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Als Karl Tatz vor 25 Jahren seinen „Minimarket“ in der neuen Raststätte bei Sterzing eröffnete, waren die Zeiten noch andere: der Eiserne Vorhang frisch abgetragen, der Euro bloße Zukunftsmusik und die Menschen, die da aus allen Teilen Europas kamen, noch irgendwie befremdlicher: „Es war ein bisschen wie im wilden Westen“, sagt der Sterzinger und lacht. Besonders wenn Alkohol im Spiel war, kam es regelmäßig zu Handgreiflichkeiten und die Sitten auf dem Rastplatz waren rau. Mittlerweile sei man sich ähnlicher und friedlicher geworden, meint er. Problematischer sieht Karl hingegen das Verkehrsausmaß und die ständige Überlastung. „Da sind wir mittlerweile an der Grenze angelangt“, sagt er. Weil die Raststätte gerade renoviert wird, wurde sein Geschäft in einen Container verlegt. So auch die Waschräume, der Bankomat und die Kaffee- und Snackautomaten. Es ist viel los an diesem Samstagnachmittag im April. Zwischen den grauen Containern, die wie eine Insel mitten im bunten Laster-Meer liegen, kreuzen sich die Wege von Menschen aus ganz Europa. Bis Sonntagabend gilt das Wochenend-Fahrverbot und solange werden die LKW still stehen, ihre Fahrer und Fahrerinnen hier ausruhen.
Asphalt und weiße Striche
„Folge den weißen Strichen!“, hatte Rob Lagardes Chef gesagt, als der junge Fahrer vor seiner ersten Fahrt wissen wollte, wie er nach Cremona komme. „Und seitdem immer dasselbe Programm: Asphalt und weiße Striche!“, sagt der 57-jährige Holländer verschmitzt. Im Minimarket hat er Brot und Käse gekauft und schlendert nun zurück an seinen Stellplatz. Seit fast 40 Jahren ist er LKW-Fahrer, schon lange selbstständig. „Pünktlich zum Sonntagsfrühstück war ich meistens daheim bei Frau und Kind in Dreumel“, sagt er und sperrt die Tür zu seinem Truck auf. Was er genau geladen hat, weiß er nicht. Rob transportiert hauptsächlich Sammelgut, also gemischte Waren, Gebrauchsgegenstände, Möbel und Ähnliches. Heute wollte er eigentlich noch auf den Rail-Cargo-Zug am Brenner auffahren und schnurstaks nach Maastricht, aber ein Unfall auf der Brennerautobahn kam dazwischen. Drei Stunden stand er im Stau.
Maximal zehn Stunden darf ein Fahrer täglich arbeiten. Nach viereinhalb Stunden muss er mindestens 45 Minuten pausieren. Für LKW sind Fahrtenschreiber Pflicht, bei Kontrollen geben sie Auskunft über die eingehaltenen Fahrtzeiten. Weil Rob im Stau stand, hat er jetzt ein Problem: „Was soll ich tun? 45 Minuten lang auf der Fahrspur stehen bleiben?“ Wenn eine Kontrolle kommt, riskiert er nun eine Strafe. Früher gab es diese Kontrollmöglichkeiten nicht, das hatte Vor- und Nachteile, „aber ausgebeutet wird heute mehr denn je, und der Zeitdruck wird trotzdem größer!“, weiß Rob und zeigt auf den öffentlichen Parkplatz hinter den Betonpfeilern, der nur über die Staatsstraße erreichbar ist. Dort steht ein Dutzend Kleintransporter mit polnischen Kennzeichen: „Diese Jungs sind der Beweis!“ Für die weißen Kastenwagen gelten viele Vorschriften nicht, weil sie weniger als 3,5 Tonnen wiegen. Die Fahrer, die meist für Pauschalen arbeiten, müssen sparen wo es geht: Sie schlafen in kleinen Nischen über der Fahrerkabine und sind häufig nachts und abseits mautpflichtiger Autobahnen unterwegs. Man hört, sie liefern hauptsächlich Expresszustellungen für große Onlinehändler.
