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Nirgends treten vorherrschende gesellschaftliche Werte und Paradigmen so unmittelbar und schonungslos an die Oberfläche, wie in Städten: Wer ist willkommen und wer stört das Stadtbild? Darüber wird auch hierzulande nicht erst seit den erlassenen Bettelverboten diskutiert. Wem wird welcher Raum zugestanden und wessen Interessen setzen sich durch? Eine Frage, die in den Debatten rund um Großprojekte wie das Kaufhaus in Bozen, den Hofburggarten oder den Auwald in Brixner immer wieder aufkommt. In Ballungszentren kollidieren die verschiedensten Interessen. In einem eng besiedelten Berggebiet, das als attraktiver Wirtschaftsstandort mit hoher Lebensqualität auch noch zu den meistbesuchten Tourismusdestinationen im Alpenraum zählt, wird dies noch deutlicher spürbar.
Die Wissenschaft beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie Städte all ihren Anforderungen als Lebensraum, Arbeitsplatz, Konsumraum und Ort der Freizeitgestaltung gerecht werden können. Die Branche der Stadtentwicklung boomt, und mit innovativen Konzepten will man jenen Phänomenen entgegenwirken, die rasantes Wachstum und zunehmende touristische Attraktivität mit sich bringen: Es geht um Gentrifizierung, Ausverkauf der Heimat, Overtourism, Verkehrschaos und Wohnungsnotstand. Eine tragende Rolle spielen hier die Bürger*innen einer Stadt, die auf verschiedenste Art und Weise – mal im Kleinen, mal bei großen Aktionen – aufzeigen, was in ihrer Stadt schiefläuft und wo Handlungsbedarf besteht, um dort auch in Zukunft gut leben zu können.
Die Stadt gehört denen, die dort leben: #hellgenug
Je größer eine Stadt und je weiter weg von natürlichen Grünzonen, umso wichtiger werden für das Wohlbefinden der Menschen Grünflächen. Das zeigen nicht zuletzt die jährlichen Erhebungen zu den lebenswertesten Städten der Welt. Regelmäßig auf Platz eins rangiert dabei Wien. Die Stadt mit 1,7 Mio. Einwohner*innen verfügt über 990 Grünanlagen, 300.000 Bäume, 53 Prozent des Stadtgebiets besteht aus Grünflächen. In Brixen wird seit Jahren kontrovers über die Bestimmung des historischen Hofburggartens diskutiert. Bürger*innen wünschen sich Einbeziehung in die Planung und einen Ort der Naherholung im Stadtzentrum. Lokale Entscheidungsträger planen einen Kunstgarten nach André Heller – ein Prestigeprojekt von großem touristischem Interesse. Die vom Tourismus geplagten Stadtbewohner*innen machen seitdem regelmäßig ihrem Unmut darüber Luft. Angeregt durch die Brixner*innen Barbara Plagg, Magdalena Fischnaller und Jörg Oschmann folgten zahlreiche Menschen aus der Zivilgesellschaft dem per WhatsApp und Mundpropaganda verbreiteten Aufruf zum Flashmob auf den Domplatz. Durch mitgebrachte und zeitweise platzierte Topfpflanzen setzten Dutzende Bürger*innen ein Zeichen für ihren Wunsch nach mehr Grünraum und prangerten die ihrer Meinung nach mangelnde Transparenz und Miteinbeziehung vonseiten der Politik an. Das aussagekräftige Statement schaffte es landesweit in die Presse und fachte die Debatte neu an.
Der Verkehr sind wir: Critical Mass
Trotz funktionierenden Öffis und ausgebautem Fahrradnetz: Der Verkehr in den Städten nimmt von Jahr zu Jahr zu. Das belastet die Umwelt, die Gesundheit der Menschen, und parkende Autos nehmen wertvollen Raum ein. Um das Thema Verkehr und öffentlicher Raum ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, bildete sich Anfang der 90er-Jahre eine Bewegung, bei der sich Radfahrer*innen scheinbar zufällig und unorganisiert treffen, um mit gemeinsamen Fahrten durch Innenstädte auf den Radverkehr als Form des Individualverkehrs aufmerksam zu machen. Eine „critical mass“ hat keine Verantwortlichen, sondern lediglich einen Urheber: Sie entstehen, wenn sich eine Person einen Ort und einen Zeitpunkt überlegt und zu einer gemeinsamen Fahrt aufruft. Auch in Südtirol gibt es seit einigen Jahren Critcal-Mass-Gruppen in Meran, Bozen und Bruneck, wo die Radfahr-Gemeinschaften letzthin etwa im Zeichen der weltweiten Klimaproteste unterwegs waren.
Kein Recht auf Leerstand: Schlüssel-Aktion
Tausende Wohnungen in Südtirol stehen leer. Sie werden aus den verschiedensten Gründen weder verkauft noch vermietet und sind entweder gänzlich unbewohnt oder werden als private Ferienwohnungen nur wenige Wochen im Jahr genutzt. Allein in Bozen sollen es laut Erhebungen über 4.000 sein. Diese Situation beeinflusst die Preise auf dem Wohnungsmarkt. Dabei ist der Bedarf an leistbarem Wohnraum besonders unter jungen Menschen immens. In den Städten können es sich viele Familien nicht mehr leisten, eine Wohnung zu mieten, geschweige denn zu kaufen. Immer weniger Menschen leben in den historischen Stadtzentren und viele weichen an den Stadtrand oder in Nachbargemeinden aus. Um diesen Missstand aufzuzeigen, wurde eine Gruppe der Südtiroler Young Greens aktiv. Sie machten unbewohnte Gebäude ausfindig und brachten dort als Zeichen des Protests einen symbolischen Schlüssel mit der Aufschrift „Hier steht seit Jahren Wohnraum leer!“ an. Mit der Aktion sollte dem Thema Raum gegeben und politische Verantwortungsträger dazu bewegt werden, sich mit der wichtigen Problematik auseinanderzusetzen.
