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Über 8.000 Erstsemester schwirren durch die Stadt. Eine davon bin ich. Schon wieder. Zum zweiten Mal ein Ersti. Diesmal studiere ich jedoch nicht im ersten Bachelorsemester, sondern im ersten Semester des Masters. Doch nicht nur die Bezeichnung meines Ersti-Daseins hat sich in den letzten drei Jahren verändert, sondern auch das Ersti-Sein an sich.
Neue Stadt, neue Wohnung. Drei Jahre ist es her, da habe ich Tag und Nacht vor meinem Laptop verbracht: WG–Seiten durchforsten, Mails schreiben, Absagen kassieren. Das war der übliche Ablauf meiner Wohnungssuche. Hat dann doch ab und an ein Hoffnungsschimmer namens Besichtigungstermin meinen kargen E-Mail-Alltag beleuchtet, so hat dies wie folgt geendet: Schlange stehen, Probetrinken, Gehaltszettel vorweisen und am Ende doch eine Absage kassieren.
In München ist die Wohnsituation prekär. Studenten sind obdachlos, Zimmer werden verlost, Kellerlöcher vermietet. Bizarre ältere Damen mit Katze suchen einen WG-Mitbewohner alias Katzensitter, der bestenfalls auch noch ihren Haushalt führt. So hatte ich mir meinen Anfang in der Hauptstadt Bayerns wahrlich nicht vorgestellt.
Nachdem ich also über das zigste quietschend-schiefe Treppenhaus raufspaziert bin, das zigste Mal meine einstudierte Vorstellungszeremonie vorgetragen hatte und das zigste Mal gefragt wurde, wie ich denn zu Bierpong, Putzplänen und Gemeinschaftskassen stehe, schließlich ein Glücksgriff.
Heute sitze ich in meiner flauschig eingerichteten Wohnung. An meinen Wänden hängen Fotos mit Erlebnissen der letzten Jahre in München, mein Zimmer riecht nach zu Hause. Mein zweiter Anlauf als Ersti nicht zu vergleichen mit dem ersten; ein wohnungsstressloser Genuss.
In meinen ersten Tagen als Bachelorstudentin hat sich bald herausgestellt, dass die Wohnungssuche noch lange nicht das größte Problem eines Erstis ist. Auf den gewohnten, vorgefertigten Stundenplan aus den guten, alten Schulzeiten wartet man als Ersti vergeblich. Die Rede ist nun von Seminaren, Begleitveranstaltungen, Übungen, Themen und Vorlesungen. Diese sich bestenfalls immer überschneidenden Stundenfüller sollte man in Eigenregie doch irgendwie in die wenigen Tage einer Uniwoche planen. Das Chaos ist vorprogrammiert. Doch hier gilt: Es gibt sie, die Ersti-Hilfe. Unter Streberfreunden liebevoll Fachschaft genannt. Wenn man sich durch alle Studienordnungen gewühlt hat und vor lauter Zahlen und Namen den Durchblick verloren hat, ohne überhaupt irgendetwas in seinem Stundenplan zu verbuchen, dann eilen sie zu Hilfe. Die strebenden Helfer der höheren Semester geben ihr Bestes, ihre Freizeit damit zu füllen, verlorenen Ersti-Schäfchen zurück in den Stall zu helfen. Sie organisieren Kennenlern-O-Wochen, laden einen gefühlt jeden zweiten Tag ein, doch auch bei der Fachschaft mitzumachen und fühlen sich, ständig ihre Brille zurechtrückend, unglaublich wichtig. Obwohl sie es nicht sind. Dozenten nutzen sie als Buchsklaven aus, Studenten als Stundenplan-Sklaven. Und so erreicht man schließlich doch sein Ziel.
Dieser Ambulanz für meinen Stundenplan bin ich in meinen jetzigen Ersti-Tagen gekonnt aus dem Weg gegangen. Als Masterstudentin ist vom Stundenplanstress nämlich keine Spur. Mit Zeit in Stundenplänen zu jonglieren ein Klacks. Man kennt die Prozedur.
Hat man es erstmal geschafft, ein paar Quadratmeter Münchens sein Mieteigentum zu nennen und die Stunden in den Wochenplan reinzuquetschen, muss man nach anfänglicher Orientierung auf Tram- und U-Bahn-Plan und der Landkarte erstmal zur richtigen Uni gelangen. Neben dem Hauptgebäude gibt es gefühlt hunderte Nebengebäude, die jeweils die Buchstaben des ABC mit entsprechender Numerierung tragen. Wie ein verirrtes Schaf bin ich vor drei Jahren durch die Straßen des Campus gehuscht. Vergeblich auf der Suche nach meiner Herde. Meistens eine Stunde zu früh dran und schließlich, trotz verschiedenster Auskunftsmomente mit den schrägsten Mitstudenten, die mich komischerweise kein einziges Mal wirklich weitergebracht haben, trotzdem zu spät im richtigen Raum. Oder besser gesagt im scheinbar richtigen Raum. Wie oft passiert es Erstis nämlich, dass der Dozent, der vor einem sitzt, sich plötzlich auf Chinesisch vorstellt oder anstatt der gewünschten Vokabeln irgendwelche Formeln an die Tafel kritzelt. Spätestens dann weiß man, dass man in Sachen Raumsuche wieder einmal gescheitert ist.
