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Matthias Mayr
Veröffentlicht
am 02.02.2016
LebenJüdisches Leben in Meran

„Wir sind noch hier“

Veröffentlicht
am 02.02.2016
Die Juden Merans wurden vertrieben, verfolgt und deportiert. Heute wächst die jüdische Gemeinde wieder – nach den Angriffen auf Juden in Frankreich aber auch die Angst.
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Auf der Ehrentafel des Meraner Friedhofs stehen bekannte Namen: Der Schriftsteller Karl Wolf, der Arzt Franz Tappeiner, nach dem das Krankenhaus und der Panoramaweg benannt sind, oder der Buchhändler und Drucker Wilhelm Ellmenreich, Mitgründer der Spar- und Vorschusskasse, der heutigen Volksbank. Auf der Tafel ist auch der Name von Davide Wischkin in den Stein geprägt, geboren 1910 in Riga in Lettland, gestorben 1976 in Meran. Wischkin war Allgemeinarzt und auch für die Meraner Spitäler St. Anna und Lorenz Böhler tätig. Und er war Jude. „Ich bin stolz, dass ein Jude auf dieser Tafel steht“, sagt Chaim Lazar. Lazar ist Wischkins Großneffe und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Meran.

Rund 600 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde in den 1930er-Jahren. Doch dann kamen Faschismus und NS-Verfolgung, Meraner Juden wurden in Konzentrationslager gebracht und ermordet. Nach dem Krieg kehrten einige wenige zurück, heute bekennen sich wieder rund 50 Menschen rund um Meran zu ihrer Religion. Und es werden langsam mehr. Vor einigen Jahren gab es die Bar Mitzwa zweier Brüder, die erste seit 40 Jahren. Mit diesem Fest erlangen die jüdischen Kinder die Religionsmündigkeit, ähnlich wie bei der christlichen Firmung. Aber da ist auch die Angst: Keiner der jüdischen Mitbürger, mit denen wir gesprochen haben, will mit Foto und Namen im Internet zu finden sein. Besonders seit in Frankreich Juden auf offener Straße angegriffen wurden, ist die Angst gestiegen, wieder verfolgt zu werden. Vor der Synagoge patrouilliert an diesem Dezembertag die Polizei. Das ist an sich nichts Neues, auch in anderen Städten Europas dreht die Polizei in der Nähe von Synagogen ihre Runden, um Präsenz zu zeigen. In letzter Zeit passiert dies in Meran allerdings wieder häufiger als noch vor ein paar Jahren.

Vor der Synagoge patrouilliert an diesem Dezembertag die Polizei.


Gedenktafel auf dem Friedhof von Meran

Chaim Lazar ist der jüdische Name, den sich der heute Mittvierziger bei seiner Bar Mitzwa ausgewählt hat – seinen bürgerlichen Namen will er nicht verraten. Chaim Lazar lebt seit 16 Jahren mit einer Katholikin zusammen und hat zwei Töchter. Sie nennen ihn Abba (aramäisch: Vater). So nannte auch Jesus seinen Vater. Bei seinen Eltern war die „Mischehe“ noch ein Problem. Die Eltern seiner Mutter seien gegen die Hochzeit gewesen, sagt er. Seine Geburt hätte aber alle Vorurteile beseitigt, seitdem feiern alle gemeinsam Weihnachten. Chaim feiert mit seiner Familie die katholischen und die jüdischen Feste, aber mehr aus Tradition denn aus religiösen Motiven. Die Synagoge besucht er, „um die Zehn voll zu machen“. Zehn Männer braucht es, damit der Gottesdienst gefeiert werden kann. „Ich möchte, dass unsere Gemeinschaft und unsere Traditionen weiterleben, und ich möchte davon erzählen.“ Dabei mag er diese Aufmerksamkeit gar nicht. „Bin ich interessanter, weil ich Jude bin? Nein, ich bin wie alle anderen.“ Er sei es leid, in den Augen der Leute anders zu sein. „Juden sind nicht besser oder schlechter als andere, es gibt Ehrenbürger und es gibt Falotten, wie überall.“ Er empfindet sich als typischer Südtiroler. Er spricht als Kind Deutsch, besucht dann die italienische Schule. Er geht in die Synagoge, nimmt aber auch am katholischen Religionsunterricht teil. „Meinen Eltern war es wichtig, dass ich beide Religionen kennenlerne“, sagt Chaim. Seine jüdischen Großeltern sprachen italienisch und deutsch, nur beim Streiten, da verfielen sie unweigerlich ins Jiddische. Chaim arbeitet als Fremdenführer, Fotograf und Gärtner, repariert Computer und kümmert sich tagsüber um die beiden Töchter, wenn seine Frau arbeitet.

