

Sein Schild und sein Schwert nahm er mit in die Klinik, wenn er gegen seine Leukämie in den Kampf zog.


Melanie Garanin verarbeitet in ihren Bildern den Tod ihres Sohnes.

Ich treffe Melanie an einem sonnigen Sonntag im April. Das Wetter ist frühlingshaft, ausnahmsweise schön für Berliner Verhältnisse. Sie sitzt auf einer Bank in einem alten Friedhof mitten an der Prenzlauer Allee Ecke Mollstraße, der Alexanderplatz fußläufig. Draußen fahren Hipster auf Rädern, zweistöckige Touristenbusse und unerträglich viele Autos die vierspurige Allee zum Fernsehturm runter, aber hinter den Friedhofsmauern herrscht geradezu plakativ eine statische Ruhe wie unter einer Glasglocke. Im Verwalterhaus werden Melanies „Himmelsgucker“-Bilder ausgestellt. Ich erkenne sie sofort von ihren Zeichnungen wieder, auf denen sie sich selbst karikiert, wie sie in der Sonne sitzt, die blonden Haare nach hinten gefasst. Sie zu treffen bedeutet, auch Nils zu treffen.

Dreißigster Juni zweitausendsechzehn: Lieber Amazon-Shop! Ich habe ihren Heliumbehälter bestellt, wegen seiner dezenten Farbe. Er ist hier in hellgrau abgebildet. Er soll am 5. Juli neben dem Grab meines dreijährigen Sohnes stehen, damit die Leute, die ihn zum 2. Todestag besuchen möchten, einen gelben Ballon mit Gas füllen und steigen lassen können. Glauben Sie ernsthaft, ich stelle diesen neonpinken Heliumbehälter dort hin? Pink? Könnte sein, dass sich mein Sohn im Grab umdreht vor Entsetzen! Nein, im Ernst. Der Tag ist wichtig und nicht SO leicht für uns. Ich schicke Ihnen das pinke Dings zurück, meinen Sie, Sie schaffen es, mir noch einen Hellgrauen zu senden bis Dienstag? Herzlichen Dank, Melanie Garanin.

Zu milde Symptomatik, nichts deutete auf eine Pankreatitis hin, wird eines der Gutachten später sagen. Mangelhafte Diagnostik, sagt das andere. Aus welchem Grund auch immer wurde die Bauchspeicheldrüsenentzündung übersehen, die niemals hätte übersehen werden dürfen, wenn man einem Patienten Asparaginase gegen seine Leukämie gibt. Bei Nils habe durch die Milde der Symptomatik nichts auf eine Pankreatitis hingewiesen, wiederholt die Klinikchefin dem Tagesspiegel. Aber er habe doch immer gesagt, dass er Bauchweh hat, sagt sein großer Bruder. Am fünften Juli 2015 steht der Notarztwagen in der Morgendämmerung vor dem Haus der Garanins. Oben schlafen Nils’ beide älteren Geschwister noch, sein jüngster älterer Bruder ist wach und wartet im Kinderzimmer und unten können die Eltern noch nicht begreifen, was passiert ist. Die Kriminalpolizei und ein Oberarzt wollen Nils zur Obduktion mitnehmen. Bitte nicht, sagen die fassungslosen Eltern, bitte nicht. Wie schnell kann man den Tod seines Kindes begreifen? Wie rasch kann man sich von seinem Dreijährigen verabschieden? Sie brauchen Zeit, die sie nicht mehr bekommen – Nils wird zur Obduktion mitgenommen. Man wird feststellen, dass Nils nicht an seiner Leukämie, sondern an einer Pankreatitis starb. Am fünften Juli zieht nachmittags ein Sturm auf.

