Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Wir sind Corona-müde. Viele können die Wörter „Corona“ oder „Pandemie“ schon gar nicht mehr hören. Den meisten von uns haben die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung einiges an Bereitschaft zu Solidarität und Selbstbeschränkung abverlangt. Seitens der Politik wurde massiv in die verfassungsrechtlich garantierten persönlichen Grund- und Freiheitsrechte eingegriffen. Von Anfang an wurde die Frage nach der rechtlichen wie auch ethischen Legitimation dieser Maßnahmen intensiv diskutiert.
In unserer Gesellschaft, in der Freiheit als Merkmal der modernen Kultur gilt, mussten und müssen wir lernen, die Balance zwischen individuellen Grund- und Freiheitsrechten und dem Gemeinwohl, zwischen individuellen Ansprüchen und sozialer Verantwortung zu finden. Die gesellschaftlichen Diskussionen zum Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Einschränkung von Freiheits- und Grundrechten sowie zwischen individuellem und Gemeinwohl betreffen jedoch nicht nur die Bürger- und Menschenrechte, sondern rühren an das grundsätzliche Verständnis der Freiheit als solcher und letztlich der Menschenwürde. Es stellt sich also die Frage, welches Menschenbild wir haben. Können wir uns überhaupt auf ein gemeinsames Menschenbild verständigen, um es unserer gesellschaftlichen Ordnung und der Gestaltung unseres politischen, sozialen und kulturellen Zusammenlebens zugrunde zu legen?
Was ist Freiheit? Ein lebensweltlicher Zugang
Was ist Freiheit? Die Literatur über diese Frage füllt nicht nur Bände, sondern Bibliotheken. Sind wir überhaupt frei oder ist Freiheit lediglich eine Illusion?
Das Freiheitsideal ist ein Merkmal der modernen Gesellschaften. Es meint das Streben nach einer selbstbestimmten, von vorgegebenen Normen und äußeren wie inneren Zwängen befreiten Lebensführung. Der einzelne Mensch, das sittliche Subjekt wird als die letzte Instanz seines Handelns und Entscheidens angesehen. Daraus kann eine Haltung von Subjektivismus erwachsen, wonach jeder und jede für sich verantwortlich ist und die persönlichen Entscheidungen eine nicht mehr hintergehbare und letztlich auch nicht mehr hinterfragbare Autorität darstellen, insofern das ausschlaggebende Kriterium gerade nicht mehr allgemein verbindliche, (in der Sprache der Moral würden wir sagen) objektive sittliche Normen und moralische Prinzipien sind, sondern allein das Faktum, dass jemand genau diese und keine andere Entscheidung getroffen hat und dies als Ausdruck seiner bzw. ihrer Freiheitsverwirklichung zu respektieren ist.
Doch nicht nur von außen, auch von innen erfährt der Mensch, dass seiner Freiheit Grenzen gesetzt sind.
Doch diesem Freiheitspathos stehen alltägliche und vielfältige Erfahrungen gegenüber, dass unsere Freiheit durch viele Faktoren eingeschränkt ist. Zunächst einfach dadurch, dass wir gewisse Vermögen nicht haben. Was wir nicht können, was uns als konkrete Möglichkeit nicht zur Verfügung steht, dazu sind wir nicht frei. Ebenso sind wir in unserem Handeln geprägt von vielerlei Einflüssen, von denen wir uns nie gänzlich lösen können, etwa von unserer Erziehung oder soziokulturellen Prägung. Selbst wenn wir zu ihnen ein kritisch-distanziertes Verhältnis einnehmen können, ja sogar müssen, prägen sie uns bleibend. Ebenso setzen der soziale, politische und kulturelle Kontext, in dem wir leben, die Erwartungshaltungen anderer usw. unserer Freiheit Grenzen bzw. konditionieren sie zumindest in einem bestimmten Maß.
