Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
1,97 Promille Alkohol im Blut klingen nach mehreren Flaschen Wodka. Dabei entsprechen sie bei einem durchschnittlich gebauten Mann einem Maß Bier, zwei Gläsern Wein und zwei Schnapsln. Eine Aufzählung von Getränken, die für viele zu einer normalen Menge beim Ausgehen zählen. Im Falle des jungen Autolenkers in Luttach führten sie dazu, dass am Wochenende das Leben von sieben jungen Erwachsenen ausgelöscht wurde, elf Personen verletzt wurden und die Welt von fast zwanzig Familien und Freundeskreisen zusammengebrochen ist. Solche „Unfälle“ passieren immer wieder. Jeder erinnert sich an den Autounfall von Hans Kammerlander und jeder kennt selbst Geschichten, die nicht groß in den Medien standen, bei denen Personen aber verletzt oder getötet wurden, weil Alkohol im Spiel war.
Manchmal scheint es mir, diese Unfälle, die juridisch als „omicidio stradale“, also Tötung im Straßenverkehr gelten, werden in Südtirol als Naturkatastrophe gesehen: Bedauern von Seiten der Politik, ein bisschen Sorge um das Image des „Urlaubslands Südtirol“ von einem Bürgermeister und viel Lob für die Rettungskräfte, Feuerwehren und Hilfeleistenden. Nur, dass es sich um keine Naturkatastrophe handelt, sondern um eine soziale Katastrophe: Südtirol hat ein Alkoholproblem. Ein tief verwurzeltes, strukturelles Alkoholproblem.
Ein Viertel der Südtiroler ist der Meinung, Alkohol sei keine Droge.
Sichtbar wird dieses Problem, wenn man sich die Zahlen zum Alkoholkonsum vor Augen führt: Ein Viertel der Südtiroler ist der Meinung, Alkohol sei keine Droge. Und jeder fünfte Südtiroler findet es seltsam, wenn ein Mann in Gesellschaft keinen Alkohol konsumiert; bei Frauen denkt jeder zehnte so. Weil es so wahnsinnig ist, muss man sich das nochmal vor Augen führen: Bei einer Gruppe von fünf Personen findet im Schnitt eine Person, dass es seltsam ist, wenn ein Mann in Gesellschaft keinen Alkohol trinkt. Diese eine statistische Person sitzt bei jedem gemeinsamen Pizzaessen, beim Familien-, Vereins-, Klassen- oder Freundetreffen mit am Tisch und fragt, warum denn nun nichts getrunken würde: „Kim, i spendier dr ebs.“
Und auch wenn unter anderem Präventionskampagnen und die dreijährige 0-Promille-Phase bei Führerscheinneulingen in den letzten Jahrzehnten zu weniger Autounfällen geführt haben, wird immer noch nach dem Grund gefragt, wenn jemand keinen Alkohol konsumiert. Und das, obwohl die Frage danach viel sozialen Sprengsatz in sich vereint: Trinkt eine Frau nicht, weil sie schwanger ist, aber noch nichts sagen möchte? Trinkt jemand nicht, weil er oder sie ein trockener Alkoholiker ist, das aber nicht jedem auf die Nase binden möchte? Reagiert eine Person allergisch auf Alkohol, hat sie in ihrer Familie Süchtige oder Unfallopfer von mit Alkohol verursachten Situationen? Und: Auch die Nennung – oder das Vorschieben einer dieser Gründe – reicht nicht aus, um in Ruhe einen analkoholischen Cocktail trinken zu dürfen. Meist folgt die Antwort: „Oan Glasl geat olm“, was sowohl bei Schwangerschaften als auch beim Autofahren mehr als fatal ist. Dabei bin ich noch gar nicht zum Grund vorgestoßen, der für viele Nicht-Trinker ausschlaggebend ist, auf Alkohol zu verzichten: Wein, Bier, Schnaps und Cocktails können genauso wie Graukäse, Spinatspatzln oder Wienerschnitzel Menschen einfach nicht schmecken. Undenkbar, im Land der Weinreben und Vollräusche.
Wenn die Hip-Hop-Band Homies4Life vor einigen Jahren sang: „Des isch Sauftirol, wo jeder sauft zum Wohl, no a Bier no an Leps, no an Schnops und Prost“, dann stand in den YouTube-Kommentaren: „Isch net olls letz wos viel Alkohol isch! Man konn guat saufen und letz saufen“. Das fasst die gesellschaftliche Reflexion zu diesem strukturellen Thema recht gut zusammen.
