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Leopold Steurer ist ein Kind der wilden 60er. Zeitlebens hat er als Historiker, Oberschulprofessor und zeitweilig als politischer Weggefährte Alexander Langers einen frischen und unkonventionellen Wind in die Südtiroler Gesellschaft gebracht. Wer ihn kennt, weiß, dass seine ungeschliffene Gelassenheit kaum zu erschüttern ist. Doch heute fällt es auch ihm schwer, eine bestimmte Nervosität abzuschütteln. „Ich kann nichts versprechen“, sagt er immer wieder, fast schuldbewusst, während wir in einem roten Saab 900 über die leere Passeirer Staatsstraße taleinwärts schießen.
Es ist der 25. Januar und die Luft im Passeiertal riecht nach Schnee, über uns stagniert ein wolkenbedeckter Himmel. Das Ziel unserer Fahrt ist St. Leonhard. Dort lebt Erich Pichler, ein Mensch von besonderer historischer Bedeutung. Pichler ist der letzte heute noch lebende KZ-Überlebende in Südtirol. Er ist 93 Jahre alt. Schon im August hatten wir vor, ihn zu besuchen, aber kurz vor unserem Termin ging es ihm plötzlich schlecht und er musste ins Meraner Krankenhaus eingeliefert werden. Doch Pichler hat eine zähe Haut. Nach einigen Tagen erholte er sich wieder und kehrte in sein Bauernhaus in St. Leonhard zurück.
Ob und in welcher Verfassung wir ihn heute antreffen werden, wissen wir nicht. Seit ein paar Tagen ist Pichler wieder nicht mehr erreichbar, der Grund ist uns nicht bekannt. Steurer will deswegen auf alles gefasst sein.
„Mit 93 Jahren, da kann es manchmal sehr schnell gehen“, sagt Steurer noch, als er die knarzende Holztür zu Pichlers Bauernhaus mit den grünen Fensterläden öffnet. Seit er Erich Pichler in den 1990er-Jahren im Rahmen seiner Forschungsarbeit zum Südtiroler Widerstand gegen den Nationalsozialismus erstmals kennengelernt hat, sind die beiden Männer, die altersmäßig genau 20 Jahre auseinanderliegen, befreundet und sehen sich seither fast jedes Jahr. Auch deswegen ist Steurer sichtlich aufgeregt. Der zähe alte Mann ist für ihn weit mehr als nur ein Gegenstand historischer Untersuchungen. Er ist ein Freund. Auf dem Steinboden im Hausflur liegen Patschen, an den Wänden hängen aufwendig eingerahmte Heiligenbilder. Wir lauschen nach Lebenszeichen, aber das einzige, was man hört, ist das Tick-Tack einer alten Pendeluhr. Leopold Steurer geht in Richtung Stube. „Hallo? Ist jemand daheim?“
17 Jahre alt war Erich Pichler, als er für die Nationalsozialisten unter die Waffen sollte. Es war der 2. Juni des Jahres 1944, ein lauer Frühsommertag. Das junge Alter des schmächtigen Bauernsohnes spielte bei der Musterung jedoch keine Rolle. Auch seine italienische Staatsbürgerschaft interessierte die Beamten wenig. Pichler, der genauso wie seine Eltern fürs Dableiben optiert hatte, wurde von den Deutschen zum Kriegsdienst einberufen, obwohl er selbst kein Deutscher war – ein eklatanter Bruch des damals geltenden Völkerrechts.
Solche bürokratischen Spitzfindigkeiten waren es aber kaum, die Erich Pichler und seinen Bruder Karl zum Desertieren bewegten. Für Karl, der seinem Bruder Erich ein Jahr Lebenserfahrung voraushatte, war die Situation damals ganz klar: Den verhassten Nationalsozialisten sollten er und sein Bruder auf keinen Fall als Kanonenfutter dienen. Es war der Sommer 1944 und auch wenn es besser war, das nicht offen auszusprechen, wusste letztendlich jeder, dass die Fronten für das Deutsche Reich immer mehr zu einem unbezwingbaren Schraubstock wurden. Am 6. Juni, ausgerechnet an dem Tag, als die Alliierten in der Normandie landeten, rissen Erich und Karl Pichler von ihrer Kaserne in Schlanders aus und liefen den Sonnenberg hinauf, um ihre Flucht fern von indiskreten Blicken fortzusetzen. Dass in Meran gerade Fliegeralarm war und alles, was sich noch bewegte, die modrige Sicherheit der Luftschutzkeller aufsuchte, kam ihnen bei ihrer Fahnenflucht nur zugute.