August zweitausendfünfzehn: Am selben Tag, etwa zwölf Stunden später. Es war so heiß. So drückend und still. Weltstillstand. Plötzlich kommt Wind auf. Nein – Sturm! Von einer Sekunde zur nächsten blitzt und donnert es. Kein Gewitter der normalen Sorte, sondern eins, bei dem die Blitze so hell und die Donner so laut sind, dass man normalerweise ins Haus flieht und Türen und Fenster verschließt. Ich brachte gerade die Mülltonne an die Straße und mein Mann machte den Hühnerstall zu. Ja, so was macht man auch an so einem Tag. Wir trafen uns in der Mitte des Gartens und mussten lachen. „Er ist angekommen“, sagten wir gleichzeitig. Und da war ein Fünkchen, ein minikurzes Glimmen von Glück. Sofort wieder weg, abgelöst von tiefstem Unglück, aber spürbar.

Aber er habe doch immer gesagt, dass er Bauchweh hat, sagt sein großer Bruder.


Trauer ist nicht linear. Löst den größtmöglichen Stress in unserem System aus, äußert sich physisch und psychisch. Menschenunmöglich scheint sie mal, mal wieder bewältigbar. Die Rhythmen sind unvorhersehbar und individuell. Im Großen und Ganzen geht es darum, beides auszuhalten: Das Herzzerreißende und das Heilsame. Und beides gleichzeitig, denn Trauer ist vor allem eines: ein Sammelsurium an Gefühlen von tiefschwarz bis himmelblau, die ihrer eigenen Logik folgen und die man lernen muss, wie Gäste, die man niemals eingeladen hat und so schnell wie möglich wieder loswerden will, hereinzubitten und auszuhalten. Melanie hält aus und mit ihr ihr Mann, ihre Kinder, ihre Familie und Freunde. Wenn andere leiden, kostet das von der eigenen Kraft und steckt an. Weil jeder einen anderen Rhythmus hat, jeder anders getaktet ist in seiner Trauer und wenn’s beim einen grad geht, geht’s beim anderen vielleicht grad nicht. Ein Großteil der verwaisten Eltern steuern nach dem Kindstod in die Scheidung, sagt die Statistik. Sie sagt aber auch, dass stützendes Zusammenbleiben im Leiden eine Ressource ist. In der Trauer schlägt man sich leichter als Armee.

September zweitausendsechzehn: Wie wir das erste Kapitel überlebt haben? Wir hatten die besten, stärksten Freunde an unserer Seite, die man sich wünschen kann. Die tollste Familie. Alle haben alles mit ausgehalten. Waren da, wenn wir sie brauchten, ohne uns zu bedrängen. Lachten mit uns, weinten mit uns. Weinten, wenn wir lachten und brachten uns Lachen, wenn wir weinten. Trost, Halt, Rotwein. So ungefähr.

Nils wird auf dem Waldfriedhof beerdigt, in seinem Haifisch-Shirt. Ständig hat Melanie Kerzen bei sich, um der Dunkelheit immerhin symbolhaft beizukommen. Irgendwann setzt ihr Mann Georg ihrem Pferd Viento eine Kerze zwischen die Ohren und es sieht herzzerreißend und lustig aus. Das erste Kerzentier. Melanie malt Viento mit der Kerze zwischen den Ohren und dann malt sie weiter. Zeichnet dreihundertfünfundsechzig Kerzentiere, von denen sie sich wünscht, sie hätte kein einziges je zeichnen müssen. Qualle und Kuh, Schnabeltier und Schmetterling, vor allem aber Affen und Löwen, weil Nils die so mochte. Die Tiere tragen ihre Bürde mit Würde. Manchmal müde, manchmal trotzig, manchmal tollpatschig, manchmal souverän, manchmal stoisch, manchmal sehr geknickt – aber sie tragen. Und wenn sie nicht mehr tragen können, dann sitzen oder liegen sie neben ihrer Kerze, aber sie bleiben dabei. Und immer leuchtet die Kerze geduldig, und bleibt licht, geht nicht aus. Die Kerzentiere überwinden, schlagen eine Brücke über die Kluft zwischen Dunkel und Hell nach einem Verlust, überwinden die tiefe Sprachlosigkeit. Nichts an den Kerzentieren ist realistisch oder logisch, sagt Melanie, sie sind magische Wesen, märchenhaft. Und sie erreicht Menschen mit ihrer Kunst, deren eigene Ausdrucksmöglichkeiten in der Trauer erschöpft sind. Menschen, die ihre Kinder verloren haben. Menschen, die Familienmitglieder verloren haben. Die Abschiednehmen und vor allem eines mussten: Nach dem Abschied irgendwie wieder ins verdammte Leben finden. 