Und so wenig dem Unfalllenker in Luttach die Schuld abgenommen werden soll: jedem, der schon mal betrunken Auto gefahren ist, hätte das passieren können. 19 Prozent der Südtiroler geben an, das mindestens einmal riskiert zu haben. Vermutlich hat so mancher schon gesehen, wie jemand offensichtlich betrunken ins Auto gestiegen ist und hat nichts dagegen unternommen; oder hat lieber Abstand gehalten, anstatt die Polizei zu rufen, als jemand Schlangenlinien fuhr. Es sind nicht nur 19 Prozent der Südtiroler schon selbst betrunken mit dem Auto gefahren, über ein Drittel ist bereits einmal mit einem betrunkenen Autofahrer mitgefahren. Denn: es wird schon gut gehen.
Das alles wird sich nicht ändern, solange Alkohol nicht als Droge, sondern als sozialer Kitt gesehen wird. Solange es notwendig ist, Alkohol zu trinken, um nicht als seltsam oder Außenseiter dazustehen, werden Jugendliche anfangen zu trinken. Auch wenn sie Alkohol nicht mögen – sie werden es tun, um dazuzugehören. In der Soziologie wird das als pluralistische Ignoranz beschrieben. Deborah Prentice und Dale Miller zeigen in ihrer Studie „Pluralistic Ignorance and Alcohol Use on Campus: Some Consequences of Misperceiving the Social Norm“, dass Studierende exzessiv Alkohol trinken, weil sie der Meinung sind, dass das die erwünschte Norm ist. Dabei gehen sie davon aus, dass alle anderen gern trinken. Nur trinken die anderen Studierenden genauso wenig gerne und denken wiederum, dass sie trinken müssen, um dazuzugehören. Bestimmt wird diese Norm von einigen wenigen, die laut schreien, dass der Alkoholkonsum nicht eingeschränkt werden darf.
In Südtirol halten es nur 15 Prozent für akzeptabel, wenn sich Freunde beim Ausgehen betrinken. 73 Prozent der Südtiroler geben aber an, sich bei Abenden mit Freunden manchmal oder öfter zu betrinken. Das Fatale: Besonders Männer passen ihre eigene Meinung an die der Gruppe an und trinken mit der Zeit tatsächlich immer überzeugter. Sie verinnerlichen die Norm, dass Trinken gut ist – und bekräftigen sie wiederum.
Wein, Bier, Schnaps und Cocktails können genauso wie Graukäse, Spinatspatzln oder Wienerschnitzel Menschen einfach nicht schmecken. Undenkbar, im Land der Weinreben und Vollräusche.
Der einzige Ausweg aus diesem Kreislauf ist das Abweichen von der Norm. Das kann besonders bei Jugendlichen dazu führen, dass sie aus einer sozialen Gruppe wie dem Freundeskreis ausgeschlossen werden. Denn die Soziologie zeigt: Je mehr soziale Vorstellungen Menschen erfüllen, desto beliebter und erfolgreicher sind sie in ihrem Umfeld. Die Abweichung von der Norm, im Falle Südtirols vom gemeinsamen Trinken, kann zu einer sozialen Bestrafung und dem Ausschluss aus einem Freundeskreis führen. Deshalb werden Südtirols Jugendliche so lange trinken, bis dieser Alkoholkonsum kritisch reflektiert wird – in einem deutlich größeren Ausmaß, als es bisher passiert. Und: Auch Erwachsene müssen ihr Trinkverhalten reflektieren. Vielleicht erinnern sie sich dabei, dass auch sie Alkohol einmal nicht mochten, er mittlerweile aber zu einem schönen Abend unabdingbar dazugehört.
Auf exzessiven Alkoholkonsum, Autofahren unter Alkoholeinfluss und dem Überreden von anderen, Alkohol zu trinken, gibt es zwei mögliche Reaktionen: Mitmachen, was zur Folge haben wird, dass immer wieder „Naturkatastrophen“ wie an diesem Wochenende passieren. Oder dagegenhalten: alkoholisierte Personen vom Autofahren abhalten, Personen, die einen überreden wollen zu trinken, danach fragen, warum es ihnen so wichtig ist, dass man auch trinkt. Und sie fragen, warum sie gerade trinken.
Auch die Politik muss tätig werden. Es reicht nicht, Kampagnen mit „Wer fährt, trinkt nicht“ zu finanzieren: Es braucht mehr Kontrollen auf den Straßen und mehr Präventionsangebote. Vielleicht ändert sich dann etwas an unserer pluralistischen Ignoranz. Zurzeit gibt aber noch jeder zwanzigste Autofahrer in Italien an, im letzten Monat mindestens einmal alkoholisiert mit dem Auto gefahren zu sein. Das ist fatal.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support