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Seit einem Jahr untersucht die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Innsbruck, wie die Pandemie Kinder und Jugendliche in Tirol belastet. Silvia Exenberger führte die Studie durch und teilt nun erste Ergebnisse. Bisher wurden sowohl Unterschiede zwischen Nord- und Südtirol festgestellt als auch zwischen den Geschlechtern. Was die klinische– und Gesundheitspsychologin Exenberger am meisten überrascht, ist die falsche Einschätzung der Mütter zum Wohlbefinden ihrer Töchter, nicht aber zu dem ihrer Söhne.
Wer mitmachen und die Studie unterstützen möchte: Hier können Südtiroler Familien bis Ende Juli den Fragebogen ausfüllen. Teilnehmende Eltern bekommen eine Bewertung des Zustands ihrer Kinder und können bei Bedarf bis zu zehn Beratungen mit den Expertinnen erhalten. Auch Kinder können sich direkt melden.
Die Covid-19 Kinderstudie läuft seit einem Jahr. Zweimal wurden Daten erhoben: im Juni 2020 und im Dezember bis Januar 2021. Was wurde dabei untersucht?
Wir haben uns die Belastungen bei Kindern angeschaut – also Angst, Trauma-Symptome und die Lebensqualität. Dazu haben Eltern für ihre Kinder vom 3. bis 12. Lebensjahr Fragen beantwortet. Kinder ab dem 8. Lebensjahr haben zusätzlich die Fragen selbst beantwortet.
Symptome, die klinisch relevant sind, haben bei der zweiten Datenerhebung im Winter von 3 auf 15 Prozent zugenommen. Woher kommt diese verschärfte Belastung?
Von der Ungewissheit und Dauer der Maßnahmen. In Österreich hieß es, nach Weihnachten ist die Schule wieder offen, dann blieb man doch im Home-Schooling. Man wusste also nicht recht, und das zermürbt einfach. Und die Zeit war lang. Vor allem Kinder brauchen die größere Gruppe.
Ab wann sind Symptome „klinisch relevant“?
Klinisch relevant bedeutet, dass man externe Hilfe braucht. Man muss sich das Problem also weiter anschauen und ein Auge darauf behalten. Meistens merken die Eltern, dass in der Schule etwas nicht passt, die Kinder gar nicht mehr in die Schule gehen wollen oder dort nicht mehr zurechtkommen.
An welchen Symptomen erkennt man die Belastung noch?
Die Kindergartenkinder zeigen es körperlich, weil sie es verbal noch nicht so gut ausdrücken können: Kopfweh, Bauchweh, nicht gut fühlen. Ältere Kinder geben Angst und Sorge an, der Höhepunkt davon ist Hilflosigkeit. Und sie geben Traumasymptome an, dazu gehört zum Beispiel, dass man es vermeidet, darüber zu sprechen oder sich daran zu erinnern; aber auch, dass man aufdringliche Gedanken im Kopf hat, die man eigentlich nicht haben will. Auch geben sie an, überängstlich und überwachsam zu sein, traurig, oder aggressiv. Und sie geben vor allem eine niedrigere Lebensqualität an: dass die Interaktion mit anderen nicht gut läuft, dass sie sich körperlich unwohl fühlen oder kein Selbstwertgefühl haben.
Wirkt sich der Lockdown auf Kinder anders aus als auf Erwachsene?
Die Forschungsgruppe der Universität Innsbruck macht Studien an allen Altersgruppen. Da sehen wir: Am schlechtesten geht es den Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Am besten geht es denen, die schon Erfahrungen gemacht haben – je älter die Person, desto besser eigentlich – außer sie ist in systemerhaltenden Berufen. Wer schon mal eine Krise durchgemacht hat, weiß, das geht wieder vorbei. Bei den Jungen aber fällt viel weg.
Haben Sie auch innerhalb der Kinder-Gruppe altersspezifische Unterschiede bemerkt?
Stärker ausgeprägt ist die Belastung bei den älteren Kindern und Jugendlichen. Ein Vorschulkind ist ja auch noch gerne bei den Eltern. Der Kindergarten ist eher ein verlängerter Arm des Elternhauses, da kann man hin, muss man nicht unbedingt. In der Schule muss man schon sein.
Gab es Unterschiede zwischen den Kindern in Nord- und Südtirol?
