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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 06.03.2023
LebenInklusive Schule

Wenn alle in der gleichen Klasse sitzen

Veröffentlicht
am 06.03.2023
Während es anderswo Sonderklassen gibt, lernen in Südtirol alle Kinder, ob begabt, mit oder ohne Beeinträchtigung, gemeinsam. Das hat für die Betroffenen Vor- und Nachteile.
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Max Silbernagl ist Autor, Musiker

Er singt, brüllt, lässt die Sau raus. Und das Publikum lässt sich drauf ein, grölt mit. Auf der Bühne ist Max Silbernagl in seinem Element. Mit der Punk-Band „Chaos Junkies“, die er vor fünf Jahren gegründet hat, hat er schon 32 Konzerte gehalten, auch in Wien stand er auf der Bühne. Wobei „stehen“, rein technisch gesehen, das falsche Wort ist. Denn Silbernagl, heute 27 Jahre alt, sitzt seit seiner Geburt im Rollstuhl.

Die körperliche Beeinträchtigung, mit der Max Silbernagl lebt, nennt sich spastische Tetraparese. Für seinen Alltag bedeutet das, dass Silbernagl rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen ist, ob bei der Körperpflege oder bei der Zubereitung seines Essens.

Gleichzeitig macht er Dinge, von denen die meisten Menschen nur träumen können: Abgesehen von seiner musikalischen Karriere hat Silbernagl schon zwei Bücher geschrieben, ein drittes steht kurz vor der Veröffentlichung, es soll ein Kinderbuch werden. Hauptberuflich ist Silbernagl als Journalist tätig, für die Südtiroler Youth-App schreibt er Beiträge über Themen, die für Menschen mit körperlichen Behinderungen relevant sind.

Auch in seiner Familie ist er das Ausnahmekind: Während seine drei Geschwister in der Heimat blieben, zog er als Einziger ins Ausland und lebt heute in Innsbruck.

Von Anfang an mittendrin
Dort treffe ich Max Silbernagl in einem Cafè nahe am Fluss. Als ich ankomme, sitzt er in seinem Rollstuhl schon an einem der Tische. Er ist allein, ausnahmsweise hat er für heute keine Assistenz organisieren können. Also bittet er mich, ihm beim Ausziehen der Jacke zu helfen.

„Ich habe gelernt, einfach zu fragen, wenn ich etwas brauche“, erzählt Silbernagl. Die Berührungsängste erlebe er eher bei den anderen. Viele Menschen hätten Angst, im Umgang mit Menschen mit Behinderungen etwas falsch zu machen, und blieben deshalb lieber auf Distanz. In Innsbruck noch mehr als in Bozen, hat Silbernagl beobachtet. Überhaupt sehe er hier weniger Menschen mit Behinderung auf den Straßen – und wenn, dann nur in Gruppen, unter sich.

Max Silbernagl und seine Band

Ob das auch am Schulsystem liegt?

In Südtirol lernen alle Kinder vom Kindergarten bis zur Matura in der selben Klasse. Das ist nicht selbstverständlich. Bis 1977 gab es auch in Italien Sonderklassen, dann wurden sie – quasi über Nacht – per Gesetz abgeschafft. Jedes Kind wird heute, egal wie stark die Beeinträchtigung ist, inklusiv unterrichtet.

Herzstück des Modells ist der individuelle Bildungsplan, der vom Lehrpersonenteam unter Mitwirkung der Betroffenen und Eltern für jedes Kind mit Beeinträchtigung erstellt wird. Darin einigen sich alle Beteiligten auf konkrete Unterstützungsmaßnahmen, die mit der Zeit immer wieder überprüft und neu bewertet werden. Ziel des individuellen Bildungsplan ist nicht nur ein unterstützendes, bedürfnisgerechtes Lernsetting, sondern auch die aktive Teilhabe im Klassengeschehen.

Im Falle von Silbernagl unterstützten ihn eine Integrationslehrperson, die der ganzen Klasse zugewiesen ist, und ein Mitarbeiter für Integration, der nur für ihn da war und ihn bei Alltagshandlungen unterstützte, beispielsweise beim Gang auf die Toilette oder beim Mitschreiben – „also mit der Logistik“, wie Silbernagl es ausdrückt.

Optionen statt Selektion
Hansjörg Unterfrauner bereitet in diesen Tagen den Besuch einer Delegation aus dem österreichischen Bildungsministerium vor. Der Inspektor für Inklusion an der Deutschen Bildungsdirektion ist wichtigster Ansprechpartner für Fragen rund um das inklusive Schulmodell in Südtirol.