Doch nicht nur von außen, auch von innen erfährt der Mensch, dass seiner Freiheit Grenzen gesetzt sind. Das können psychische Ängste oder Zwänge sein, die uns daran hindern, das zu tun, was wir eigentlich tun wollen. Oder aber wir sind uns gar nicht bewusst, warum wir das, was wir tun, tun. Sigmund Freud hat seine Erkenntnis, dass der Mensch in seinem Handeln und Entscheiden stärker als von seinem Bewusstsein von unbewussten Aspekten wie etwa seinen Trieben oder von verinnerlichter Fremdbestimmung durch Internalisierung von äußeren Autoritäten bestimmt wird, als eine „Kränkung der Menschheit“ bezeichnet. Bilden wir uns die Freiheit also nur ein, während wir eigentlich von unbewussten Vorgängen gesteuert sind? Oder gehorchen wir nur unseren Neuronen, die uns meinen lassen, dass wir frei handeln?
Ende der 1970er Jahre hat Benjamin Libet in einem Experiment nachgewiesen, dass neurologisch das motorische Zentrum des Gehirns aktiv wird, und zwar Millisekunden bevor der Proband die bewusste Entscheidung zur Ausführung einer Bewegung trifft. Ist die vermeintlich freie Willensentscheidung also lediglich eine kausale Folge neurologischer Prozesse? Zwar hat man in nachfolgenden Experimenten aufgezeigt, dass die Sache nicht so einfach ist, sondern dass das neurologische Aktivitätspotential durch vorgängige Entscheidungen aufgebaut wird und dass eine Bewegung trotz des aktivierten motorischen Zentrums unterbunden werden kann. Dass zwischen mentalen Vorgängen wie Bewusstsein und freier Willensäußerung und ihren neurologischen und physiologischen Grundlagen ein unlösbarer Zusammenhang besteht, ist unbestritten.
Wir können Freiheit nie in einem absoluten und unbedingten Maß verwirklichen, sondern nur begrenzt und bedingt.
Dass Freud mit dem Hinweis auf die unbewussten Anteile des bewussten menschlichen Handelns zutreffende Aspekte benennt, ist kaum zu leugnen. In unserem Verständnis von Freiheit müssen wir diese Aspekte also berücksichtigen, denn sie zeigen uns, dass wir Freiheit nie in einem absoluten und unbedingten Maß verwirklichen können, sondern nur begrenzt und bedingt.
Dass wir Freiheit aber verwirklichen – wenn auch begrenzt und bedingt –, gehört zu unserem Selbstverständnis als Menschen, d. h. wir können uns nicht selbst verstehen und würden uns wahrscheinlich auch selbst nicht ernst nehmen, würden wir nicht davon ausgehen bzw. es voraussetzen, dass wir – wenn auch bedingt und begrenzt – frei handeln und entscheiden.
Differenzierungen
Die bisherigen Ausführungen helfen uns, einige grundlegende Unterscheidungen einzuführen, die m. E. zur Deutung von Freiheitserfahrung notwendig sind. Auf der physikalischen Ebene können wir von materialer Freiheit sprechen, also von den konkreten Freiheits- und Handlungsmöglichkeiten, die wir haben oder nicht haben. Dazu gehören auch – wie das Libet-Experiment gezeigt hat – die physikalischen Grundlagen und Ursachen mentaler Zustände und Vorgänge. Davon zu unterscheiden ist die Willensfreiheit, die sich innerhalb der Grenzen der materialen Freiheit verwirklicht und die nicht den physikalischen oder neurophysiologischen Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung folgt, sondern ihre eigenen Gründe hat.
In der Regel haben wir das Gefühl, Freiheit dann zu verwirklichen, wenn wir nicht nur einem Impuls folgen, sondern uns bewusst für etwas entscheiden – aus welchen Gründen auch immer. Aber diese Gründe lassen sich nicht ausschließlich durch ursächliche Faktoren wie Erziehung, Bildung oder Sozialisation erklären. Es sind ganz persönliche Beweggründe und Motivationen, die uns antreiben.
