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Mouze C. will nie wieder ins Gefängnis. So viel steht fest. Zusammengerechnet hat der 35-Jährige fast sieben Jahre dort verbracht, zuletzt in der Strafanstalt in Bozen. Früher war Mouze obdachlos und drogensüchtig. Um seine Sucht zu finanzieren, begann er zu stehlen. „Auf der Straße ist der Schritt in die Kriminalität klein“, sagt er. Irgendwann fühle man sich so entmenschlicht, da gäbe es kein „richtig“ oder „falsch“ mehr. „Das soll aber keine Entschuldigung sein“, fügt er hinzu. Heute ist Mouze clean und sitzt seine restliche Strafe in Hausarrest in einer Wohnstruktur in Brixen ab. Möglich machte dies die Corona-Pandemie (siehe Infobox), durch die die chronisch überfüllten Gefängnisse in Italien dringend entlastet werden mussten. Für Mouze C. war das eine Chance. Noch in diesem Jahr will er bei einer Baufirma anfangen. „Ich hatte ziemliches Glück“, sagt er. Denn er habe viele gesehen, die am Knast zerbrochen sind.
Das Gefängnis in der Bozner Dantestraße ist eine Strafanstalt für Männer. Dort werden Gefangene untergebracht, die zu Haftstrafen bis zu fünf Jahren verurteilt wurden. Bei einer Kapazität von 87 Plätzen waren dort in der Vergangenheit durchschnittlich 110 Menschen inhaftiert. Das Gebäude geriet aufgrund seiner Baufälligkeit immer wieder in die Kritik. Ein längst geplanter Neubau verzögert sich seit Jahren. Unterdes verfällt die Struktur mehr und mehr. Sie geht in ihrer heutigen Form auf das Ende des 19. Jahrhunderts unter Österreich-Ungarn zurück. Zu jener Zeit wurden Verbrecher noch zum „Wiener Würgegalgen“ verurteilt und Exekutionen im Beisein von Schaulustigen vollstreckt. Wer damals nur im Gefängnis landete, hatte Glück. Die Abschaffung von Todesstrafe und körperlicher Züchtigung galt als ein Schritt hin zu einer humanen, aufgeklärten Gesellschaft, die für ihre Missetäter in erster Linie eines vorsieht: Resozialisierung.
Alltag in der Haft
„Strafen dürfen nicht in einer gegen das Empfinden der Menschlichkeit verstoßenden Behandlung bestehen und sollen die Resozialisierung des Verurteilten anstreben“, so steht es in Artikel 27 der italienischen Verfassung. „Diese wurde übrigens von Menschen geschrieben, die mitunter selbst Gefängnisaufenthalte hinter sich hatten und daher ganz genau wussten, worum es ihnen ging“, betont Dario Martini von Odòs, der Betreuungseinrichtung für Häftlinge und Haftentlassene der Caritas. Er weiß, dass die gesellschaftliche Wiedereingliederung von Haftentlassenen nicht automatisch mit den Entlassungspapieren geschieht. Die Mitarbeiter*innen von Odòs begleiten Betroffene bei der Reintegration in das Leben nach der Haft. Außerdem bietet die Organisation 16 Schlafplätze für Menschen in „misura alternativa“. Im Gefängnis ist Resozialisierung oft nur schwer möglich. Ein Grund dafür ist die chronische Überbelegung. „Wer mit acht bis zehn Menschen eine Zelle teilt, verliert irgendwann das Gefühl für sich als Individuum“, erklärt Dario Martini. Es entstehe eine verhängnisvolle Gruppendynamik, die mit der Idee der persönlichen Resozialisierung nicht kompatibel sei.