Unterfrauner, der selbst mehrere Jahre als Integrationslehrperson an einer Mittelschule (Sekundarstufe I) tätig war, klärt seine Gäste dann über die Eigenheiten des inklusiven Schulmodells auf. Zwischen den eingespielten Sätzen eines erfahrenen Bildungsbürokraten lässt er noch immer seine Überzeugung erkennen: „Die Kinder lernen in diesem System früh, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Sie lernen, dass es normal ist, dass es diese Vielfalt in unserer Gesellschaft gibt.“

Hansjörg Unterfrauner

Für viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland sei das italienische Einheitsschulsystem nur schwer vorstellbar, berichtet Unterfrauner. Dabei sei die Einheitsschule die Voraussetzung für das inklusive Modell – im Gegensatz zum gegliederten Schulsystem, wie es in Deutschland und Österreich praktiziert wird..

Anstatt vor der Oberschule zwischen verschiedenen Schultypen zu wählen, werden die Schülerinnen und Schüler dort schon nach der vierten Klasse Grundschule einer Selektion unterzogen, die Leistungsfähigsten kommen aufs Gymnasium. So werden die Lebenswege der Kinder schon früh vorherbestimmt.

Spezialisierte Betreuung oder Soziales Lernen?
Die regelmäßigen Besuche ausländischer Bildungspolitiker, die es nun schon seit über 50 Jahren gibt, bringen viele Fragen mit sich, manchmal auch Irritationen, zahlreiche Aha-Momente und fast immer neue Einsichten. Übernommen wurde das inklusive Schulsystem aber bisher nicht – was wohl auch an den tiefgreifenden Umwälzungen liegt, die ein Übergang zum inklusiven Schulmodell mit sich bringen würde. Die gesamte pädagogische Ausbildung müsste umgepflügt werden, auch alle Schulgebäude müssten plötzlich barrierefrei sein.

Dass all das in Italien funktioniert hat, liegt vor allem daran, dass die Gesetzesänderung von 1977 praktisch über Nacht kam. „Zuerst war das Gesetz da, der Rest ergab sich später“, erinnert sich Unterfrauner. Plötzlich saßen also die Kinder mit Behinderungen in den Regelklassen, aus mancher Rumpelkammer wurde kurzfristig ein barrierefreies WC gezimmert. „Erst danach hat man geschaut, die Schulen – architektonisch und didaktisch – an die neue Wirklichkeit anzupassen.“

Was einem Wandel zum Inklusionsmodell im Wege steht, sind aber auch verschiedene Lobby-Gruppen, wie das Lehrpersonal für Sonderpädagogik oder die zahlreichen Eltern- und Betroffenenorganisationen. Viele von ihnen haben gute Gründe, um an den Sonderklassen und Sonderschulen festzuhalten.

Das inklusive Schulmodell habe einen entscheidenden Nachteil, räumt auch Unterfrauner ein. „Das System in Südtirol funktioniert kapillar: An jeder Schule gibt es Integrationslehrpersonen, sie müssen aber oft eine große Bandbreite an Diagnosen abdecken.“ Eine spezialisierte Betreuung sei deshalb in manchen Fällen kaum möglich. So gibt es in Südtirol derzeit faktisch niemanden, der für blinde Schülerinnen und Schüler die Brailleschrift unterrichten könnte.

Auch für den Sänger und Schriftsteller Max Silbernagl ist das Leben abseits der Behindertenwerkstätten alles andere als einfach.

Während also die Sonderklassen eine spezialisierte Betreuung garantieren, fördern inklusive Regelklassen das soziale Lernen, das konstruktive Miteinander in einer heterogenen Gruppe. Was am Ende Priorität hat, bleibt eine Frage, die je nach individuellen Umständen und Werten sehr unterschiedliche Antworten findet. Manch skeptische Südtiroler Eltern schickten kurz nach der Gesetzesänderung 1977 beispielsweise ihre Kinder in sonderpädagogische Einrichtungen nach Österreich.

Auch für den Sänger und Schriftsteller Max Silbernagl ist das Leben abseits der Behindertenwerkstätten alles andere als einfach. Während unseres Gesprächs schnauft er mehrmals tief durch.

„Wenn ich einen Termin habe, so wie heute, kostet mich die Organisation und die Logistik manchmal so viel Energie, dass ich im Augenblick, wo es endlich losgehen soll, schon ganz erschöpft bin“, erzählt Silbernagl. Was ihm in den Gliedmaßen fehle, das müsse er mit dem Kopf kompensieren: organisieren, planen, abwägen.

„Wenn es schwierig wird, watscht es dich immer wieder hinunter, aber so ist es nun mal“, sagt Silbernagl. „Das ist das normale Leben – und ich bin verdammt froh, dass ich es möglichst früh kennengelernt habe.“

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