Handlungstheoretisch differenzieren wir in Bezug auf die Willensfreiheit die Ebene der Motivation und jene der Intention. Die Motivation sind Beweggründe, die uns drängen, so und nicht anders zu handeln. In der Regel sind es verinnerlichte Werte, die auch charakterbildend wirken und in uns Grundhaltungen ausformen, d. h. bleibende Einstellungen und Neigungen, die unsere Lebensgestaltung prägen. Die Verinnerlichung von Werten ist ebenso wie die Ausbildung von charakterlichen Eigenschaften ein komplexer Prozess, bei dem Erziehung, Bildung, Sozialisation usw., also fremdbestimmte Faktoren, ebenso eine Rolle spielen wie psychische Dispositionen, lebensweltliche Erfahrungen und schließlich persönliche Sinneinsichten und freie Entscheidungen.
Der biographische Reifungsprozess verläuft in der Regel von der Heteronomie zur Autonomie, d. h., dass ich mich als erwachsener Mensch zwar nicht von den fremdbestimmte Anteilen gleichsam völlig lösen kann, weil ich durch sie geprägt wurde und bleibe, dass ich dazu aber eine kritisch reflektierte Distanz einnehme – d. h., dass ich sie kritisch hinterfrage und bewusst annehmen bzw. mir zu eigen machen kann – oder aber dass ich mich davon emanzipiere und sie ablehnen kann, etwa weil ich sie für falsch erachte. Diese Entscheidung ist eine unausweichliche und stellt im Leben eines jeden Menschen eine Herausforderung dar, die es im Prozess des Erwachsenwerdens zu bewältigen gilt.
Selbst wenn sich jemand dieser Herausforderung nicht stellt, muss er dafür die Verantwortung tragen. In der Regel nehmen die meisten Menschen diesen moralischen Reifungsprozess aber in Angriff. Wir handeln so und nicht anders, weil wir uns bestimmte Werte zu eigen gemacht haben, nicht weil man sie uns aufnötigt oder weil man das so macht bzw. weil es sich halt so gehört, sondern weil wir persönlich von etwas überzeugt sind, etwas für richtig und sinnvoll halten.
Etwas zugespitzt könnten wir sagen, dass wir im Lauf unserer Entwicklung die moralische Unschuld verlieren.
Die zweite Ebene ist die intentionale, die auf das Ziel meines Handelns gerichtet ist. In der Regel handle ich mit einer Intention: Ich will etwas erreichen, ich will etwas verwirklichen. Handeln ist nie zweckfrei, wobei selbst die vermeintliche Zweckfreiheit von Handeln intentional verwirklicht werden kann. Z. B. die Kunst als Mittel der Selbstverwirklichung oder des Selbstausdrucks oder Urlaub mit dem Ziel der Erholung. Unser Handeln und Unterlassen hat – ob wir wollen oder nicht – Konsequenzen und ab einem gewissen Alter haben wir dafür einzustehen – ob wir wollen oder nicht. Etwas zugespitzt könnten wir sagen, dass wir im Lauf unserer Entwicklung die moralische Unschuld verlieren.
Ein Kleinkind, das beim unkoordinierten Strampeln auf dem Wickeltisch eine Vase auf den Boden wirft, werden wir dafür nicht zur Verantwortung ziehen. Bei einem dreijährigen Kind, das bei einem Wutanfall die Vase zerbricht, werden die Eltern anders reagieren, und ein Erwachsener, der mutwillig Eigentum Dritter zerstört, kann auch juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Der biographische Verlust der moralischen Unschuld hat mit dieser unhintergehbaren Verantwortung zu tun, die in dem Maße wächst, in dem wir unsere Befähigung zur Freiheit entfalten und leben, d. h., in dem Maß, in dem wir weniger impulsiv oder triebgesteuert handeln und unabhängiger von sozialen Aspekten wie Belohnung und Anerkennung bzw. Bestrafung und Ächtung.