6.000 Bier und eine Ente
Rob Lagarde löffelt Kaffeepulver in seine Kaffeemaschine, die er am Beifahrersitz angebracht hat. In der Fahrerkabine herrscht beinahe Wohnzimmerflair. Ein Sattelschlepper wie dieser kostet zwischen 150.000 und 180.000 Euro. Ein Sattel nochmal etwa 60.000. Dabei seien die Zeiten, in denen man als Fahrer gutes Geld verdiente, längst vorbei, meint Rob. Zu viel habe sich verändert und die kleinen Selbstständigen trifft es am schlimmsten: Kontrollen, Restriktionen, Konkurrenz und Preisdumping zerstören das Geschäft. Große Speditionsfirmen aus dem Westen verlegen ihren Firmensitz nach Bulgarien oder Rumänien, wo sie nur einen Bruchteil jener Steuern und Sozialabgaben zahlen, die etwa in Holland oder Belgien anfallen. Für eine Fahrt von Amsterdam nach Mailand muss Rob mindestens 1.500 Euro kriegen, sonst rechnet es sich für ihn nicht. Die Konkurrenz bietet derlei Strecken zum Teil schon für 900 Euro an. Früher verdiente Rob etwa 6.000 Gulden: „Davon hätte ich damals 6.000 Dosen Bier kaufen können.“ Heute kommt er auf rund 3.000 Euro und „damit kaufe ich nicht mal 2.000 Bier“, rechnet er vor. Auch Spritpreise und Mautgebühren seien um ein Vielfaches angestiegen. Nochmal würde er den Beruf deshalb nicht wählen. Die paar Jahre bis zur seiner Pensionierung will er gemeinsam mit seiner Frau fahren. Sie macht dafür gerade den LKW-Führerschein. Immerhin darüber freut sich Rob ein klein wenig.
Auf dem Stellplatz nebenan parkt der Sattelschlepper von Andrej Nowak. Vorne zwischen Windschutzscheibe und Armaturenbrett sitzt eine Plüschente. „Die Ente fährt mit, seit über 20 Jahren“, sagt der Pole. Seine Frau hat sie ihm geschenkt und bisher hat sie ihm Glück gebracht. Unfall hatte er in den vielen Jahren keinen. Die Situation seiner Zunft sieht er nicht ganz so pessimistisch wie sein Stellnachbar. Andrej kommt aus Stettin und ist bei einer Firma in Hamburg angestellt. Seine Frau, eine Russin, ist zuhause, die erwachsenen Kinder leben in Irland. Andrej ist mit seiner Arbeit und dem Verdienst zufrieden und findet die heutige Situation ohne Zoll und Grenzkontrollen besser als früher. Natürlich sei in seinem Job nicht immer alles schön und er hat sogar von Kollegen gehört, die in Spanien bei der Arbeit überfallen wurden. Benzin wurde ihm auch schon gestohlen, aber er nimmt die Dinge wie sie kommen: „Da muss man gelassen bleiben!“, sagt er und steigt zur Fahrerkabine hoch. Gleich beginnen die Abendnachrichten, die will er nicht verpassen.
Frust und Optimismus
Semmeln vom Bäcker, Waschmittel, Besteck, Socken, Zeitungen oder Fahrzeug-Deko: Das kleine Gemischtwarengeschäft auf dem Autohof bietet auf wenigen Quadratmetern alles, was Menschen unterwegs brauchen. An 365 Tagen im Jahr, fast 100 Stunden in der Woche ist es geöffnet. Sonntags steht Filomena Torggler hinter der Ladentheke. Im Umgang mit ihre Kundschaft, die oft erschöpft und manchmal gereizt ist, hat die Sterzingerin eine Strategie entwickelt: „Jeder Mensch – egal woher er kommt – hat das Recht, ordentlich begrüßt zu werden. Ein ‚Bitte‘ und ein ‚Danke‘ muss drin sein. Dann klappt die Kommunikation auch ohne gemeinsame Sprache.“ Sie deutet mit dem Kopf durch das Fenster nach draußen.
