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Eigentlich hätte der Sommerurlaub ihn entspannen sollen. Michael Guggenberger hatte sich vom Burnout erholt, seinen alten Job hinter sich gelassen, und neue Prioritäten im Leben gesetzt. Stolz auf die Errungenschaften der letzten Jahre, fuhr er im Juni 2018 mit seiner Frau auf den Campingplatz bei Jesolo, den die beiden jedes Jahr besuchen. Doch von einem Tag auf den anderen wurde alles anders: „Ich lag abends im Bett und merkte plötzlich, wie beide Beine unruhig wurden,“ erinnert sich Michael an die Nacht im Campingplatz, als er zum ersten Mal die Symptome spürt, die ihn von da an jede Nacht begleiten werden: „Es hat gekribbelt, es hat gerissen. So, als hätte ich überall Ameisen.“
„Es hat gekribbelt, es hat gerissen. So, als hätte ich überall Ameisen.“
Was nach einem harmlosen Kitzeln in den Beinen klingt, ist eine chronische, neurologische Krankheit, bekannt als Restless-Legs-Syndrom – kurz RLS –, erklärt die Neurologin Susanne Büchner. Sie leitet die Parkinson-Ambulanz am Krankenhaus Bozen und ist Expertin für Bewegungsstörungen. Zu ihr in die Ambulanz kommen jene Patienten, die besonders starke Symptome verspüren, und dadurch nachts kaum schlafen können. RLS erzeugt eine Unruhe in den Beinen, die Betroffene zwingt, sich zu bewegen. Das erschwert nicht nur das Einschlafen, schildert Büchner, sondern jegliche Bewegung, die längeres Sitzen oder Liegen erfordert:„Theaterbesuche und lange Reisen im Zug oder Flugzeug sind eine Qual für diese Menschen.“
Schwere Ausprägungen, wie die von Michael, sind selten. Meist verläuft RLS mild. Das führt dazu, dass RLS kaum jemand kennt, obwohl das Syndrom der Unruhigen Beine zu den häufigsten neurologischen Krankheiten gehört und rund 10 Prozent der Bevölkerung davon betroffen ist, erzählt Büchner: „Die meisten Betroffenen haben nur leichte Symptome. Diese gehen oft gar nicht zum Arzt. Und wenn, dann meistens wegen der Schlafprobleme, und erzählen oft gar nicht von den unruhigen Beinen.”
Das macht es für Leute wie Michael schwer, eine geeignete Therapie zu finden. Erst fünf Monate nach den ersten Symptomen, und nach etlichen Untersuchungen bei seiner Hausärztin, kommt Michael zu einem Neurologen, von dem er die Diagnose RLS erhält. Das ist auch der Grund, warum Michael öffentlich über seine Erkrankung sprechen möchte: „Mir ist es wichtig, dass RLS bekannt wird, damit Leute, die Symptome wie Kitzeln in den Beinen verspüren, schneller zum Neurologen gehen, anstatt es lange zu erleiden.“
Die Ursachen für RLS sind nicht vollständig bekannt, da beim RLS keine eindeutigen strukturellen Veränderungen des zentralen Nervensystems vorhanden sind, erklärt Neurologin Büchner. „Man geht aber von einer Veränderung im Dopamin-Haushalt aus,“ so Büchner. Beim sogenannten primären RLS werden daher oft Medikamente verschrieben, welche die Wirkung des Botenstoffs Dopamin nachahmen. Zu unterscheiden ist diese primäre Form vom sekundären RLS, „also Formen von RLS, denen eine andere Erkrankung zu Grunde liegt, wie Polyneuropathie, Eisenmangel oder eine Nierenerkrankung,“ so Büchner. Auch wer Parkinson hat, leidet häufig unter sekundärem RLS, ein Drittel der Frauen verspüren während ihrer Schwangerschaft die unruhigen Beine und auch Medikamente können ein sekundäres RLS auslösen. Bei Michael waren es die Medikamente, die er seit seinem Burnout einnimmt.
Südtirols Täler sind für solche Studien laut Pichler geeigneter als große Städte, weil die Bevölkerung homogener ist.
