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Ehrlich gesagt wurde es mir manchmal zu viel. Jeden Tag neue Gesichter, das radebrechende Englisch, der stechende Geschmack des selbstgebrauten Alkohols, der akute Schlafmangel. Das soziale Leben der Iraner kann einem reservierten Mitteleuropäer ganz schön zu Leibe rücken. Deshalb wollte ich an diesem Abend, nach sieben aufeinanderfolgenden Nächten verschiedenster Veranstaltungen, Hauspartys und Dinners, eigentlich zuhause bleiben, endlich zu einer Uhrzeit ins Bett kommen, die in den Augen meiner Großeltern noch als sittlich gegolten hätte. Doch das Versprechen war zu verlockend, um zu widerstehen.
Heute sollte ich in Teheran, der Hauptstadt der islamischen Republik Iran, Alkohol zu trinken bekommen. Ich sollte Frauen singen und tanzen sehen, ohne Kopftuch. Und das alles nicht nur auf einer privaten Party, wie üblich, sondern in der Öffentlichkeit, in einem echten Nachtlokal.
Zur Erinnerung: Frauen, die sich im Iran dem Kopftuch verweigern, oder gar öffentlich tanzen und singen, werden nach den Scharia-Gesetzen als „Bedrohung für die moralische Sicherheit“ unverzüglich verhaftet. Noch schlimmer ergeht es den Trinkern. Nach Artikel 265 des iranischen Strafgesetzbuchs kann der Körper eines alkoholgenießenden Frevlers mit bis zu 80 Peitschenhieben zerfetzt werden. Bei Wiederholung droht die Todesstrafe.
Das hält die meisten Iraner freilich nicht davon ab, ihren Alkohol selbst zu brauen. Das Resultat ist ein hochprozentiges Serum mit dem bezeichnenden Namen Aragh-Sagi, auf Deutsch: Hundeschweiß. Sehr ungewöhnlich und geradezu todesmutig ist es aber, Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken. Umso neugieriger war ich, diesen Ort des subversiven Hedonismus kennenzulernen.
Auf den Straßen hängen Schilder mit der Aufschrift „Teheran, a city for everyone“. Jeder soll hier seinen Platz finden. Die Wahrheit ist, dass diese Plätze sorgfältig voneinander getrennt sind.
Die Person, die mir die Tore zum Teheraner Nachtleben eröffnet, ist Afarin, 24 Jahre alt, die „kleine“ Schwester meiner iranischen Partnerin. Als Kind wohlhabender Eltern fiel sie der orientalischen Unsitte, den eigenen Kindern keinen materiellen Wunsch zu versagen, zum Opfer. Sie studiert in Teheran Betriebswirtschaft, nutzt das Studium aber eher als Alibi, um mit dem elterlichen Taschengeld ein exzentrisches Partyleben zu finanzieren, lebt allein in einer 100-Quadratmeter-Wohnung im reichen Nordosten der Stadt und nutzt diese als komfortables Base Camp für ihre nächtlichen Streifzüge.
Teheran ist eine geteilte Stadt. Auf den Straßen hängen Schilder mit der Aufschrift „Teheran, a city for everyone“. Jeder soll hier seinen Platz finden. Die Wahrheit ist, dass diese Plätze sorgfältig voneinander getrennt sind, die Menschen leben in unterschiedlichen Welten. Im Süden hausen auch vierzig Jahre nach der islamischen Revolution noch die „Mustazafin“, Irans darbende Arbeiter- und Arbeitslosenklasse. Sie waren einst die treibende Kraft der Revolution gewesen, angestachelt vom Groll gegen den Schah mit seinen verschwenderischen Selbstinszenierungen und von der Aussicht auf den ewigen Lohn des Allmächtigen.
Ihr Leben änderte sich nach der Revolution vor allem in dem Punkt, dass ihre Hoffnung auf das Jenseits nun endlich auch von den Machthabern offiziell bestärkt wurde, die irdischen Lebensverhältnisse blieben jedoch weiterhin prekär. Ganz anders der Norden der Stadt: Hier ragen zwischen grünen Alleen und umgeben von diskreten Mauern prächtige Herrschaftshäuser mit neoklassischen Fassaden, das Straßenbild ist geprägt von protzigen SUVs und teuer gekleideten Menschen.