„Bin ich interessanter, weil ich Jude bin? Nein, ich bin wie alle anderen.“

Chaim Lazar

Orthodoxe Juden in den 1930er-Jahren in Meran.

Die ersten Spuren jüdischen Lebens in Meran gehen auf das 11. Jahrhundert zurück. In der Blütezeit Merans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen auch viele Juden in die Passerstadt: Händler, Ärzte, aber auch einfache Menschen zur Kur. Es gab in der Stadt ein Sanatorium für Juden in Not. Und Investoren, so wurden viele der ersten Seilbahnen, auch die Mendelbahn, mit dem Geld jüdischer Investoren finanziert. Die Meraner Kultusgemeinde entstand im späten 19. Jahrhundert, die Synagoge wurde 1901 eröffnet. Bis 1938 lebten rund 1.500 Juden in der Passerstadt, darunter auch Meraner jüdischer Herkunft, die keinen Kontakt zur jüdischen Gemeinde hatten, und einige hunderte Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und Österreich. Es gab einen religiösen Antisemitismus, wie schon seit Jahrhunderten, aber keinen politischen. Allerdings war Meran 1933 die einzige Stadt in Italien, in der es zu antisemitischen Aktionen kam, bereits seit 1931 gab es in der Passerstadt eine NSDAP-Ortsgruppe, die aus reichsdeutschen Staatsbürgern bestand. Mit den italienischen Rassengesetzen im Jahr 1938 mussten Juden ohne italienische Staatsbürgerschaft das Land verlassen, Juden wurden aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen. So wie Arthur Langer, Vater des ehemaligen Grünen-Politikers Alexander Langer: Der Oberarzt am Sterzinger Krankenhaus wurde entlassen.

Meran war 1933 die einzige Stadt in Italien, in der es zu antisemitischen Aktionen kam.

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Viele Juden tauchten unter oder flohen, erst nach Oberitalien, ab 1943 vor allem in die Schweiz. Im September 1943, nach dem Einmarsch der Nazis, wurden 25 Juden verhaftet und nach Bozen gebracht, einige von ihnen kamen später in Konzentrationslagern um. 33 Stolpersteine, die in der Stadt verteilt sind, erinnern heute an die verfolgten und ermordeten Juden. Wie etwa an den Kurarzt Ludwig Balog und Josefine Freund, die in der Otto-Huber-Straße den ersten Stock der Villa Susi bewohnten. Im September 1943 wurde das Ehepaar vorerst nach Reichenau bei Innsbruck und anschließend vermutlich nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

An der Aufspürung, Gefangennahme, Misshandlung, Deportation und Plünderung der Juden Merans waren nachweislich Südtiroler beteiligt. „Nach Dokumenten im Archiv der jüdischen Gemeinde in Meran hat es in kaum einer Stadt des Deutschen Reiches gemessen an der Einwohnerzahl einen so hohen Anteil an NS-Funktionären gegeben, die für die Gestapo, die Schupo oder die NSDAP arbeiteten, der SS oder dem SD beitraten“, schreiben Sabine Mayr und Joachim Innerhofer im Buch „Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran“. Nach dem Krieg wurden die Südtiroler Täter kaum zur Rechenschaft gezogen, die Namen sind aber bekannt. Das folgende Dokument ist im Jüdischen Museum ausgestellt und basiert auf Berichte des Präfekturkommissars der jüdischen Gemeinde Walter Götz, des „Comitato Ricerche Deportati Ebrei“ in Rom und des „Comitato di Liberazione Nazionale Merano“ (CLN) vom September 1945.

An der Aufspürung, Gefangennahme, Misshandlung, Deportation und Plünderung der Juden Merans waren nachweislich Südtiroler beteiligt.

Die Vergangenheit ist auch in Chaim Lazars Familie ein schwieriges Thema. Die Großeltern hätten ungern erzählt, der Zweite Weltkrieg liegt im Nebel. So folgte Lazar selbst den Spuren der Vorfahren seines Großvaters Leo bis nach Polen und in die Ukraine, die meisten waren dem Holocaust zum Opfer gefallen.

Sein Urgroßvater war mit der gesamten Familie 1927 nach Meran gezogen, Lazars Großmutter Ida war damals 11 Jahre alt. Sie erwarben ein Haus in der Matteottistraße, wo bis vor kurzem das Apollo-Kino war. Dort war damals auch das Magazin des Obst- und Gemüsehändlers Wischkin untergebracht, außerdem besaß Lazars Urgroßvater Obstmagazine in Auer und Salurn. Über Mailand floh die Familie 1943, als die Deutschen einrückten, auf Schmugglerpfaden in die Schweiz. Nach dem Krieg kehrten sie nach Meran zurück. Ihr Hab und Gut, das sie in Auer zurückgelassen hatten, war verschwunden. Zwar fanden sie heraus, wer es sich unter den Nagel gerissen hatte, bekamen aber nur einen Bruchteil davon wieder zurück.

