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Wie wir aussehen entscheidet darüber, wie man uns behandelt. Dieses Phänomen nennt sich Lookismus. Der Begriff beschreibt die Diskriminierung und Stereotypisierung von Menschen auf Grund ihres Aussehens. Damit und mit der Körperpolitik unserer Gesellschaft beschäftigen sich Christian Berger und Elisabeth Lechner im Buch „Körperbilder, Körpersymbole und Bekleidungsvorschriften“. Die Expertin und der Experte zum Thema Gender Equality sind sich einig: Wer schön ist, hat es einfacher im Leben.
Welchen Wert hat Schönheit in unserer Gesellschaft?
Elisabeth: Schönheit entscheidet über Lebenswege. Es gibt Studien, die beweisen: Wer als schön gilt, bekommt leichter einen Job, schneller die Gehaltserhöhung, die bessere Gesundheitsversorgung … Am stärksten benachteiligt sind dicke Menschen. Im Gesundheitswesen werden Krankheitsbilder übersehen, weil man nur auf das Gewicht verweist. Behandlungen werden sogar abgelehnt. Oft heißt es: Nimm erst einmal 40 Kilogramm ab, dann behandeln wir dich. Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es die Erfahrung, dass dicke Menschen mit hervorragenden Qualifikationen bei einer Bewerbung mit Foto abgelehnt wurden, während sie ohne Foto Zusagen erhielten.
Worauf ist das zurückzuführen?
Elisabeth: Dieses Phänomen nennt sich Lookismus. Menschen mit einem bestimmten Erscheinungsbild schreibt man automatisch Eigenschaften und Kompetenzen zu oder ab. Dadurch entstehen Vorstellungen, wie dass alle Dicken faul und träge sind, nicht arbeiten, asozial sind und so weiter. Der Schönheitsdruck hat sich bei allen Geschlechtern in den letzten Jahren intensiviert. Die Vorstellung, dass man weiterkommt, wenn man sich nur bemüht, ist Schwachsinn. Schönheit ist kein oberflächliches Thema, sondern zutiefst politisch.
Christian: Wir haben dadurch eine extrem dualistische Weltwahrnehmung, wie zum Beispiel schön vs. hässlich. Wir denken noch in vorgegebenen idealistischen Extremen. Verteilung von Ressourcen und Chancen, Lebensglück, psychische und physische Gesundheit sind vom Schönheitskapital abhängig. Daher ist Schönheit ein politisch und ökonomisch ernstzunehmender Faktor.
Wer definiert Schönheit und was gilt als schön?
Elisabeth: Der Kapitalismus und das Patriarchat definieren Schönheit. Zeitgenössisch betrachtet können wir Schönheit nicht losgelöst von Profitzusammenhängen und einem binärem Geschlechtersystem denken. Besonders benachteiligt sind Frauen, weil sie viel stärker als Männer auf ihr Aussehen reduziert werden. Körper, die als nicht schön gelten, sind laut Studien dicke, queere und ältere Körper oder Körper mit Behinderungen. Schöne Frauen hingegen sind weiß, cis-geschlechtlich [Menschen, deren Geschlechtsidentität demjenigen Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, Anm. der Redaktion], dünn, enthaart, aber mit vielen Haaren auf dem Kopf. Laut Studien symbolisieren glatte, seidige Haare Jugendlichkeit, Arbeitsbereitschaft, Professionalität und Einsatzbereitschaft. Afros und „krauses“ Haar repräsentieren dagegen Wildheit und fehlende Professionalität. Schönheitsarbeit ist somit ein Investment in die eigene Zukunft.
Dieses Investment ist für Frauen häufig sehr kostspielig. Warum kosten manche Produkte für Frauen, wie etwa Rasierer, so viel mehr als das gleiche Produkt für Männer?
Elisabeth: Erklärungen dafür sind die Pink Tax und der Grooming Gap – zu Deutsch der „Körperpflege-Unterschied“. In vielen Jobs, insbesondere in der Dienstleistungsbranche – wie Flugbegleitung, Servicekraft und so weiter – setzt man ein gewisses Maß an Schönheits- und Körperarbeit voraus. Speziell Frauen müssen in ihr Aussehen viel Geld investieren, um einen Job zu bekommen. Das investierte Geld bringt ihnen zwar den Job, allerdings müssen sie das verdiente Geld sofort wieder in Schönheitsarbeit investieren.