Die Kerzentiere überwinden die tiefe Sprachlosigkeit.


Februar zweitausendsechzehn: Vorletzte Nacht habe ich von Nils geträumt. Das erste Mal. Jemand gab ihn mir in den Arm. „Da bist du ja“, träumsagte ich zu ihm, ganz unaufgeregt, gar nicht hysterisch. Wäre ja anzunehmen gewesen… Ich kann es zeichnen, weil das Bild so scharf war. Und das Gefühl so real. Dankbarkeit. Er ist nicht weg.

Die Unfähigkeit vonseiten der professionellen Dienstleister, sich mit der Kausalkette der unglücklichsten Umstände auseinanderzusetzen, gipfelt in der Unbeholfenheit, der Familie im November nach Nils’ Tod Geld zu überweisen. Eine Anklage verlieren sie trotzdem. Die widersprüchlichen Gutachten werden zugunsten der Ärzte ausgelegt. Googelt man die Gutachterin für das von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachten, findet man Publikationen zusammen mit einem der Beklagten. Bei den Garanins weckt das einerseits einen dringenden Zweifel an der Unabhängigkeit des Gutachtens und andererseits eine hilflose Wut. Am anderen Ende der Kommunikationskette schweigt man eisern. Es bleibt bei einer einzigen formellen Beileidsbekundung der Versicherung mit der Überweisung der Summe nach Nils’ Tod, um der „besonderen Situation“, in der sich die Garanins befinden, „Rechnung zu tragen.“ Am Ende des Bescheides wird der Familie aufrichtig empfundenes Mitgefühl ausgesprochen.

Wenn Melanie darüber spricht, klingt durch die Zeilen entschuldigend hindurch, dass sie andere mit der Schlechtigkeit der Welt belasten muss. Während Nils Eltern, die Illustratorin und der Arzt, in der Trauer an der Aufklärung der Todesumstände gearbeitet haben, wollten sie eines gewiss nicht tun: Die Geschichte um Nils’ Tod breittreten. Aber seine Kämpfe sucht man sich nicht alle freiwillig aus, und besonders dann nicht, wenn es um das eigene Kind geht. Und so wurde, je größer das Schweigen auf der einen Seite wurde, auf der anderen Seite Nils’ Armee laut. Mit Bildern, die von Nils erzählen, die inzwischen über Deutschland hinaus in den Häusern von Menschen hängen. Mit Ausstellungen, in der die Trauer und die Liebe Form und Farbe bekommt. Mit ihrem Blog, in dem Melanie Worte findet. Und mit Gesprächen wie an jenem Tag im April auf einem Friedhof in Berlin.

Und so wurde, je größer das Schweigen auf der einen Seite wurde, auf der anderen Seite Nils’ Armee laut. 


Februar zweitausendsechzehn: Geht‘s wieder? Nee, leider nicht. Bedaure, sagen zu müssen, dass es überhaupt nicht geht. Nicht wieder und nicht noch und auch nicht besser. Es geht nicht. Es bleibt. Und es wird, finde ich, schwerer, das zu erklären. Warum man empfindlich ist, warum man oft zickig ist. Dann wieder gut drauf, um im nächsten Augenblick in Tränen auszubrechen. Gerne allein. Lust zu nix. Wirklich nichts. Manche Menschen mag, andere nicht ertragen kann. Immer auf der Hut. Erinnerungen lauern hinter jeder Ecke. Oder man will sich an etwas erinnern und es ist einfach mal weg.