In einem solchen Viertel liegt auch das Einkaufszentrum, das ein Lokal mit dem bescheidenen Namen „Kaspian Café“ beherbergt. Im Gebäude selbst ist es dunkel, der ganze Komplex wirkt geschlossen. „Sind wir hier richtig?“ fragt jemand aus der Runde. Dann findet Afarin doch das richtige Türschild, klingelt und wie ein „Sesam, öffne dich“ springt die Eingangstür zur finsteren Gebäudehalle auf. Ab jetzt folgen wir nur noch den Klängen, die aus dem zweiten Stock dringen.
Es fehlte wirklich nur das Password. Die versteckte Lage und der Zugang für Eingeweihte erinnerten mich unweigerlich an amerikanische Filme über die Prohibition, als verschlagene Genussmenschen in den Speakeasys der New Yorker Kellergeschosse und Hinterhöfe ihren Durst stillten.
„Pur oder mit Energydrink?“ Ali, der mit seinem eingesteckten weißen Hemd und den gutmütigen Pausbacken ganz und gar nicht wie ein Draufgänger wirkt, gibt die erste Runde Shots aus, den Maulbeerschnaps hat er selbst mitgebracht. „Ich kenne den Besitzer hier, der ist ganz entspannt. Will einfach nur, dass die Leute Spaß haben. Da drüben steht er.“ Ein untersetzter Mann in den 50ern – vielleicht auch älter, die Botox-gespritzten Gesichtszüge lassen es nicht mehr genau erkennen – lehnt an einer Säule und nickt uns zu. Dann schickt er uns den Kellner, der sich mit seinen femininen Gesten und geschminktem Gesicht offen als queer zu erkennen gibt.
„Bin ich hier wirklich im Iran?“, frage ich Afarin. „Dadash – Bruder!“ antwortet sie, „das hier ist der echte Iran, der freie Iran.“ Im Hintergrund spielt eine Band iranische Partylieder aus Schah-Zeiten, unter anderem die Lieder verbotener Sängerinnen, und es dauert nicht lange, bis die ersten Gäste sich von ihren Tischen erheben und in der Mitte des Saals zu tanzen beginnen. Es ist ein Querschnitt der Gesellschaft im Teheraner Nordens: elegante Paare im Seniorenalter, nerdige Maschinenbaustudenten und geschminkte Lebefrauen, die den obligatorischen Hijab an ihrem Tisch liegenlassen. Nur eins sind diese Menschen ganz sicher nicht, denke ich bei diesem Anblick: aufrührerische Regimefeinde. Es sind einfach nur Menschen, die ihren Spaß haben wollen, ganz unpolitisch, wie überall auf der Welt.
„Wir zahlen die Polizei. Und sie lassen uns in Ruhe. So funktioniert es im Iran: Mit Geld kannst du dir alles kaufen, sogar die Freiheit.“
Trotzdem die Frage: Wie sind solche Szenen überhaupt möglich? In einem Land, in dem die Scharia mit erbarmungsloser Gewalt durchgesetzt wird? Ich beschließe, mich mit der Frage direkt an den Barbesitzer zu wenden. Der hat sich inzwischen auf einen hüftschwingenden Tanz mit dem transsexuellen Kellner eingelassen, das Publikum feuert die beiden ekstatisch an: Huh-huuh! Huh-huuh!
„Es ist ganz einfach“, erklärt mir der Besitzer nach seiner gewagten Tanzeinlage, „wir zahlen die Polizei. Und sie lassen uns in Ruhe. So funktioniert es im Iran: Mit Geld kannst du dir alles kaufen, sogar die Freiheit.“ – „Habt ihr nicht Sorge, dass jemand der Gäste etwas konservativer drauf ist und einen Skandal draus macht?“ – „Wir kennen unsere Gäste. Das sind keine Leute, die uns verpetzen. Die meisten Iraner haben gelernt, zu leben und leben zu lassen. Die radikalen Islamisten, die gab es vor 40 Jahren, die brachen noch in die Ausländerhotels ein und zerschlugen Cognac-Flaschen. Heute sind diese Leute fast nur noch unter den Machthabern zu finden.“
Erst die Zurechtweisung durch ein Bandmitglied unterbricht die allgemeine Sorglosigkeit: „Bitte bleibt beim Tanzen in unmittelbarer Nähe zu euren Tischen!“ Die Mahnung ist eine eindringliche Erinnerung an den unbarmherzigen Gottesstaat dort draußen. Für die Musiker steht viel auf dem Spiel. Würde eine nicht bezahlte Polizeieinheit von der Veranstaltung erfahren, trügen sie zusammen mit dem Besitzer die Hauptverantwortung für die antiislamische Ausschweifung. Ihre Instrumente würden konfisziert, es drohten hohe Bußgelder und Haftstrafen. Ein Risiko, das trotz aller Bestechungsgelder eben doch nicht ganz beseitigt werden kann.