Christian: Die Pink Tax ist die sogenannte Feminisierungssteuer. Dabei handelt es sich um keine echte Steuer, sondern um einen Begriff für das Phänomen der auseinanderfallenden Preise für Produkte und Dienstleistungen, die sich speziell an Frauen oder Männer richten. Die Produkte für Frauen sind dabei um einiges teurer. Laut deutschen Studien zahlen Frauen etwa 30 Prozent mehr für Frauenprodukte wie Rasierer, Shampoos, Friseurbesuche.
Frauen sind nicht Menschen mit einem umfassenden Spektrum an Emotionen und Intelligenz, sondern Körper, die es zu behandeln gilt.
Warum lassen sich Frauen das gefallen?
Christian: Die Gender-Marketing-Strategien sind raffiniert. Diese Werbung richtet sich an ein Geschlecht, weckt Bedürfnisse, spricht Mangelvorstellungen an und appelliert an kaum zu erreichende Ideale. Dabei wird speziell Kundinnen ein Defizit eingeredet und gleichzeitig die perfekte Lösung mitgeliefert. Dadurch weckt die Werbung die Vorstellung, dass Frauen pflegebedürftiger seien wie Männer. Während Frauen für ihre Haare zehn verschiedene Pflegeprodukte benötigen, bekommen Männer ein 7 in 1 Duschgel. Frauen wird dadurch primär kommuniziert, dass sie Objekte sind, die behandelt werden müssen. Sie werden als defizitär dargestellt und verdinglicht. Frauen sind nicht Menschen mit einem umfassenden Spektrum an Emotionen und Intelligenz, sondern Körper, die es zu behandeln gilt.
Wie gefährlich ist es, wenn Frauen und deren Körper als Kommerzobjekt dargestellt werden?
Elisabeth: Wenn Frauen der Subjektstatus, also das Menschliche und Individuelle, entzogen wird und sie zu Objekten werden, ist der Schritt zur Gewalt nur mehr ein ganz kleiner. Diese Strukturen, also das Patriarchat und in seiner Fortführung auch Lookismus und die Pink Tax, sind die Basis für Gewalt an Frauen.
Spielt das äußere Erscheinungsbild von Frauen in der Politik eine größere Rolle als bei Männern?
Elisabeth: Dieses Phänomen finden wir in allen Berufsbranchen. Sobald die finnische Premierministerin Dekolleté zeigt, symbolisiert sie, dass sie einen sexualisierbaren Körper hat und es kommt zum Aufschrei. Wenn sich Politikerinnen wie Angela Merkel aber bemühen, sich so „professionell“, also so maskulin wie möglich zu kleiden, passt das auch nicht. Viel zu selten wird auf den politischen Inhalt der Frauen geachtet. Männer können jeden Tag den gleichen Anzug tragen, das interessiert niemanden. Wer fragt beim österreichischen Bundeskanzler nach, welchen Anzug er heute getragen hat? Keiner.
Welche Rolle spielen die Medien beim Lookismus?
Elisabeth: Medien werden oft zu schnell verteufelt. Das medial präsentierte Idealbild springt nicht direkt und unreflektiert in meinen Kopf und löst bei mir Unzulänglichkeitsgefühle oder gar Essstörungen aus. Ich glaube nicht an einen passiven Zugang von Mediennutzung, sondern an Medienkompetenz. Statt anzunehmen, wir wären Inhalten hilflos ausgeliefert und komplett handlungsohnmächtig, plädiere ich für einen ermächtigten, widerständigen Umgang mit Medien, den wir schon in der Schule erlernen sollten. Ideen wie auf Instagram-Bildern einen Verweis anzubringen, dass etwas retuschiert und bearbeitet wurde, ist alleine wenig sinnvoll, weil wir das eigentlich alle wissen. Der Schönheitsdruck wird zwar durch soziale Medien und einige Influencerinnen und Influencer geschärft, aber mit einem politischen, strukturellen Verständnis von Schönheit kann mir das nichts anhaben. Ich weiß: Das ist das Geschäftsmodell dieser Leute. Außerdem bietet gerade Social Media auch die Möglichkeit zum kollektiven Widerstand: die Massensichtbarkeit widerspenstiger, nicht-normativer Körper.
Wie sieht es mit der Werbung aus?