In der Gratwanderung zwischen Vertrauen und Autonomie verlassen sich die Garanins wie alle Eltern auf die behandelnden Ärzte im Vertrauen darauf, dass sie ihr Kind damit am besten schützen. Besserwissereltern machen die Situation schließlich auch nicht besser und die behandelnden Ärzte nicht zugewandter. Nils Vater, selbst Arzt, weiß das gut. Die Null-Fehler-Kultur in der Medizin ist vorherrschend, Fehler sind ein Tabu, dabei ist Fehlerfreiheit in der Medizin eine absolute Unmöglichkeit. Bei Nils wird etwas übersehen, geht etwas unter, wird nicht entdeckt, verschwindet im System. Nils klagt über Bauchweh. Verstopfung und Bauchweh durch die Chemo und die Antibiose werden vermutet. Das Pankreas bleibt „unbeurteilbar“ in der Bildgebung. Angst haben sie keine in den Tagen vor seinem Tod – sie ahnten ja nichts, denn die Pankreatitis blieb bis zum Schluss unerkannt. Und Leukämien haben doch eigentlich keine so schlechte Prognose. Vielleicht war das im größten Unglück noch die beste Option, sagt Melanie langsam. Hätte jemand doch noch die Pankreatitis festgestellt, wäre nach der Gabe des Medikamentes nichts mehr zu machen gewesen und nie und nimmer hätten sie ihn so angstfrei begleiten können. So hat er am Tag vor seinem Tod noch im Planschbecken gesessen. Eine milde Symptomatik, ein tapferer Ritter, eine unklare Bildgebung, ein kleiner blonder Junge mit Bauchschmerzen, ein struktureller Engpass im Personal, denn Nils’ Behandlung fiel in die Zeit, in der an der Charité für den Verdi-Tarifvertrag gestreikt wurde, und am Ende ein Obduktionsbericht, der eine Pankreatitis feststellt und noch etwas: Dass Nils zum Zeitpunkt seines Todes krebszellenfrei war. Keine Leukämie nachweisbar.

September zweitausendfünfzehn: Wieviel sollte man hier zeigen? Soll man die ganze Welt mit seinen Schmerzen belasten? Reicht es nicht, wenn man selber leidet? Und die Familie und Freunde?

Wie es ist, jemanden zu verlieren, den man so sehr geliebt hat, ist ohnehin nicht in Worte zu fassen. Melanie schreibt an Nils: „Lieber Nils, kein Dreijähriger sollte schon so lange von Mama und Papa und seinen Geschwistern weg sein, ohne, dass sie auf ihn aufpassen. Auch wenn du meinst, du bist schon groß. Ich habe ein bisschen Angst, daß Gott viel zu viel zu tun hat, um sich genug um dich zu kümmern, auch wenn wir natürlich glauben sollen, er hätte für jeden im Himmel genug Zeit. Das Gefühl, dich in deiner neuen Welt nicht begleiten und sie dir nicht zeigen und erklären zu können, ist fast nicht auszuhalten.“ Für immer drei, jetzt sieben im Konjunktiv, der keine Option und keine Maßeinheit ist. Vermissen und Liebe hält sich an keine weltliche Zeitrechnung.

Vermissen und Liebe hält sich an keine weltliche Zeitrechnung.


März zweitausendneunzehn: Gestern erst habe ich dieses Wort gefunden. Nilsweh. Nicht zu vergleichen mit Heimweh, Fernweh, Bauchweh, Herzweh, Halsweh. Nicht so allgemein und abgewetzt wie Trauer. Wir hier haben gerade sehr viel und sehr schreckliches Nilsweh.