Chaim Lazars Großvater Leo stammte dagegen ursprünglich aus dem Südwesten Polens, über Bern und Treviso landete er als junger Mann in den 1930er-Jahren in Meran und lernte dort seine spätere Frau Ida kennen. Als Händler von Zitrusfrüchten zog er nach Catania. 1938 wurde der ebreo, wie man ihn dort nannte, nach Inkrafttreten der Rassengesetze verhaftet und in ein Gefangenenlager nach Süditalien gebracht, in dem sowohl Juden als auch Antifaschisten untergebracht waren. Nach der Befreiung des Lagers durch die Allierten und das Ende des Krieges, begann eine monatelange Reise nach Meran. Dort angekommen, machte er Ida einen Heiratsantrag. Von seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern fehlte aber jede Spur. Sie werden ums Leben gekommen sein, wann und wo weiß niemand, sagt Lazar. Am 31. Mai 1946 heiraten Leo und Ida in der Synagoge, es war die erste jüdische Hochzeit in Meran nach dem Krieg, aber auch bis heute die einzige.

Sie werden ums Leben gekommen sein, wann und wo weiß niemand.

Die Synagoge in Meran erstrahlt heute in altem Glanz. Braunes, lackiertes Holz, rotes Tuch, die goldenen Leuchter, der Thoraschrein mit den Kultgegenständen. Hier werden wieder jüdische Feste wie Purim, Pessach und Jom Kippur gefeiert. In den Kellerräumen der Synagoge ist ein Museum eingerichtet, der Holocaust wird dort nur am Rande erzählt: jüdisches Leben ist viel mehr. Immer wieder sind Menschen überrascht, dass es in der Passerstadt eine Synagoge gibt, die besucht und besichtigt werden kann. Aber immer mehr Schulen nehmen das Angebot wahr.

Das Judentum missioniert nicht, anders als etwa Christentum oder Islam. Jude, und damit Teil der Gemeinde, kann nur sein, wer eine jüdische Mutter hat. Zum Judentum konvertieren ist extrem schwierig. Juden beten keinen Gott an, es gibt keine Gottesvorstellung wie im Christentum. Jahwe ist überall.

Den jüdischen Friedhof in Meran gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Ansässige Juden wurden hier begraben, aber auch Kurgäste, die in der Stadt verstarben. Der Friedhof ist kein Ort der Trauer. Er heißt „Gutort“ und soll unter Bäumen stehen, die beschützen. Der Toten soll man sich erinnern, sie nicht verehren. Das Judentum kennt keinen Totenkult.

Immer wieder sieht man Kerzen auf den jüdischen Gräbern, was eigentlich nicht erlaubt ist. Juden legen einen Stein aufs Grab, als Zeichen, dass sie hier waren. „Aber ich sehe, dass jemand Anteil nimmt. Das ist doch schön, und es ist völlig egal, wenn er das auf christliche Weise tut“, sagt Chaim Lazar. Chaim räumt die abgebrannten Kerzen weg, immer ein paar Kieselsteine in der Hand, die er auf die Gräber seiner Verwandten legt.

In der Synagoge werden wieder jüdische Feste wie Purim, Pessach und Jom Kippur gefeiert.

Vor ein paar Wochen verletzte in Marseille ein Jugendlicher mit einer Machete einen jüdischen Lehrer. Der 15-Jährige behauptete, im Namen Gottes und des Islamischen Staates (IS) gehandelt zu haben. Es war nicht der erste Angriff auf Juden in der südfranzösischen Stadt. Die Angegriffenen trugen alle eine Kippa – die typische Kopfbedeckung für männliche Juden. Chaim Lazar ist nicht als Jude erkennbar, eine Kippa trägt er nicht. Die Vorfälle in Frankreich ließen ihn aber nicht kalt. Chaim Lazar fürchtet, dass die Zeiten wieder schlimmer werden könnten. Er will sich und seine Familie schützen. Letzte Woche, am internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust, nahm er aber trotzdem an einer Tagung in Brixen teil. Chaim Lazar erzählte dort die Geschichte seiner Vorfahren und warum er die Traditionen des Judentums weitertragen will. Auch wenn er vorsichtig sein will, ist es ihm wichtig, jetzt Position zu beziehen: „Wir sind noch hier!“

Die Zeiten könnten wieder schlimmer werden.


„Wir sind noch hier!“ Chaim Lazar auf dem Friedhof von Meran.

Fotos
Benedikt Kofler, Jüdisches Musem Meran, Veronika Wetzel, Palais Mamming Museum, Chaim Lazar

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