Wir handeln also, weil wir ein Ziel verfolgen und etwas verwirklichen wollen, sei es, indem wir Werte umsetzen, sei es, indem wir Interessen verfolgen. Jedenfalls halten wir etwas für erstrebenswert und für sinnvoll. Da wir für die Folgen unseres Handelns verantwortlich sind, stellt sich immer auch die Frage, wie sich eine Handlung nicht nur auf mich selbst, sondern auch auf andere auswirkt und ob auch diese Auswirkungen meines Handelns auf andere erstrebenswert und sinnvoll sind. Im Besonderen bei der Verfolgung eigener Interessen stellt sich somit die Aufgabe, meine Interessen mit jenen der anderen abzuwägen und in der Verfolgung der eigenen Interessen darauf zu achten, dass ich dies nicht auf Kosten der Interessen anderer tue.
Die Goldene Regel
Genau dies ist die Kernaussage der Goldenen Regel, die sich in unterschiedlichen Formulierungen in allen Religionen und Kulturen wiederfindet. Es handelt sich dabei um einen einfachen Grundsatz der praktischen Ethik, positiv formuliert: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“, negativ formuliert: „Was du nicht willst, das man dir zufügt, das füge auch einem anderen nicht zu“.
Die Goldene Regel, die weniger aus der systematischen ethischen Reflexion über das sittliche Handeln erwachsen ist, sondern vielmehr eine verdichtete und bewährte Lebenserfahrung von vielen Generationen in unterschiedlichen Kulturen und Epochen darstellt, enthält zwei wesentliche Aspekte: Der erste ist jener der Reziprozität. Individuelle Interaktionen, Kooperation und soziales Zusammenleben funktionieren am verlässlichsten unter der Bedingung einer empathischen Wechselseitigkeit, in der die einzelnen Individuen bereit sind, nicht nur eigene Interesse zu verfolgen, sondern das Interesse des je Anderen zumindest mit zu berücksichtigen – und sei es lediglich in dem Sinn, dass ich ihm ebenso zugestehe, seine Interessen zu verfolgen, wie ich mir von ihm erwarte, dass er mir die Verfolgung meiner Interessen zugesteht.
„Was du nicht willst, das man dir zufügt, das füge auch einem anderen nicht zu“.
Bei der Bereitschaft um Abwägung von eigenen mit den Interessen Dritter geht es um wechselseitige Verlässlichkeit und Berechenbarkeit als stabile Basis für längerfristige Kooperation und möglichst konfliktfreie Koexistenz. Das beinhaltet einen zweiten Aspekt, nämlich den der Parität, d. h., dass ich bereit bin, die Interessen des Anderen als gleichwertig mit den meinen anzuerkennen und eigene Interessen in dem Maß einzugrenzen, in dem sie zu Lasten der Interessen des Anderen gehen.
Damit sind aber für die moralische Qualität einer Handlung nicht mehr die eigenen Interessen ausschlaggebend, sondern moralische Prinzipien, die mich bei der Verfolgung meiner Interessen bzw. bei meinem Handeln leiten, wie – im Falle der Goldenen Regel – die Anerkennung der Parität des Anderen, der Respekt vor der Freiheit seines Handelns und die eigene Verlässlichkeit in empathischer Wechselseitigkeit. Das bedeutet nicht, dass ich nicht eigene Interessen verfolgen darf, aber der Zweck heiligt nicht die Mittel.
Aus ethischer Perspektive ist die Frage jene, ob – erstens – das Interesse, das ich verfolge, gerechtfertigt und objektiv etwas Erstrebenswertes ist und ob – zweitens – die Mittel, wie ich mein Ziel erreichen möchte, den ethischen Grundkriterien des Respekts vor dem Anderen und der Gleichwertigkeit der Menschen und ihrer Würde, besonders jener, die von meinem Handeln mit betroffen sind, gerecht werden.
Text: Martin M. Lintner
Dieser Text ist Teil einer Trilogie zum Thema “Freiheit und Ethik”. In den nächsten Tagen folgen Teil zwei und drei.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support