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Als Klaus Widmann 2004 die Idee hatte, ein Jazzkonzert auf Schloss Sigmundskron zu veranstalten – damals wurde es gerade von Reinhold Messner zum Museum umgebaut – nahmen ihn die wenigsten ernst: “Spinnsch, do kimmp jo koan Mensch”, so die Reaktionen. An den Abend des Jazzkonzerts erinnert sich Widmann gut: “Ich stand auf dem Turm und sah die Autos kommen: Der Parkplatz war voll, die ganze Straße nach Girlan zugeparkt. Die Leute haben alle eine Multa bekommen”, sagt der heutige Präsident des Südtirol Jazzfestivals schmunzelnd. Am Ende besuchten 1.500 Leute das Event; gerechnet wurde mit maximal 400. Das Ergebnis: In den Parkour-Gängen auf dem Schlossgelände, die künstlerisch gestaltet und von Jazzmusik begleitet wurden, kam es zu Stau, manche Leute kriegten Panik. “Der Reinhold hat gesehen, wie einige Fittere die Schlosswände hochkletterten, da ist er ihnen nach”, lacht Widmann.
Der Abend gehört für Widmann zu den Highlights in der Geschichte des Südtirol Jazzfestivals. “Das war ein fichischer Abend. Brutal geil!” schwärmt er, der als Arzt Patienten heilt, aber auch bei der Wiederbelebung der Kulturszene in Südtirol mitgewirkt hat. Denn das Event in Sigmundskron hob das Jazzfestival von einer Nischenveranstaltung zu einer kulturellen Institution in Südtirol.
Das erste Jazzfestival, damals noch ein einzelnes Konzert, findet 1982 statt. Gründer Nicola Ciardi, Jazzliebhaber, will Südtirol kulturell aufmischen – Festivals gibt es zu der Zeit im Lande kaum – und erhält dafür von der Gemeinde Bozen ein Budget. 1983 findet das Festival bereits in größerer Form statt. Es ist auch das Jahr, als der junge Arzt Widmann aus Wien zurück nach Bozen kommt und bei einem Hausbesuch Jazzplatten in der Wohnung seines Patienten entdeckt. Für den Jazzfan, der die Rückkehr in die Heimat wie einen Rückschritt in seinen kulturellen Ansprüchen erlebt, ist das ein erfreulicher Anblick. Als er von dem Jazzfestival erfährt, das gerade geplant wird, steigt er schnell ins Team mit ein.
In den 90er Jahren wird das Festival finanziell wenig unterstützt und verliert an Bekanntheit. “Das fand ich schade”, sagt Widmann, der es daraufhin raus aus Bozen und ins ganze Land bringt, in die kleinen Gemeinden fährt, mit Bürgermeistern und Unternehmern spricht, Sponsoren auftreibt. “Ich wollte das Jazzfestival mit einem neuen Konzept wieder lebendig machen.”
Seit 2004 ist Widmann ehrenamtlich Präsident des Festivals und schafft es, jedes Jahr rund 500.000 Euro für das Event aufzutreiben. Auch besondere Veranstaltungsorte findet er jedes Jahr aufs Neue: So wird in Alm-Stadeln gespielt, in Museen, auf Seen, und in abgelegenen Klostergärten. Doch Widmann hat die Grenzen des Machbaren immer herausgefordert.
Zu den verrücktesten Ideen des begeisterten Bergsteigers gehört das Konzert in der Felswand des Saslong. Drei belgische Musiker, die ebenso Bergsteiger sind, begleiten eine Erstbesteigung mit ihren Instrumenten, ein Slackliner mikrofoniert das Ganze. “Es hat wahnsinnig geregnet an dem Abend, man wusste nicht, wird man gleich vom Blitz erschlagen”, erzählt Widmann, “und am Tag zuvor war an der Stelle ein Kriegsbombe gefunden worden.“
Die Carabinieri wollen das Event verbieten, doch das Team vom Jazzfestival lässt sich nicht beirren. „Der Hüttenwirt hat daraufhin einfach die Bombe in seinen Jeep reingepackt und ist damit davongefahren. Dann hatte sich die Sache erledigt.” Widmann lacht oft bei Erinnerungen an die verrückten Anfänge.