Als Master-Ersti erneut ein Genuss. Das orientierungslose Schaf wandelt sich im Laufe der Bachelorsemester zu einer Art wandelnder Landkarte. Man kennt die Straßen, man kennt die Räume und vermutlich kennt man sogar die Leute, die man fragen sollte, falls ein Raum dann doch mal unbekannt ist.
Neue Stadt, neue Wohnung, neues Leben. Familie und Freunde hinter sich gelassen, ist man nun erwachsen. Erwachsen und auf sich allein gestellt. Das macht einen irgendwie nervös. Einem im Nacken sitzend: der ständige Freundedruck.
Sitzt man zur richtigen Zeit im richtigen Raum ist der obligatorische, freundesuchende 360°-Blick angesagt. Freunde-Suchen als Ersti gleicht irgendwie einer Art Speeddating. Bereits beim Betreten des Raumes wählt man sich zielgesteuert seine Wunschobjekte aus. Ob bewusst oder unbewusst. Hier gilt wieder einmal: Aussehen vor Charakter und nicht umgekehrt. Man setzt sich dazu und small-talkt. Geburtsorte, Studiengänge und Interessen werden ausgetauscht, bevor der Dozent die kurzen Dating-Minuten unterbricht. Keine Kennenlernsituation soll einem entgehen, darum bejaht man einfach blindlings jedes noch so doofe Angebot, um die Mit-Erstis für sich zu gewinnen. Bartouren, billige Ersti-Parties, Fußballclubs und Co. machen Vereinsamung schließlich unmöglich.
In seiner „Dating-Phase” ist der Ersti zu allem bereit und trifft schließlich allerhand verschiedene Studentenstereotype. Vom Party-Studenten, über den Luxus-Studenten hin zum Streber und schließlich zu meinem Favoriten. Typ: sportlicher Hippieverschnitt. In jeder Situation gleich gelassen, ist er für jeden Spaß zu haben. Nicht immer anwesend, schmarotzt er manchmal Mitschriften, die er aber gerne zum Tauschobjekt macht und was anderes dafür gibt. Man ergänzt sich, alles ist cool.
Durch diese weise Erkenntnis im Freundesgeschmack stellt sich die Suche nach Gleichgesinnten in den ersten Tagen des Masterstudiums als Leichtigkeit heraus. Der Druck weicht durch einen bereits bestehenden Freundeskreis. Entspannteres Kennenlernen führt eindeutig schneller zu Freundschaften als verkorkstes Speed-Dating-Gelaber.
Nachdem ich die letzten drei Jahre gebraucht habe, um meine Uni-Kartensammlung zu ordnen und zu aktivieren, habe ich es bis dato bevorzugt, Institutionen wie die Mensa oder die Bibliothek zu meiden. Schließlich braucht man für jeden Schritt, den man in diesen Gebäuden tätigt, die richtige Karte. Als Kartenfeind habe ich mich nicht nur als Ersti, sondern bis zu meinem letzten Semester tatsächlich ohne die guten Plastikteile durch den Unialltag geschwindelt. Um genau zu sein, bis mich die Bachelorarbeit schließlich zum Ausleihen von Büchern gezwungen hat und ich mich meiner Kartenangst stellen musste.
Recht viel weiter habe ich es bis zum Anfang meiner zweiten Ersti-Karriere jedoch auch nicht geschafft. Meine Geldtasche quillt nach wie vor vor Karten über, den Überblick habe ich immer noch nicht. Bibliothekskarten, Mensakarten, Kaffeestempelkarten, Freigetränkekarten … Wie viele Ersti-Semester müssten noch folgen, um diesem Chaos ein Ende zu setzen?
Das Chaos in meinem Haushalt hingegen, hatte ich bald im Griff. Gerade noch dem Hotel Mama mit einem weißen Taschentuch weinend zugewunken, bin ich als Haushalts-Ersti bald auf meiner schmutzigen Wäsche sitzen geblieben. Da hilft nichts anderes, als sich mit der Waschmaschine im Dachgeschoss anzufreunden. Auch Mamas Töpfe und ich sind bald nach Semesterstart miteinander warm geworden. Der Geruch nach Verbranntem oder übergelaufenem Nudelwasser sind Geschichte. Mittlerweile kann man uns sogar Busenfreunde nennen.
Aber auch wenn ich mich in diesem Erstsemester auskenne und sozusagen „kochen“ kann, bei Mama schmeckt’s immer noch am besten.
So schwirre ich also erneut als Ersti auf den Spuren von Sophie Scholl durch die Münchner Uni. Auf der Suche nach neuen Ersti-Freunden, den richtigen Räumen und hoffentlich nicht mehr so vielen bayerischen Bierexzessen.
Meine erste Mastervorlesung ist zu Ende. Wenn es wie vor drei Jahren laufen würde, hätte ich beim lauten Applaudieren verschämt festgestellt, dass alle ganz lässig auf ihre Tische klopfen. Heute hingegen gehöre ich zwar wieder zu den Erstis, aber auch zu den wissenden Tischklopfern. Ein gutes Gefühl zu wissen, wo es langgeht.
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