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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 20.07.2021
LebenInterview mit Alidad Shiri

“Wir sind handelnde Subjekte”

Veröffentlicht
am 20.07.2021
Der Südtirol-Afghane Alidad Shiri ist Journalist und Autor. Ein Gespräch über die Lage in seinem Heimatland und seine heikle Rolle als Vorzeigemigrant.
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Der Name Alidad Shiri ist im italienischsprachigen Südtirol allgemein bekannt. Mit seinen Kolumnen und Analysen frischt der Südtirol-Afghane immer wieder die Seiten des „Alto Adige“ und des „Corriere della Sera“ auf, vor allem zu den Themen Afghanistan, Islam und Migration. Dass er einmal eine journalistische Karriere starten und als Autor des Buches „Via dalla pazza guerra“ ganz Italien bereisen würde, übertrifft alles, wovon Shiri als Jugendlicher je geträumt hat.

Als Kind verlor Shiri zuerst seinen Vater und dann seine ganze Familie in einem Bombenanschlag: Mutter, Schwester und Großmutter. Mit zehn Jahren machte er sich auf den Weg nach Europa und kam nach vier Jahren unzähliger Strapazen, Missbrauchserfahrungen und lebensbedrohlicher Situationen endlich in Italien – genauer, in Südtirol – an. Hier begann im Jahr 2005 sein neues Leben, in dem Shiri zum erfolgreichen Autor und nun auch zum Träger eines Studientitels in Philosophie geworden ist.

Glückwunsch zum Studienabschluss, Alidad!
Danke!

Was für viele Menschen hier wie selbstverständlich zum Lebenslauf dazugehört, war für dich die Verwirklichung eines lang gehegten Traumes. Warum?
Dafür gibt es viele Faktoren: Wenn ein Kind Dinge miterlebt, von denen kein Mensch will, dass sie je geschehen, kann das Konzentrations-, Lern- und Orientierungsschwierigkeiten zur Folge haben, die ich zum Glück überwinden konnte, auch dank der Unterstützung zahlreicher Menschen. Für einen unbegleiteten Minderjährigen, der sich von seiner vertrauten Umwelt losgelöst fühlt, ohne eine Familie, kann die Herausforderung, ganz neu anzufangen, noch schwieriger sein. Ich habe ein Umfeld gefunden, in dem ich menschliche Wärme, Unterstützung und Ermutigung erfahren durfte. Die Schule und später die Universität waren für mich nicht nur Orte des Lernens, sondern auch ein Raum der neuen Ideen, des Austausches, der Menschlichkeit. Ich würde sagen, ich habe meine Träume sogar übertroffen.

Mit 14 Jahren bist du in Südtirol angekommen. Hast du seitdem die Ereignisse und Entwicklungen in deinem Heimatland Afghanistan weiter verfolgt?
Ja, für mich ist es selbstverständlich und essenziell, die Verbindung zu meinen Landsleuten zu pflegen. In meinen Schuljahren war ich aus Mangel an Zeit und persönlicher Reife etwas weniger informiert, aber während des Studiums hatte ich dann die Gelegenheit, Beziehungen zu pflegen und mein Wissen zu vertiefen – das kam mir auch bei meiner Abschlussarbeit und meiner journalistischen Tätigkeit zugute.

In deiner Abschlussarbeit hast du dich mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Afghanistan auseinandergesetzt- Wie ist die aktuelle Lage dort?
Sehr schwierig, es herrscht immer noch Krieg und die Taliban sind dabei, das Land zurückzuerobern. Die Regierung in Kabul ist zu schwach und die Entscheidungsträger sind wenig kompetent oder sogar korrupt und nicht in der Lage, dem Vormarsch der Taliban Einhalt zu gebieten und die Zivilbevölkerung zu schützen. In vielen Gegenden greifen die Bewohner – Männer wie Frauen – selbst zu den Waffen, um sich zu verteidigen. Das ist eine gefährliche Situation, weil es zum Bürgerkrieg führen kann, wie es nach dem Rückzug der Sowjettruppen geschehen ist.

Welche Zukunft erwartet diese afghanischen Mädchen? Die Rückkehr der Taliban lässt wenig Optimismus zu, sagt Alidad Shiri.

Werden die Taliban an die Macht zurückkehren?
Dass sie das ganze Land so schnell wiedererobern, ist unwahrscheinlich. Es gibt große Unterschiede zwischen den größeren Städten und den ländlichen Gebieten. In der Peripherie sind die Ordnungskräfte unterbezahlt und es fehlt an allem: Nahrung, Logistik, Waffen zur Selbstverteidigung. Dort kommen die Taliban leicht voran. In den Städten, vor allem in Kabul, sind Militär und Polizei jedoch gut bezahlt; außerdem gibt es 44.000 Spezialkräfte und die Reichen verfügen oft über eine eigene Privatpolizei.