Melanie zeichnet weiter. Nach den Kerzentieren kommen die Immerindenhimmelgucker. Und die Armee für Nils, ein Großprojekt, das nächstes Jahr in Buchform herauskommen wird. Das Rotkehlchen vom Waldfriedhof ist der erste Ritter gegen die Traurigkeit. Und Viento natürlich, auf dem Nils mit seinem Laserschwert durch den Wald ritt. Die Ritter ziehen mit Nils und seiner Familie in den Kampf gegen die dumpfen Abgründe der Trauer. Und sie machen das verdammt mutig, unnachgiebig, elegant und witzig und zwar bis zum bitteren Ende, das gleichzeitig auch das Ende der Bitterkeit ist. Weil bis zum Schluss zwar verdammt viel Federn gelassen, aber eben auch Erlösung und Vergebung und Frieden gefunden werden. Immer, immer, immer traurig, aber nicht unglücklich. Wie lässt man sein Kind gehen, ohne sich selbst aus dem Leben zu verabschieden? Wie schafft man es in die verdammte letzte der vier Trauerphasen, der „Reorganisation-Genesungsphase“, ohne an den vorherigen drei zu zerbrechen? Anleitung gibt es dazu keine und noch nicht mal eine Garantie dafür, dass Trauer überhaupt vier Phasen hat und auf eine bestimmte Zeit begrenzbar ist.

März zweitausendsiebzehn: Müde bin ich. Weil, wir sind nun schon „Trauer-Fortgeschrittene“. Viele Dinge sind auf den ersten Blick einfacher geworden. Wie zum Beispiel Lidl-Einkäufe zur Kindergarten-Abholzeit. Jedenfalls meistens. Praxistipp: Immer Kopfhörer und Handy dabeihaben. Kindergeschrei durch Tanzmusik ausblenden. Geht gut.

Mit seiner Trauer ist man allein, aber mitten unter Menschen. Und die reagieren auf einen Verlust oft mit eigenen Vorstellungen, wie die Trauernden trauern sollten. Mit Büchern wie „No happy endings“ und „It’s okay to laugh, (crying is cool too)“ von Nora McInerney verschafft sich eine junge Trauerkultur den Platz in einer Gesellschaft, die auf Tod und Trauer bisher entweder nur unbeholfen oder mit Religion und Riten reagieren konnte. In Österreich ist es Barbara Pachl-Eberharter, die ihre zwei kleinen Kinder und ihren Ehemann verlor und mit ihren Büchern die beiden gegensätzlichen Pole „Aufgeben“ und „Weitermachen“ zugunsten eines kohärenten Ganzen auflöst: Trauer erledigt man nicht, mit Trauer lernt man leben.

Es sind junge Leute, vor allem Frauen wie Barbara, Nora und Melanie, die sich hinstellen und sagen schaut her, mir ist etwas Furchtbares in meiner Lebensmitte passiert: Ich habe jemanden verloren und werde nicht aufhören, zu vermissen. Werde nicht aufhören, diesen Verlust als Teil meiner Biographie mit mir herumzutragen und manchmal ist das unerträglich schwer. Aber ich bin noch da und zwar eine ganze Weile lang und bleibe mit meiner Geschichte, meiner Trauer und meinen zig anderen Facetten, die ich neben verwaister Mutter, Witwe oder trauernder Freundin auch noch bin, nicht am Rande. In Melanies Fall nämlich Mutter für drei weitere Kinder, Ehefrau, Künstlerin. Und ja, die Trauer fließt in alle Lebensbereiche rein, gibt einen neuen Grundton und verändert. Barbara Pachl-Eberharter sagt, Trauern lernen heißt vor allem wendig zu werden im Wechsel zwischen dem normalem Leben und dem Rückzug zu sich selbst. Biegsam sein, nennt es Melanie. Trauer ist kein singuläres Gefühl, ist nicht eindimensional wie Freude oder Wut etwa. Trauer ist die große Wunderkiste, da ist alles drin. Verzweiflung, Fröhlichsein, Wut, Lachen, alles auf dem Gefühlskontinuum zwischen tiefschwarz und zitronengelb. Und manche Regungen schreiben sich tief ein, werden verinnerlicht, werden mit der Zeit zu Zügen. Die Umstände eines Verlustes machen viel aus, entscheiden mit, was aus unserer Trauerkiste geholt wird. Wenn Melanie einen Wunsch hätte, dann, dass alle auf ihren kleinen Waldfriedhof an Nils’ Grab kommen und sich auf die gelbe Bank setzen. Alle, die ihn jemals abgehört, Blut abgenommen, operiert, eine Chemo angehängt oder Pommes gebracht haben. „Sie würden dann wieder gehen und alles wäre anders“, sagt Melanie, „weil sie dann anders wären.“

Trauer ist die große Wunderkiste, da ist alles drin.