Doch auch das Erbgut hängt mit RLS zusammen: „Derzeit geht man davon aus, dass bei mehr als der Hälfte der Erkrankten genetische Faktoren eine Rolle spielen,“ erklärt Forscherin Irene Pichler vom Institut für Biomedizin der EURAC. „Daher sind oft mehrere Personen einer Familie von der Erkrankung betroffen.“ Das Forscherteam der EURAC konnte Stammbäume im Vinschgau identifizieren, in denen mehrere Familienmitglieder an RLS leiden, und entdeckte einen der weltweit ersten Genorte für RLS, also eine Region im menschlichen Erbgut, die mit der Erkrankung in Verbindung steht. „Das spezifische Gen, das ursächlich für die Erkrankung ist, ist allerdings noch nicht bekannt,“ fügt Pichler hinzu.
Die RLS-Forschung wird im Rahmen von CHRIS durchgeführt, einer Langzeitstudie der EURAC gemeinsam mit dem Sanitätsbetrieb an über 13.000 Menschen aus dem Vinschgau. Das Ziel: Verstehen, wie sich Lebensstil, Umwelt und genetische Veranlagung auf unsere Gesundheit auswirken und auf die Entstehung von Krankheiten. Südtirols Täler sind für solche Studien laut Pichler geeigneter als große Städte, weil die Bevölkerung homogener ist. „Bei uns kann man Stammbäume viel besser rekonstruieren, weil Familien eher zusammenbleiben,“ so die Forscherin. Mit der Studie könne die EURAC einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Ursachen von Krankheiten auf molekularer Ebene besser zu verstehen und damit bessere Strategien zur Behandlung von komplexen Krankheiten, wie RLS, zu entwickeln.
Seit Michael eine medikamentöse Therapie am Bozner Krankenhaus begonnen hat, spürt er eine Erleichterung in den Beinen: „Meine Füße sind jetzt entspannter. Was die Schmerzen angeht, werden die mit Steigerung der Dosis besser,“ erzählt er.
Aber nicht alle Ärztinnen sind vom schulmedizinischen Ansatz überzeugt. So verschreibt Elisabetta Camporese, Ärztin für Neuro-Endokrinologie in Padua seit Jahren medizinisches Cannabis an ihre Patienten, darunter auch jene mit RLS: „Oft kommt es mir gar nicht in den Sinn, andere Medikamente einzusetzen. Außer es handelt sich um außergewöhnliche Fälle,“ erzählt sie in einem Vortrag, der vom Cannabis Social Club organisiert wurde. Der Verein informiert Patienten über die Therapiemöglichkeiten von Cannabis und will einen verstärkten Einsatz dieser pflanzlichen Medizin im Gesundheitssystem fördern, auch in der Neurologie.
Camporese kritisiert, dass herkömmliche Medikamente das Risiko enthalten, eine Toleranz oder Abhängigkeit dafür zu entwickeln und nur die Symptome, nicht aber die Ursache von RLS bekämpfen. Sie führten außerdem zu beachtlichen Nebenwirkungen. Laut Büchner sind Nebenwirkungen zwar vorhanden, jedoch selten, da die Dosierung meist gering gehalten wird. „Es gilt das Prinzip: niedrig anzufangen und immer die niedrigste wirksame Dosis beizubehalten.“ Auch Michael sagt, die Nebenwirkungen halten sich in Grenzen, das Schwindelgefühl lasse meist eine Woche nach Erhöhung der Dosis nach.
Angesprochen auf die alternative Heilmethode, ist Michael überrascht: „Ich dachte, an Cannabis ist es schwer zu kommen, und wenn, dann nur für Leute, die wirklich schlimme Schmerzen haben, die sozusagen am Schluss stehen, wo gar nichts mehr hilft.“ Er selbst spricht sich für die Möglichkeit von Cannabis-Therapien aus.
Zuallererst sollten Symptome aber einfach durch einen gesunden Lebensstil reduziert werden, bestätigt auch Büchner, denn RLS hängt zusammen mit Bewegungsmangel, schlechter Ernährung und Stress. Keiner weiß das besser als Michael: „Manchmal reichen zwei Reihen Schokolade, und ich merke es sofort an den Beinen. Und wenn mir die Bewegung über mehrere Tage fehlt, dann werden die Symptome deutlich schlechter.“ Nicht nur Zucker, auch Koffein und Alkohol verschlimmern das RLS. Seit Michael das weiß, achtet er stärker auf seine Gesundheit. Wie bei den meisten Zivilisationskrankheiten in westlichen Ländern gilt die Grundregel: Ehre deinen Körper, es ist er einzige Ort, an dem du leben musst.
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