Der Krieg würde nicht mehr allzu lange dauern, dessen waren sich die beiden Brüder sicher. Ein paar Wochen noch, höchstens ein paar Monate, dann wären die Deutschen am Ende. Und die Zwischenzeit ließe sich problemlos in irgendeinem Versteck verbringen. Die darauffolgenden Tage verbrachten Erich und Karl Pichler zum Teil bei ihren Eltern, zum Teil in den Wäldern. Das Versteckspielen ging jedoch nur bis Mitte Juli so weiter, dann geschah etwas, womit die beiden Brüder nicht gerechnet hatten.
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Die Gendarmerie meldete sich bei den Eltern mit einem Ultimatum: Entweder stellen sich die Brüder oder ihre Familie käme an ihrer Stelle ins Konzentrationslager in Sippenhaft. Würden sich Erich und Karl Pichler aber stellen, dann würde ihnen nichts geschehen, versicherten die Gendarmen mit Nachdruck.
Es war ein Spiel, das sich damals hundertfach in Südtirol wiederholte. Laut einer im „Volksboten“ 1945 veröffentlichten Liste hatten 276 Südtiroler von Anfang an oder ab einem bestimmten Zeitpunkt den Kriegsdienst verweigert. Manche von ihnen wurden gefasst, andere stellten sich, um ihre Familie vor der Sippenhaft zu bewahren, andere wiederum befanden sich aufgrund ihrer fahnenflüchtigen Verwandten selbst in Sippenhaft. Mehr als 300 Südtiroler und Südtirolerinnen kamen auf diese Weise in Gefängnisse und Konzentrationslager. So auch Erich und Karl Pichler, die damals 17 und 18 Jahre alt waren.
Dass ihnen nichts geschehen würde, war eine gezielte Lüge, mit der man auch andere Südtiroler Deserteure bereits aus ihrem Versteck gelockt hatte. Am 17. November, nach längeren Aufenthalten in Kasernen und Kerkern und nach zwei mühseligen Gerichtsverhandlungen, wurden Erich Pichler und sein älterer Bruder Karl in einen Zug gesteckt, der in Richtung Deutschland fuhr. Am frühen Abend, nach vielen Stunden Fahrt, kamen sie in Dachau an. Von dem, was sie dort erwartete, hatten die beiden Brüder zu diesem Zeitpunkt noch nicht die geringste Ahnung.
Erich reißt die Augen auf, kneift sie dann wieder zusammen, um die unangemeldeten Besucher besser zu erkennen. „Ich bin’s, der Poldi!“, ruft Leopold Steurer. „Wie geht’s dir, Erich?“
Erich Pichler sitzt in der Stube über einer Schüssel Gerstensuppe. Das ist sein Halbmittag. Auf dem Holzstuhl neben ihm sitzt seine Frau und lächelt uns an. Im kommenden Jahr feiert das Ehepaar den 60. Hochzeitstag. „Gott lässt uns noch ein wenig büßen. Er könnte einen auch einmal mitnehmen, aber ich bin noch da“, antwortet Pichler auf die Frage nach seinem Befinden. An den holzvertäfelten Wänden hängen Fotos mit den Kindern, Enkeln und Urenkeln, darunter auch einige mit Buntstiften gemalte Kinderzeichnungen. Mehr oder weniger wöchentlich erhält das alte Ehepaar vom Nachwuchs einen Besuch, aber der Besuch von heute ist doch etwas ungewohnt. „Ich hab dir zwei Studenten mitgebracht, Erich“, sagt Steurer wohlwollend. „Die möchten auch deine Geschichten hören.“
Erzählen, das tut Erich Pichler gerne. Und er kann es auch. Trotz seiner 93 Lebensjahre erinnert er sich noch an beinahe jedes Detail seiner monatelangen Odyssee durch die Konzentrationslager der Nazis und die Kriegsgefangenschaft der Amerikaner. Als wäre es gestern passiert. Und das nicht nur sprichwörtlich: Auch sein Häftlingsaussehen hat Erich Pichler nie richtig abgelegt. Seine Wangen sind mit dem fortschreitenden Alter noch weiter eingefallen, seine Augen liegen tief eingehöhlt im Schädel, dazu kommt seine natürliche Schmächtigkeit.