April zweitausendsechzehn: Manchmal habe ich das Gefühl, ich verliere dich erst jetzt richtig. Als würdest du dich immer weiter entfernen. Den leeren Raum, den du hinterlassen hast, den durchquere ich inzwischen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Das ist so komisch. Weil es leichter wird, aber gleichzeitig viel schlimmer.

Jedes Jahr geht Melanie zum Gedenktag für die verstorbenen Kinder in die Klinik. Hält sich die Ohren zu wenn sie „Von guten Mächten“ singen und ist da, weil sie nicht einfach weg sein will. Schon im Weggehen begriffen, traf sie heuer im Flur den Arzt wieder, der Nils damals zur Obduktion mitgenommen hatte, lange, bevor sie bereit dazu waren und lange, bevor sie verstanden hatten, was eigentlich passiert war. Sie ging auf ihn zu und fragte ihn, ob er sich noch an sie erinnern würde, ob er sich noch an Nils erinnerte. Natürlich, sagte der Arzt. Er werde diesen Tag nie vergessen. Sie wurde laut, fragte ihn, ob er eigentlich wusste, was er damals getan hatte, als er Nils so rasch einfach fortbrachte. Seine Geschwister hätten sich nicht mehr von ihm verabschieden können. Der Arzt hörte zu, verteidigte sich, versuchte Worte zu finden und zu erklären und vor allem tat er eins: Er blieb stehen und hielt aus. Tat das, was in der Kommunikation zwischen den professionellen Dienstleistern und der Familie auf der Strecke geblieben war, zum Bandsalat wurde, nicht mehr auflösbar scheint und die Hilf-, Macht-, und Fassungslosigkeit auf Seite der Trauernden potenziert. Nichts habe sich seit Nils’ Tod auf der Station geändert, sagte Melanie. Doch, widersprach der Arzt, doch, das habe es. Eine Pankreatitis wird keiner mehr übersehen. Am Schluss nahm er ihre Hand in seine beiden Händen und sagte: „Es tut mir so leid.“ Melanie weinte. Der Arzt auch. „Und bitte sagen Sie auch Ihrem Mann, wie leid es mir tut.“

Juli zweitausendsechzehn: Er war so perfekt.

„Es tut mir so leid.“ Melanie weinte. Der Arzt auch.


Auf dem letzten Bild der dreihundertfünfundsechzig Kerzentiere ist ein kleiner Junge zu sehen. Er trägt eine Mütze auf dem Kopf und gibt Viento sanft ein Küsschen. Im unendlichen Reigen von Kommen und Gehen ist er gekommen, um kurz Hallo zu sagen. Nils bleibt für immer und drei. Es ist gut, dass er geboren wurde. Man hätte ihn sonst noch mehr vermisst. Seine kurze Lebenszeit ist ein Schatz, der kostbare Gral, den seine zurückgebliebenen Ritter hüten dürfen. „Liebster Nils, wir sind stolz und froh, dass du dreieinhalb Jahre bei uns warst“, schreibt ihm Melanie. „Die Liebe macht nicht Halt vor irgendwelchen Elementen. Oder Körpern. Oder unterscheidet zwischen Seele hier, Seele da. Und wo Liebe ist, kann das Glück nicht verschwinden. Die Glut bleibt, egal, was passiert. Man muss nur weiteratmen. Lieben. Ohne Angst.“

Fotos:
Melanie Garanin
(https://melaniegaranin.com)

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