Mouze C. teilte seine Zelle zeitweise mit elf anderen Gefangenen. „Viele halten das nur mit Hilfe von Medikamenten aus. Ohne Beruhigungsmittel drehen sie durch“, sagt er. Die Zellen im Bozner Gefängnis sind klein. Auch wenn sich die Gefangenen jeden Tag etwa zehn Stunden außerhalb des Haftraumes aufhalten. Freigang bietet nur der 10 mal 50 Meter große Innenhof. Einmal in der Woche darf für zehn Minuten telefoniert werden. Es gibt eine Bibliothek, bescheidene Bildungsmöglichkeiten und Freizeitangebote. Was Mouze C. in Bozen am meisten vermisste, war eine Möglichkeit, zu arbeiten und etwas Sinnvolles zu tun. [[{“fid”:”26680″,”view_mode”:”teaser”,”fields”:{“format”:”teaser”,”field_description[und][0][value]”:””,”field_description[und][0][format]”:”full_html”,”field_imagesource[und][0][value]”:”zebra.”,”field_license_type[und]”:”_none”,”field_url[und][0][url]”:””,”field_tags[und]”:””},”type”:”media”,”link_text”:null,”attributes”:{“height”:389,”width”:320,”class”:”media-element file-teaser”}}]]Während seines Aufenthalts wurden die vorgesehenen Arbeitsstunden von sechs auf drei täglich gekürzt. Dabei bekam er gerade dann, als er Reparaturen oder andere Dienste übernehmen konnte, endlich den Kopf frei und begann über sein Leben nachzudenken: „Warum arbeite ich hier und nicht draußen? Wie bin ich hier gelandet?“ Wer einen Grund hat, morgens aufzustehen, der gewinne an Selbstwert und sehe in den Dingen wieder einen Sinn, ist Mouze C. überzeugt: „Davon profitiert der Einzelne nach seiner Entlassung und schließlich die ganze Gesellschaft.“ Die 190 italienischen Gefängnisse kosten die Steuer- zahler*innen rund 2,9 Milliarden Euro jährlich. Mehr als 50.000 Menschen sitzen in Italien hinter Gittern. Kaum 30 Prozent davon geht einer Arbeit nach und aus den Statistiken der letzten Jahre lässt sich schließen, dass über 60 Prozent der Haftentlassenen früher oder später erneut kriminell wird.
Eine Welt für sich
Weiterbildung, Arbeitserfahrungen und die Vorbereitung auf ein geregeltes Leben danach legen einen wichtigen Grundstein, um Menschen zurück in die Gesellschaft zu holen. Wenn dies ermöglicht wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, nach der Entlassung eine Wohnung und einen Job zu finden; die Rückfallrate sinkt. Eine weitere Hürde bilden gekappte Sozialkontakte und das gesellschaftliche Stigma, mit dem Haftentlassene konfrontiert sind. „Das Gefängnis bleibt eine Welt für sich“, sagt Martini von Odòs. Und gerade da liege das Problem. „Wie soll man zurück in die Gesellschaft finden, wenn man im Gefängnis gänzlich davon abgeschnitten wird?“, fragt er. Eine wichtige Rolle spielen daher Freiwillige, die eine Brücke zur Welt draußen bilden und den Menschen hinter Gittern durch ihre Besuche und Projekte einen Austausch ermöglichen. Sie werden von der Caritas auf ihren Einsatz vorbereitet. Einer von ihnen ist Stefano Fugazza aus Bozen, der zweimal wöchentlich den Gefangenen einen Besuch abstattet „Die meisten Leute haben eine ganz konkrete Meinung zum Gefängnis: Wer dort sitzt, hat es auch so verdient“, weiß er. Fugazza geht es darum, die Menschen hinter den Inhaftierten zu sehen, die sich selbst oft als Abschaum betrachten, die aber das Recht haben, beim eigenen Namen genannt zu werden. „Ich versuche zu zeigen, dass ich mich unvoreingenommen für sie interessiere.“ Denn nur wer noch ein Minimum an Selbstachtung und Vertrauen habe, schaffe den schwierigen Schritt, der nach der Haftentlassung wartet. Nach dem Motto „Jeder Gefangene ist ein Nachbar von Morgen“ werden Haftanstalten in Norwegen geführt.
Mit einer Rückfallrate von 20 Prozent liegt Norwegen international ganz vorn wenn es um effiziente Bestrafung und Resozialisierung von straffälligen Menschen geht. Weltweit wird auf die Vorzeigeprojekte geschaut, in denen ein Haftplatz zwar doppelt so viel kostet wie etwa in einem amerikanischen Gefängnis, wo aber nur die wenigsten rückfällig werden und die meisten nach der Haft einer geregelten Arbeit nachgehen und Steuern zahlen. Unterm Strich rechnet sich das System und der Staat spart eine Menge Geld. Das Konzept ist so simpel wie effizient: Wer sich als Mensch gesehen fühlt, schöpft neues Vertrauen. Wer seine Fähigkeiten ausbaut und Bildungsrückstände aufholt, dem eröffnen sich neue Chancen. Wer Beziehungen pflegt steht nach der Entlassung nicht allein da. Die Wahrscheinlichkeit und die Notwendigkeit, wieder kriminell zu werden, wird beträchtlich kleiner.