Christian: Werbung schafft Bedürfnisse und zielt darauf ab, dass wir konsumieren, sprich Geld ausgeben. Die Entscheidungsträger bei Werbekampagnen sind überwiegend immer noch Männer. So werden Geschlechterstereotype produziert, weil dieselben Schönheitsideale immer wieder aktiviert werden sollen. Es ist rechtlich nicht untersagt, sexistisch zu werben. Auch wenn in der Wirtschaftsethik eher von Gruppendiskriminierungen und Zuweisungen abgesehen wird, gilt bei der Werbung: sex sells. Diese Form der Diskriminierung funktioniert deshalb so gut, weil das Geschlechterspezifische im Gegensatz zu rassistischer oder antisemitischer Diskriminierung subtiler ist. Werbung nutzt die Unsicherheiten von Menschen aus und gilt nachweislich als gesundheitsschädigend.
Elisabeth: Werbung für „Frauenprodukte“ ist lächerlich. Zeigt eine Werbung für Rasierer einmal wirklich Beine, die behaart sind und Rasierer, die Haare entfernen anstatt über glatte Haut zu streichen, oder werden Binden mit roten Blutstropfen gezeigt, kommt es zum Aufschrei und Protest. Werbung generiert falsche Schönheitsideale und tabuisiert natürliche Prozesse und Tatsachen des menschlichen Körpers.
„Sex sells“ sollte offiziell kein Prinzip der Werbebranche sein.
Gibt es rechtliche Ansätze gegen geschlechterdiskriminierende und lookistische Werbung?
Christian: Es gibt internationale und europäische Vorgaben, die besagen, dass Geschlechterstereotype in der Werbung systematisch abgebaut werden sollen, weil sie Grundrechte wie den Gleichheits- und Gesundheitsschutz gefährden. „Sex sells“ sollte offiziell kein Prinzip der Werbebranche sein. Allerdings funktioniert die Werbebranche kapitalistisch, weshalb sie de facto weiterhin so wirbt, dass auf kurze Sicht der meistmögliche Absatz erreicht wird. Es gibt aber Selbstbeschränkungseinrichtungen wie den Werbe- und Presserat. Dort gibt es Regelwerke mit Verboten von Werbeinhalten, die Geschlechter abwerten. Diese Verbote sind rechtlich jedoch nicht verbindlich. Es bräuchte daher Regulierungen durch das Antidiskriminierungs- und auch Wettbewerbsrecht, die gegen Sexismus in der Werbung wirken.
Was kann ich gegen Lookismus unternehmen? Soll ich künftig etwa Nassrasierer für Männer kaufen und meine Bilder auf Instagram nicht mehr bearbeiten, um nicht länger die Schraube „Schönheitsideal“ anzuziehen?
Christian: Nein (lacht). Zunächst sollten Bildungseinrichtungen Körperpolitik thematisieren. In Unterrichtseinheiten in politischer Bildung oder Ethik könnten Werbesujets untersucht, diskutiert und unter Umständen beim Presserat gemeldet werden. Als Einzelne und Einzelner ist es wichtig, auch öffentliche Kritik zu üben oder privat an Unternehmen zu schreiben. Das Ziel ist immer das Ausdrücken von anderen, auch feministischen Meinungen und das Sichtbarmachen kritischer Stimmen.
Elisabeth: Genau, das Ziel ist, zu informieren und zu reflektieren. Wir müssen weg von dieser Selbstoptimierung. „Liebe dich selbst“ ist leicht gesagt, aber eigentlich undenkbar, wenn uns jahrzehntelang das Gegenteil eingeredet wird. Diesen Selbsthass, den wir manchmal verspüren, sollten wir nicht auf uns, sondern auf die Strukturen über uns richten, welche uns unzumutbare und letztlich unerreichbare Schönheitsideale verkaufen. Wir müssen unsere Selbst- aber auch Fremdwahrnehmung kritisch betrachten und reflektieren. Was stört mich daran, wenn eine dicke Frau ein bauchfreies Top trägt? Und warum stört mich das? Meine Utopie ist die Idee der Body Neutrality, also ein ganz neutraler Zugang zu Körperlichkeit. Eine Welt, in der wir unsere Körper dafür wertschätzen, dass sie uns durchs Leben tragen und Interaktion mit unserer Umwelt ermöglichen. Diese einschränkenden Ideale und die sich gegenseitig verstärkenden, diskriminierenden Strukturen, die uns immer wieder auf verschiedene Aspekte unseres Aussehens reduzieren, werden wir aber nur gemeinsam los. Deswegen sage ich immer: Riot, don’t diet! Gemeinsam gegen die Schönheitsindustrie.
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