„Die Vergangenheit hat mich nie so besonders beschäftigt. Mich interessiert das, was jetzt ist, mehr“, sagt Pichler. Vielleicht erinnert er sich gerade deshalb noch so lebendig an jede Einzelheit? „Ich erinnere mich, aber es nimmt mich nicht mit. Das was passiert ist, ist passiert“, erklärt der 93-Jährige. Andere hätten das, was ihnen im Konzentrationslager widerfahren ist, weniger gut verkraftet. Der Sarner Franz Thaler zum Beispiel, dessen persönliches Erinnerungsbuch „Unvergessen“ bereits zum Klassiker avanciert ist. Thaler ist 2015 gestorben. Zeitlebens hat er unter den traumatischen Erfahrungen, der Gewalt und der Erniedrigung durch die Nazis gelitten. „Thaler hat sich hineingesteigert“, sagt Pichler. „Dann kam es ihm vor, als wäre alles wieder da. Er hat oft geweint.“
„Die Vergangenheit hat mich nie so besonders beschäftigt. Mich interessiert das, was jetzt ist, mehr.“
Erich PichlerDas KZ Dachau diente hauptsächlich als Straf- und Arbeitslager für politische Häftlinge, Kriegsgefangene und gesellschaftliche Außenseiter. Obwohl Dachau nie als Vernichtungslager konzipiert war, lag die Todesrate hoch. Von über 200.000 Haftinsassen haben geschätzte 41.500 Menschen ihre Internierung nicht überlebt. Insbesondere politische Gegner wurden entweder direkt in Dachau ermordet oder in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Juden gab es zum Zeitpunkt der Ankunft Erich Pichlers Ende 1944 keine mehr in Dachau. Sie wurden bereits zwei Jahre zuvor nach dem Befehl Heinrich Himmlers, sämtliche Konzentrationslager in Deutschland „judenfrei“ zu machen, nach Auschwitz deportiert.
Dafür befanden sich neben Erich und Karl Pichler noch ein paar andere Südtiroler in Dachau. Auch bei ihnen handelte es sich weitgehend um Deserteure. Dass der Großteil ausgerechnet aus dem Passeiertal stammte, erschien Pichler damals als eine glückliche Fügung, ist aber aus historischer Sicht kaum überraschend. Das Passeiertal war nämlich während der Besetzung durch die Nationalsozialisten das eigentliche Zentrum des antinazistischen Widerstands in Südtirol. „Achtung Partisanengebiet!“, stand damals auf einem Schild am Eingang zum Passeiertal. In keinem anderen Tal Südtirols hat es so viele Deserteure gegeben. Eine Gruppe von 15 bis 20 Personen rund um den berüchtigten Widerstandskämpfer und Bandit Karl Gufler war sogar bewaffnet und verstand sich explizit als Partisanengruppe. Sie organisierten Vergeltungsaktionen gegen als besonders fanatisch geltende Nazi-Kollaborateure vom Südtiroler Ordnungsdienst (SOD), schossen auf deren Haus, raubten ihr Vieh, stahlen Lebensmittel und Kleidung. Bei einem Feuergefecht im September 1944 erschossen die Partisanen zwei SOD-Männer.
Erich und Karl Pichler hatten bezüglich des Zeitpunkts ihrer Ankunft in Dachau vergleichsweise Glück. Im Gegensatz zu den Vernichtungslagern im Osten, die nach der Wannsee-Konferenz in veritable Todesfabriken umfunktioniert wurden, sollte Dachau seinen Status als Arbeitslager nämlich beibehalten und sogar ausweiten. Seit dem 1. September 1943 hatte der jeweilige Kommandant des Lagers dafür zu sorgen, dass die Arbeitskraft der Häftlinge erhalten blieb. Damit wurden die Prügelstrafen, das Pfahlhängen und andere Schikanen und Foltermethoden zunehmend eingeschränkt. Auch die Menschenversuche, die lange Zeit an der Tagesordnung standen, fanden zusehends ein Ende. Vor 1944 wurden Häftlinge noch in Unterdruck- und Kühlkammern festgesetzt, um zu untersuchen, wie ihre Körper darauf reagieren. Andere wurden mit Malaria infiziert oder gezwungen, Meerwasser zu trinken. Ein Großteil der Opfer starb an den Folgen.