Die nächste Station ist die verrauchte Studentenbude eines Drummers namens Aria – ein Freund von Freunden Afarins. Auch Dariusch, ein Gitarrist, der zuvor im Kaspian Café auf der Bühne stand, ist mit von der Partie. Sehr schnell stellt sich heraus, dass das keine Hausparty europäischer Prägung sein wird, in der sich die Anwesenden in heiteren Gesprächen ergehen, während aus einer JBL-Box in einer Wohnzimmerecke entspannte Indie-Klänge tönen. Neben Aria und Dariusch setzen sich noch weitere Musiker mit traditionellen iranischen Saiteninstrumenten in einer Reihe hin, dann wird es unter den Anwesenden – rund 25 Personen – ganz leise. Aria wirft seinen Kopf nach hinten, schließt die Augen, beginnt mit mystischer Geste zu trommeln. Wie ein Regenschauer in der Wüste setzt nun auch das Crescendo der Saiteninstrumente ein. Ein regelrechtes Konzert beginnt.
Wir befinden uns hier im Westen der Stadt, weder im Norden noch im Süden. Die Gäste bilden ein vollkommen anderes Publikum als im Kaspian Café. Keine feine Nord-Teheraner Gesellschaft, sondern Künstler und Intellektuelle, Studierende und arbeitslose Hipster. „Wer im Norden lebt, wird nie in den Süden kommen – und umgekehrt“, erklärt mir Neda, die sich als feministische Journalistin vorstellt. „Aber im Zentrum Teherans kommt alles zusammen, arm und reich, Intellektuelle und Arbeiter.“
Nicht weit von uns liegt die Enghelab Street, die Straße der Revolution, die Teheran in Nord und Süd teilt und wo die Menschenmassen mit hohen Opfern 1979 den Sturz des Schahs errungen hatten. „Hier lesen und diskutieren die Menschen, auf dem Schwarzmarkt – also auf offener Straße – kann man mühelos die Bücher erstehen, die durch die offizielle Zensur verboten sind“, berichtet Neda: „Im Norden kümmern sich die meisten Menschen nur um ihre Villa und darum, dass der SUV jederzeit makellos gebohnert ist. Wenn sich im Iran etwas ändern soll, dann geht der Wandel wieder von hier, aus der Mitte der Gesellschaft, aus. Und es wird unsere Generation sein.“
„Ich muss irgendwie meine Fahne loswerden. Wenn meine Eltern mitbekommen, dass ich Alkohol trinke, ist es vorbei mit den monatlichen Mietzuschüssen.“
Dass etwas im Wandel begriffen ist, zeigt sich in allen Gesprächen. Ein junger, hochgewachsener Mann namens Ali teilt mit mir seine Sorge, dass morgen seine Eltern bei ihm zu Besuch seien. „Ich muss irgendwie meine Fahne loswerden. Wenn meine Eltern mitbekommen, dass ich Alkohol trinke, ist es vorbei mit den monatlichen Mietzuschüssen.“ Über den Ursprung des Wohlstands seiner Familie gibt sich Ali reserviert, aber angesichts ihrer Religiosität beschleicht mich der Verdacht, dass eine gewisse Regimenähe damit zu tun haben könnte.
Ganz anders der Nachwuchs: „Viele Menschen im Iran wollen so offen und frei leben wie jetzt gerade, in diesem Wohnzimmer. Was ist so schlimm daran?“, sagt Ali und zeigt auf die Menschen im Raum. Einmal singen sie lauthals mit, ein paar unverschleierte Frauen tanzen in der Mitte des Zimmers, dann hören alle wieder gebannt der Live-Musik zu. Währenddessen geht einer mit einer Flasche umher und sorgt dafür, dass die Gläser immer voll mit Aragh Sagi sind und keine längeren Trinkpausen entstehen. Für die regierenden Kleriker muss dieses Wohnzimmer die Ausgeburt der Hölle sein.
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