Der Mann neben ihm, zwei Generationen jünger, hackt bei der Anekdote des Saslong-Konzerts ein: “Das war übrigens mein erstes Jahr beim Festival”, sagt Max von Pretz, damaliger Praktikant. Sein Gesicht drückt heute noch Verwunderung darüber aus, dass ihn der Einstieg nicht abschreckte und er stattdessen sein Studium schmiss, um fortan die Organisation des Jazzfestivals zu übernehmen – ein Vollzeit-Job, für den nicht jeder gemacht ist, gibt Widmann zu: „Ich mache meine Mitarbeiter verrückt.” Während Widmann das Herz des Jazzfestivals bildet, ist von Pretz zur rechten und linken Hand geworden, mit einer organisiert er das Mega-Event, mit der andern muss er Widmann „ab und zu bremsen“, wie er lächelnd sagt.
Heute ist Südtirol kulturell reicher, doch bleibt das Jazzfestival in der regionalen Kulturlandschaft eine exotische Oase, erzählt von Pretz: “Wir machen hauptsächlich zeitgenössischen, experimentellen Jazz, und da ist die Szene in Südtirol eher überschaubar.“
Zum Konzept des Festivals gehören nicht nur die außergewöhnlichen Orte, verteilt in allen Höhenlagen Südtirols, sondern auch außergewöhnliche Künstler und neue Musik. Bei jeder Ausgabe werden Vertreter der jungen Jazz-Szene aus einer bestimmten Ländergruppe Europas eingeladen – in den letzten Jahren waren es mal junge Musikerinnen und Musiker aus den Benelux-Ländern, mal aus der iberischen Halbinsel – die international noch nicht etabliert sind, dafür umso authentischere Nischenmusik bieten können. „So entdeckst du tolle Sachen, die keine Sau kennt“, begeistert sich Widmann.
Gerade Europa habe heute viel zu bieten, sagt Widmann, weil der Kontinent vielfältiger geworden sei als Amerika, wo die Jazzmusik gerade in der Multikulturalität entstanden ist. „Das hat die Musik wahnsinnig bereichert.“
Der Fokus des diesjährigen Festivals, das noch bis zum 4. Juli läuft, liegt bei Ländern Süd-Ost-Europas – unter anderem kommen Künstler aus Ungarn, Österreich, Serbien und der Ukraine nach Südtirol.
Die Anzahl der Locations ist dieses Jahr zwar beschränkt; dennoch schafft es das Jazzfestival, aus einem der Haupt-Veranstaltungsorte für dieses Jahr, dem Kapuzinerpark in Bozen, etwas Besonderes zu zaubern und gestaltet den Klostergarten in der Altstadt zum „Kapucircus“ um: Weder das kitschig-märchenhafte Zirkuskarussell fehlt in der Kulisse noch die Getränkebuden, Artisten-Wagons und ein Zirkuszelt.
Betritt man das liebevoll gestaltete Festivalgelände am Kapuzinerpark, ist nichts sichtbar von den Zweifeln, die kurz vor Beginn der diesjährigen 39. Ausgabe die Macher plagten: “Bis vor kurzem wussten wir nicht: findet es statt oder nicht, in welcher Form? Man tut sich fast schwer, in den Flow zu kommen, den man sonst hat,” sagt Widmann. Seine Erwartungen habe er daher etwas zurück gefahren, um am Ende nicht enttäuscht zu sein.
Auch bei den Musikern merkt man davon nichts, im Gegenteil: Sie versinken in ihren Instrumenten mit einer Inbrunst, mit der man am Cheat-Day während einer Diät in ein Stück Kuchen beißt. „Das ist unser erstes Konzert seit Dezember 2019“, ruft die Sängerin der Band „Fatima Spar and the Freedom Fries“ erfreut ins Publikum.
Genauso ausgehungert wirkt auch das Publikum. Nach dem Auftritt lächeln die Zuschauer beseelt; begeisterte Kinderaugen starren sogar aus sechzigjährigen Zuschauern auf die Bühne. Zwar merkt man: Die Leute sind mit der Zeit etwas aus dem Rhythmus gekommen, ein versuchtes Klatschen im Takt misslingt. Doch schnell findet das Publikum wieder sein Gleichgewicht und schafft es, mit einem rhythmischen Klatschen eine Zugabe zu ergattern. Am Ende sind Konzertbesuche wie Fahrrad fahren: man verlernt es nie ganz.
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