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Für Erich Pichler waren der Hunger und Krankheiten von Anfang an der größte Feind. Mit dem Vordringen der Alliierten wurden die Lebensmittel im Deutschen Reich zunehmend knapp. KZ-Häftlinge bekamen das zuallererst zu spüren. Ein halber Liter schlechte Suppe war meistens die ganze Tagesration. Tagsüber mussten Erich und Karl verschiedenste Arbeiten erledigen, von Reinigungs- und Instandhaltungsarbeiten im Innendienst bis hin zum Errichten von Luftschutzkellern und Eisenbahntrassen. Zwölf Stunden Arbeit pro Tag waren die Regel. Vor allem aber war darauf zu achten, dass die eigene „Stube“, in der meistens um die 50 Häftlinge lebten, blitzeblank sauber und ordentlich blieb. Das war ein bekanntes Steckenpferd der Nazis. Egal, welche Brutalitäten in einem KZ sonst begangen wurden, die Prinzipien von Sauberkeit und Ordnung mussten tadellos eingehalten werden. Wer sich nicht an die strengen Vorgaben hielt, lief Gefahr, selbst „gebürstet“ zu werden. Dazu musste sich ein Häftling nackt ausziehen, damit ihm anschließend mit der Bürste die Haut vom Leib gescheuert wurde. Nicht alle überlebten diese Traktierung.
Trotz Sauberkeitswahn breiteten sich im Lager jedoch die unterschiedlichsten Krankheiten aus. Nach Dachau transportierte Häftlinge und Kriegsgefangene schleppten immer wieder Typhus und Fleckfieber ein. Der nun 18-jährige Pichler steckte sich im Lager mit Tuberkulose an. Die Bazillen setzten sich in seiner Lunge fest und fingen an, sie langsam auszuhöhlen. 1949, vier Jahre nach seiner Rückkehr aus Deutschland, musste Pichler deswegen mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen. Dort wurde er operiert und seine Lunge gerettet. Die Zeit im Krankenbett nutzte er damals, um das, was er im KZ erlitten hatte, auf Papier zu bringen. Für den Historiker Leopold Steurer ein Glücksfall. Fast 50 Jahre darauf, im Jahr 1997, veröffentlichte er Erich Pichlers Notizen.
„Das hat nicht allen gefallen“, erinnert sich Steurer heute zurück. In Leserbriefen und Buchbesprechungen protestierten ehemalige Nazis und Sympathisanten lautstark gegen die Rehabilitierung dieser „Feiglinge“ und „Drückeberger“. Der Gedanke, dass die Deserteure in den allermeisten Fällen nicht aus Feigheit handelten, sondern sich aus religiösen Gründen oder aufgrund von schlichtem Hausverstand weigerten, ihr Leben in den mörderischen Dienst eines der verbrecherischsten Regimes der Menschheitsgeschichte zu stellen, war vielen Südtirolern in den 90er-Jahren noch immer fremd. Trotz der einfachen Logik, die hinter dem Akt der Kriegsdienstverweigerung stecken kann. „Was werde ich auf andere Menschen schießen“, lautete etwa eine der Begründungen, die Leopold Steurer für sein Buch von den ehemaligen Deserteuren zusammengetragen hatte.
Was andere Leute von seiner Desertion halten, ist dem 93-jährigen Pichler inzwischen herzlich egal. „Das wird sich jeder Einzelne selbst mit dem Herrgott ausmachen müssen“, sagt Pichler. Damals aber, kurz nach Kriegsende, da wollte man die Rechnung nicht erst dem Allmächtigen überlassen. Den Nazi-Kollaborateuren im Dorf sollten die Strapazen, die man wegen ihnen erlitten hatte, ordentlich heimgezahlt werden. Und nicht nur die eigenen Strapazen: So mancher Freund hatte die Grausamkeiten des Konzentrationslagers nicht überlebt. Auch in St. Leonhard kehrten nicht alle zurück. Und dafür waren ja nicht nur die Nazis in Deutschland verantwortlich, sondern auch die eigenen Landsleute, die sie verraten hatten. Von den Deserteuren aus dem benachbarten St. Martin, dessen Bürgermeister nicht mit den Nazis sympathisierte, kam zum Beispiel kein einziger ins Konzentrationslager. Ganz anders in St. Leonhard, wo einige Fanatiker das Sagen hatten. Ihre Namen kennt Erich Pichler immer noch.
Recht schnell wurden die Rachepläne der Heimkehrer dann auch konkret umgesetzt. Dem Bürgermeister und seinen Buben, die mit den Nazis sympathisiert und zusammengearbeitet hatten, lauerten die zurückgekehrten Deserteure des Dorfes auf und verpassten ihnen eine gehörige Tracht Prügel. Erich Pichler schmunzelt, wenn er heute davon erzählt. Persönlich war er damals aber nicht dabei. „Mein Vater hat es mir ausgeredet“, erinnert sich Pichler am Stubentisch. „Wir sollten lieber versuchen, jetzt wieder in Frieden miteinander auszukommen, hat er zu mir gesagt. Und ich habe auf ihn gehört.“
Thomas Zelger / Hi!mat
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