Was wir nicht sehen, ist trotzdem da: Liebes Bozen
Durch verschiedene Maßnahmen wie Verweise, Strafen, Beschlüsse und das Anbringen von Barrieren im öffentlichen Raum werden obdach- und wohnungslose Menschen aus Stadtzentren verdrängt, auch und besonders in Bozen. Dass jedoch jene Menschen, die scheinbar das Stadtbild stören und von dort entfernt werden, sich nicht in Luft auflösen, sondern dennoch da sind, darauf machten Studentinnen der Uni Bozen mit der Aktion „Liebes Bozen“ aufmerksam. Auf großen Pappkartonen mit Zeichnungen schlafender Menschen brachten sie Informationen und Fakten zur Situation der Obdachlosen an und richteten einen Appell an die Stadtbewohner*innen. Sie informierten darüber, welche Möglichkeiten es für jede einzelne Person gibt, die Situation der Obdachlosen zu verbessern und gemeinsam der unwürdigen Situation in Bozen entgegenzuwirken. Die Kartone brachten die Studentinnen in einer Nacht- und Nebelaktion an prägnanten Orten im Zentrum an. Ein erster Versuch scheiterte, denn noch bevor die Bürger*innen sich auf den Weg zur Arbeit machten, wurden die Tafeln entfernt. Eine zweite Aktion und der Gang an die Medien sorgte für mehr Sichtbarkeit. Weiterführende Informationen, Links und Handlungsmöglichketen standen auf der Webseite www.liebes-bozen.it zur Verfügung.
Grün für alle: Begegnungs-Gemüsegarten im Wohnblock
Große Wohnzonen am Stadtrand geben Menschen, die nicht selbst dort leben, kaum Anlass für einen Besuch. Sogenannte „Wohnghettos“ sind die Folge. Wenn noch dazu viele Menschen mit unterschiedlichen Backgrounds eng beisammen wohnen, kommt es zu Konflikten, manchmal zu Vandalismus. Studien zeigen, dass das Wohnumfeld und die direkte Umgebung auch auf das Selbstbild und die Gemütslage jener einwirken, die dort leben. Als Chafai Fatnassi vor einigen Jahren mit seiner Familie in ein großes Wobi-Wohnhaus in Milland zog, fehlte es ihm an Austauschmöglichkeiten. Die Tatsache, dass sich Nachbarn nicht grüßten und es kaum Begegnungsraum gab, machte ihn traurig. Also nahm er es selbst in die Hand und trat einen bürokratischen Spießrutenlauf an, um den trostlosen Grünstreifen neben seinem Wohnblock aufzuwerten. Er fand Verbündete in der Nachbarschaft und nach langem Kämpfen konnte das Projekt des Gemeinschafts-Gemüsegartens starten. Sie pflanzten Blumen und Gemüse, brachten Sitzbänke an und schafften so einen Ort, wo die Menschen zusammenkommen können. Die Stimmung im Haus hat sich seitdem aufgehellt. Menschen, die seit 40 Jahren dort wohnten, kamen erstmals in den Garten und genossen besonders in der Zeit des Lockdowns die Möglichkeit, sich an der frischen Luft aufzuhalten, ein Gemüsebeet anzulegen und endlich die Menschen kennenzulernen, die nur ein paar Türen entfernt leben.
Brachflächen bringen nichts: Urban Gardening
Rasant wachsende Metropolen weltweit stehen zunehmend vor einem Versorgungsproblem. Die Notwendigkeit, künftig Lebensmittel auch in Städten anzubauen, wird daher international diskutiert und gefördert. Auch in kleineren Städten liegen „urban gardening“ und „guerilla gardening“ voll im Trend. Ersteres bezeichnet den Anbau von Obst und Gemüse im städtischen Raum. Zweiteres meint das Einnehmen von Brachflächen oder öffentlichen Grünflächen wie Verkehrsinseln, Blumenbeeten, Böschungen für die Begrünung mit Wild- oder Nutzpflanzen. Als eine Mischung aus beidem könnte ein Gartenprojet in Brixen bezeichnet werden. Heinz Dellago und Konrad Stockner bauen dort seit zehn Jahren auf einer ehemaligen Brachfläche im Stadtzentrum Gemüse, Obst und sogar Getreide an. Mit dem Besitzer der Fläche war man übereingekommen, die Fläche bis zur geplanten Bebauung nutzen zu können. Nun muss der Garten aber einem Haus und einer Tiefgarage weichen. Die beiden Hobby-Gärtner sind daher wieder auf der Suche nach ungenutzten Flächen im Stadtgebiet und Menschen, die einen Gemeinschaftsgarten gründen möchten.
Von Lisa Frei
Der Artikel ist erstmals in der 60. Ausgabe der Straßenzeitung zebra. erschienen.
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