Am Eingang lehnt Jeremia und raucht eine Zigarette. Er ist hungrig und wartet auf sein Mittagessen. Filomena hat für ihn den Pizzaservice angerufen. Das macht sie manchmal, seit das Restaurant wegen der Renovierung geschlossen ist. Jeremia möchte seinen vollen Namen nicht nennen und auch kein Foto machen. Der 38-Jährige kommt aus Suceawa in Rumänien an der Grenze zu Moldawien und arbeitet für ein italienisches Transportunternehmen. Gestern hat er in der Nähe von Stuttgart Getreide aufgeladen, das er am Montag zu einer Nudelfabrik in Padua bringen wird. In guten Monaten verdient Jeremia etwas mehr als 2000 Euro – ein Vielfaches von dem, was er in Rumänien verdienen würde und dennoch weniger als in seinem Job üblich. Drei Monate am Stück ist Jeremia jeweils unterwegs, bevor er seine Frau und die Kinder wiedersieht. Er hat gehört, dass die Arbeitsverträge in Deutschland oder Holland besser sein sollen, aber jetzt hat er schon Italienisch gelernt. Am liebsten würde er in Rumänien arbeiten, aber von den Löhnen dort könnte er die Familie nicht ernähren. „Diese Situation verdanken wir der EU“, sagt er bitter und erzählt, dass viele in seiner Heimat mit Wehmut an jene Zeiten zurückdenken, als unter Diktator Ceaușescu Recht und Ordnung herrschte, und die Rumän*innen noch von ihrer Arbeit leben konnten.
Ganz anders sehen das Jeremias Landsleute Staicu und Georgiana, die ein paar Stunden später mit Cola und Süßigkeiten aus dem Minimarket kommen. Der 27-Jährige Kellner und die 26-Jährige Kosmetikerin sind seit 12 Jahren ein Paar. Vor drei Jahren haben sie den LKW-Führerschein gemacht und fahren seitdem für eine dänische Spedition quer durch Europa. Weil sie zu zweit unterwegs sind und sich beim Fahren abwechseln, können sie bis zu 18 Stunden am Tag fahren und ihr Ziel viel schneller erreichen. „Außerdem wird es zu zweit nicht langweilig und abends zocken wir eine Runde auf der Spielkonsole“, sagt Staicu. Die beiden sprechen fließend Englisch und sehen sich unterwegs gerne Städte an oder gehen schwimmen. In Rumänien verdienten sie um die 300 Euro im Monat. Dabei sind die Lebenshaltungskosten dort ähnliche wie in Westeuropa. „In ein paar Jahren, sobald wir genug gespart und Europa gesehen haben, gehen wir zurück nach Constanța“, sagt Georgiana. Dann wollen die beiden in ihrer Heimatstadt am Schwarzen Meer eine Wohnung kaufen und eine Familie gründen.
Die Reise geht weiter
Kurz vor Ladenschluss packt Roland Harnuff im Minimarket ein paar Sachen in seinen Rucksack und sagt zu Filomena: „Meine Tage als Fahrer sind gezählt.“ Im Juni geht der 63-Jährige in Rente, „Gott sei Dank!“, sagt er. Der zunehmende Verkehr, der gefährliche Fahrstil einiger Kollegen, Dumpinglöhne und viel zu wenig Parkplätze machten ihm in den vergangenen Jahren das Leben schwer. Als seine drei Kinder noch klein waren, kurz nach der Wende, da fuhr er hauptsächlich innerhalb Deutschlands. Die Anforderungen heute haben sich geändert, und er fährt, wohin sein Disponent ihn schickt: von Nürnberg aus nach England, Skandinavien und Italien. Jedes zweite Wochenende verbringt er auf einem Autohof irgendwo in Europa. In welche Richtung seine letzte Fahrt Anfang Juni führen wird, das weiß er noch nicht. „Ist mir egal, ich freu mich auf die Reise, die danach beginnt!“, sagt er und erzählt sichtlich vergnügt von Enkelkindern, Hund und Garten, die zuhause auf ihn warten. Es wird dunkel an diesem Sonntagabend. Auf der schmalen Straße über den Sterzinger Flugplatz marschieren noch vereinzelt Männer mit Einkaufstaschen vom Stadtzentrum zurück Richtung Autohof. Um 22 Uhr wird das Fahrverbot aufgehoben. Dann sind die Trucks hinter dem Maschendrahtzaun wieder startklar.
von Lisa Frei
Der Artikel ist erstmals in der 48. Ausgabe (Mai 2019) der Straßenzeitung zebra. erschienen.
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