Frauen werden in Afghanistan systematisch benachteiligt, immerhin gab es in den zwanzig Jahren aber einige Verbesserungen. Werden diese Errungenschaften nun zunichtegemacht?
Hier lässt sich leider eine dramatische Verschlechterung voraussehen, die man schon heute in den Gebieten, die von den Taliban zurückerobert wurden, beobachten kann: Es gelten unheimlich strenge Regeln, vor allem für Frauen, aber auch für Männer. Unverheiratete Frauen ab 15 Jahren und Witwen unter 40 Jahren werden gezwungen, Angehörige der Taliban zu heiraten. Frauen müssen wieder die Burka tragen und dürfen nicht unbegleitet das Haus verlassen. Für Männer ist der Moscheebesuch fünf Mal am Tag obligatorisch. Die Anwesenheit wird durch ein Register kontrolliert. Wer seinen religiösen Pflichten nicht gerecht wird, wird der Zwangsarbeit unterzogen.

Gab es seit dem Einmarsch der USA im Jahr 2001 überhaupt keine Fortschritte?
Doch, es gab sehr viele Fortschritte. Frauen und Mädchen hatten wieder Zugang zur Bildung und konnten in allen Berufen arbeiten: als Richterinnen, Anwältinnen, Journalistinnen, Lehrbeauftragte oder Politikerinnen. Auch die Presse- und Meinungsfreiheit war höher. In den Städten stieg die Lebensqualität, Krankenhäuser wurden gebaut, Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Straßen, Kinos, Theater, Sportplätze, neue Wohnhäuser.

Hast du früher zuversichtlicher in die Zukunft Afghanistans geblickt?
Ja, ganz am Anfang. Ich hatte die Hoffnung, dass der Präsident Hamid Karzai eine neue Klasse von jungen Entscheidungsträgern schaffen würde, wo alle ethnischen Gruppen vertreten sind und jene vorankommen, die sich durch Leistung auszeichnen und nicht durch die Fürsprache irgendwelcher Clan-Oberhäupter. Ich hatte auch die Hoffnung, dass man endlich die Politik von der Religion trennen würde. Stattdessen herrscht immer noch eine willfährige Theologie, die dem Denken, vor allem dem demokratischen Denken, keine Freiräume lässt.

Zu 93 Prozent sind es andere, die über uns sprechen – teils auf paternalistische Weise als Objekte der Fürsorge, teils auf aggressive Weise als potenzielle Straftäter.

Wenn jetzt die Taliban an die Macht zurückkehren, werden wieder mehr Menschen die Flucht nach Europa ergreifen?
Natürlich. Allein in den letzten Tagen haben 20.000 Afghanen die Grenze nach Tadschikistan überquert. Der Rest ist noch als Binnenflüchtlinge unterwegs und wird alles Mögliche versuchen, um irgendwo ein besseres Leben zu finden. Nach dem Abzug der Sowjettruppen verließen 7 Millionen Afghanen als Asylsuchende und Flüchtlinge ihr Land. Ich glaube nicht, dass es diesmal weniger sein werden.

Wie ist die afghanische Diaspora in Südtirol integriert?
Im Allgemeinen gut, es gibt viele Familien mit Kindern, die hier zur Schule gehen, und junge Erwachsene, die erwerbstätig sind, sich gut integriert fühlen und Steuern zahlen. Diejenigen, die aus Deutschland oder Österreich kommen und schon gut Deutsch sprechen, finden in Südtirol leichter eine Arbeit, während diejenigen aus Rom oder anderen Teilen Italiens sich etwas schwerer tun.

In Deutschland hat man zuletzt von einigen Migranten gehört, die in den Medien zu Experten in Sachen Integration avanciert sind, diese Rolle aber zunehmend ablehnen. Sie sehen es problematisch, dass sie in erster Linie als Vorzeigemigranten wahrgenommen werden. Wie nimmst du diese Rolle wahr?
Nicht nur ich, aber auch unsere Organisation UNIRE (Unione Nazionale Italia per i Rifugiati ed Esuli) meinen, dass Geflüchtete handelnde Subjekte einer Geschichte und nicht Objekte von Mitleid sein sollten. Wir wollen an Entscheidungsprozessen in National- und Regionalpolitik teilnehmen, gehört werden und dort, wo es um unsere Probleme geht, selbst Lösungen vorschlagen. Wir glauben, so am besten zum Gemeinwohl beitragen zu können. Wenn in der Öffentlichkeit von Migration gesprochen wird, so sind es laut Carta di Roma nur in 7 Prozent der Fälle wir Migranten und Migrantinnen, die sprechen. Zu 93 Prozent sind es andere, die über uns sprechen, teils auf paternalistische Weise als Objekte der Fürsorge, teils auf aggressive Weise als potenzielle Straftäter. Wir wollen die Opferrhetorik hinter uns lassen und stattdessen unsere Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen.

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