Ja. Die Südtiroler Vorschulkinder haben im März wesentlich mehr Rückzugsverhalten gezeigt, sprich weniger Aktivität, weniger Interesse, mehr Traurigkeit. Das haben wir darauf zurückgeführt, dass bei euch der Lockdown viel länger gedauert hat und weil die Kinder gar nicht mehr in die Schule gegangen sind. Die Nordtiroler Kinder sind wieder in die Schule gegangen, weil wir später Ferien haben, erst in der zweiten Juliwoche.
Die Ergebnisse fielen ebenso unterschiedlich aus, je nachdem ob die Fragen Buben oder Mädchen betrafen.
Genau, das fand ich persönlich am spannendsten, obwohl ich mich forschungsmäßig nicht mit Geschlechtern befasse. Am besten kam das bei der Lebensqualität hervor: Mädchen und Buben haben diese ähnlich niedrig angegeben. Die Mütter aber – sie machten 95 Prozent der befragten Eltern aus, Väter haben ganz wenige teilgenommen – haben ihre Mädchen in der Lebensqualität viel höher eingeschätzt als die Buben. Die Situation der Söhne hingegen haben sie realistisch niedrig eingeschätzt. Bei der zweiten Befragung im Dezember haben die Mütter ihre Töchter besser eingeschätzt.
Die Südtiroler Vorschulkinder haben im März wesentlich mehr Rückzugsverhalten gezeigt. Das haben wir darauf zurückgeführt, dass bei euch der Lockdown viel länger gedauert hat als in Nordtirol.
Wie erklären Sie sich das?
Mädchen internalisieren mehr, um für die Eltern weniger belastend zu sein. Die Buben waren lauter, äußerten Aggressivität. Darin spiegeln sich Stereotype wider, denn Mädchen werden mit Familie assoziiert, Jungen mit der Außenwelt. Aber im Dezember sind auch Mädchen aus sich heraus gegangen, und da haben die Eltern gemerkt: Wow, meiner Tochter geht es vielleicht auch nicht so gut. Wahrscheinlich weil es zu lange gedauert hat und die Gefühle und Bedürfnisse irgendwann raus müssen. Oder weil die Mädchen sich nicht gehört fühlten und lauter werden mussten.
Sie haben auch gemessen, wie sich das Befinden im Juni, also nachdem die Maßnahmen gelockert wurden, verändert hat. Erholen sich die Kinder schnell von der Belastung?
Bei der Lebensqualität sind die Werte schnell wieder oben, wenn man den Kontakt zu Freunden wieder hat. Aber Symptome wie Angst oder Misstrauen sind nicht von heute auf morgen weg. Das wird sicher eine Weile dauern, bis die Psyche wieder stabil ist. Wahrscheinlich, bis man wieder weiß: Jetzt passt es. Das war letzten Sommer nicht so. Jetzt haben wir eine andere Ausgangssituation durch die Impfung.
Im Moment läuft eine dritte Phase der Datenerhebung. Wozu?
Weil Corona in einer Wellenbewegung abläuft, die wir nachvollziehen wollen und schauen, was es langfristig bewirkt. Das erste Mal war alles neu, dann gab es einen Ruhepol, dann kam der zweite Lockdown. Man sollte es sich also jedes halbe Jahr anschauen.
Sie wollen einen psychologischen Leitfaden für Schulen und Kindergärten entwickeln. Welche Verantwortung tragen Bildungsinstitutionen für die psychische Gesundheit der Kinder?
Schule und Kindergarten sollten resiliente Orte sein. Das heißt, sie müssen physisch sicher sein – es muss klare Hygienemaßnahmen geben – und psychisch – es muss kommuniziert werden, warum das alles gemacht wird; man muss darüber reden können. Man muss also wissen, wie man die Fragen der Kinder beantwortet, ohne auf Verschwörungstheorien einzugehen. Solche Institutionen sollen auch Hoffnung und Optimismus vermitteln. Man könnte zum Beispiel mit den Kindern gemeinsam überlegen, wie es in Zukunft weiter geht: Wenn das nicht mehr ist, feiern wir ein Fest; oder machen wir statt dem Martinsumzug etwas anderes. Es ist wichtig, das vorauszuplanen, um das Gefühl zu geben: es kommt wieder was. So sieht eine resiliente Schule, ein resilienter Kindergarten aus.
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