Dass diese Theorie auch im Kleinen funktioniert, bestätigen die Erfahrungen und Zahlen hierzulande: Häftlinge, die ihre Strafe bei den Odòs in Bozen verbüßen, werden bedeutend weniger oft rückfällig. Gleiches gilt für jene, die im Gefängnis eine Ausbildung zur Küchenhilfe und den regelmäßigen Küchendienst absolvieren.
Das „Re“ von Resozialisierung
Ein weiteres Thema, das nicht außer Acht gelassen werden darf, spricht die Bozner Psychologin Franca Berti an: soziale Gerechtigkeit. Ginge es nach der Beauftragten für Menschen mit Freiheitsentzug der Gemeinde Bozen, dann müsste schon viel früher angesetzt werden, noch bevor jemand überhaupt straffällig wird. „Sobald eine Person kriminell wird, haben wir als Gesellschaft eigentlich schon versagt“, meint sie. Ein Extrembeispiel dafür sind die USA: Über zwei Millionen Menschen sitzen dort in Gefängnissen. Die Zahl an Häftlingen ist gemessen an der Bevölkerung besonders hoch: 665 pro 100.000 Einwohner*innen. In Skandinavien sind es etwa 60. Die amerikanischen Haftstrafen sind um einiges länger als in Europa.
Über 80 Prozent der Gefangenen in den Vereinigten Staaten gehören zu jenen Gesellschaftsschichten, die systematisch benachteiligt und diskriminiert werden: Schwarze, Arbeitslose, Süchtige, Menschen aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten. Viele sitzen im Knast, weil sie sich schlicht und einfach keinen Rechtsbeistand leisten können. Diese Missstände prangert Menschenrechtsaktivistin Ruth Wilson Gilmore an und geht sogar so weit, zu fordern, Gefängnisse gänzlich abzuschaffen. In ihrem Manifest „Sind Gefängnisse notwendig?“ plädiert sie dafür, Strafe neu zu denken. „Wenn sieben von zehn Haftentlassenen wieder kriminell werden, dann sind Gefängnisse pure Geldverschwendung“, sagt sie. Resozialisierung funktioniere nicht, denn das Konzept setze voraus, dass Menschen vor ihrer Tat in die Gesellschaft integriert waren.
Das sei aber nicht der Fall: Wer im Gefängnis landet, ist allzu oft schon vor dem Verbrechen durch alle sozialen Netze geschlittert. Anstatt in den Bau neuer Gefängnisse, müsse in die Gemeinschaft, in Bildung, in Gesundheit, in das Sozialsystem investiert werden. Parallelen lassen sich auch zur Situation in Italien ziehen, das zeigt vor allem eines: Auch wenn das Angebot dürftig und die Mittel und Strukturen für eine adäquate individuelle Betreuung alles andere als ausreichend sind, so ist das Gefängnis für einige Menschen dennoch oft der erste Ort und die erste Möglichkeit, Hilfe anzunehmen, sich ernsthaft mit dem eigenen Leben, mit persönlichen Fähigkeiten und Perspektiven auseinanderzusetzen. Einige können dies als Chance nutzen und tatsächlich etwas für sich zum Besseren wenden. Was wäre also, wenn mehr Menschen diese Möglichkeiten schon gehabt hätten, bevor sie straftätig wurden? Ob Mouze C. dann womöglich nie kriminell geworden wäre, darüber lässt sich nur spekulieren. Er ist heute jedenfalls froh, nicht mehr hinter Gittern zu sitzen und will seine verbleibende Strafe nutzen, um sein Leben auf die Reihe zu kriegen. „Alles, was ich jetzt noch brauche, ist eine Chance!“ sagt er mit gebrochener Stimme und ein bisschen zu sich selbst. Dann liegt es allein an ihm, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nie mehr ein Gefängnis zu betreten.
Von Lisa Frei und Alessio Giordano
Der Artikel ist erstmals in der 58. Ausgabe (September 2020) der Straßenzeitung zebra. erschienen.
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