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Marianna Kastlunger
Veröffentlicht
am 03.07.2017
LebenInterview zur Mehrsprachigkeit

„Sprache steigert die Kreativität“


Veröffentlicht
am 03.07.2017
Ulrike Jessner-Schmid erforscht Mehrsprachigkeit. Warum sich Sprachkompetenzen nach der Matura oft verbessern und Muttersprachler nicht immer die geeigneten Lehrkräfte sind.
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Die Ergebnisse der aktuellen KOLIPSI-Studie sind ernüchternd: Die Zweitsprachenkenntnis an Südtirols Oberschulen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Ulrike Jessner-Schmid, Professorin für Anglistik an der Uni Innsbruck, erforscht Mehrsprachigkeit und begleitet Schulen in Südtirol, die mehrsprachigen Unterricht anbieten. Sie weiß, dass Mehrsprachigkeit immer vom individuellen Kontext abhängt. Das macht das Thema sehr komplex.

Ulrike Jessner-Schmid

Ist es um die Südtiroler Mehrsprachigkeit wirklich so schlecht bestellt, wie es die neue Kolipsi-Studie darstellt?
Südtirol ist noch sehr stark von seinem geschichtlichen Hergang und dem politischen Hintergrund geprägt. Das ist durchaus verständlich. Auch wenn die Ergebnisse der Kolipsi-Studie etwas anders zeigen hoffe ich, dass die jüngeren Generationen merken, was für einen Schatz sie haben könnten. Veraltete Einstellungen müssten aufgebrochen werden. Allerdings sollten wir mehrere Faktoren berücksichtigen: Wir haben etwa kürzlich untersucht, ob und wie schnell Schüler Sprachkenntnisse verlieren, die sie in der Schule erlernt haben. Dazu haben wir ihre Sprachkompetenzen vor und eineinhalb Jahre nach der Matura untersucht. Es zeigte sich, dass sie in Italienisch besser geworden sind. Es macht eben einen großen Unterschied, ob die Jugendlichen für die Schule lernen oder für sich selbst. Sobald der institutionelle Druck weg ist, ändert sich wohl auch die Motivation. Menschen entwickeln sich weiter, sie reifen und denken anders über die Zweit- oder Drittsprache. Durch meine Arbeit lerne ich viele Studierende aus Südtirol kennen, die eine deutschsprachige Oberschule besucht haben und mittelmäßige Italienischkenntnisse haben. Ihre Erklärung ist, dass sie vieles verlernt haben und nicht, dass es am Interesse für die Fremdsprache mangelt.

Für viele Südtiroler ist die Muttersprache ein wesentlicher Teil ihrer kulturellen Identität. Werden bei solchen Studien auch emotionale Komponenten berücksichtigt?
Sprache, Emotionen und Identität sind Themen, die in Sachen Mehrsprachigkeit zusammenhängen. Das erschwert eine sachliche Diskussion, da diese Bereiche wissenschaftlich schwer greifbar sind. Als Wissenschaftler muss man sich mit den Antworten abfinden, die man erhält. Da jeder einen subjektiven Zugang zur Sprache hat, müsste man die Befragten als Wissenschaftler eigentlich persönlich interviewen. Nur so kann man einschätzen, ob sie etwa die eigene Einstellung verschleiern. Ich finde die Arbeit mit Kindern sehr spannend, da sie immer ehrlich sind, selbst wenn das Thema delikat ist. Generell vertraue ich Ergebnissen aber nur bis zu einem bestimmten Grad, wenn es in Studien um Emotionen geht.

Wenn man einsprachige Kinder fragt, ob man eine Kuh auch als Hund bezeichnen kann, werden sie es verneinen. Zweisprachige Kinder werden es für möglich halten.

Warum ist Mehrsprachigkeit ein Gewinn?
Das Erlernen mehrerer Sprachen ist ein Gewinn, weil dadurch die Kompetenz der eigenen Muttersprache gefestigt wird. Außerdem bringt der Kontakt mit mehreren Sprachen Kindern bei, dass ein Begriff für ein bestimmtes Objekt nichts Fixes ist. Wenn man einsprachige Kinder fragt, ob man eine Kuh auch als Hund bezeichnen kann, werden sie es verneinen. Zweisprachige Kinder werden es für möglich halten. Sie fangen an, selbstständig über Wörter oder Grammatik nachzudenken und können besser und flexibler mit Sprache umgehen. Das steigert ihre Kreativität und sie entwickeln eine umfangreichere Art, zu denken. Die eigene Muttersprache wird dabei trotzdem nicht unter der Konkurrenz anderer Sprachen leiden. Die oft zitierte Angst vor dem Muttersprachenverlust ist ein Irrglaube, den populistische Parteien bewusst bedienen. Es ist aber wichtig zu wissen, welche Art des Unterrichts für Mehrsprachigkeit geeignet ist.

Welche Unterrichtsart wäre denn ideal, um Kinder und Schüler mehrsprachig zu bilden?
Eine, die so früh wie möglich das metalinguistische Bewusstsein trainiert – also die Fähigkeit, über Sprachen nachzudenken, sie als Objekte zu betrachten und miteinander zu vergleichen. Ich kann in dieser Hinsicht dem paritätischen System der ladinischen Schule einiges abgewinnen oder der italienischsprachigen Volksschule Manzoni in Bozen. Hier lernen die Kinder beispielsweise Mathe und Naturkunde auf Deutsch, andere Fächer auf Italienisch. In eigens dafür vorgesehenen Einheiten werden Sprachvergleiche gemacht oder es wird mit Reimen gespielt. Diese Kinder werden dadurch in allen Sprachen besser. Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist in der deutschsprachigen Grundschule in Bruneck zu finden, wo eigene Sprachklassen etabliert wurden. Hier lernen die Kinder zusätzlich zum normalen Stundenplan fünf Stunden pro Woche Deutsch, Italienisch und Englisch. Das geschieht anhand eines dynamischen Modells, das diese Sprachen miteinander vernetzt.

Laut Kolipsi-Studie ist ein Teil der befragten Lehrer der Meinung, dass sich der zusätzliche Englischunterricht negativ auf die Sprachkompetenz der Schüler auswirkt. Wie sehen Sie das?
Ich kann hier nicht verallgemeinern, das ist kontextbezogen. Ich sehe dann Vorteile in der Mehrsprachigkeit, wenn der Unterricht im Sinne dieses metalinguistischen Bewusstseins gestaltet wird. Bei Deutsch, Italienisch und Englisch befinden wir uns in einem verwandten Sprachraum, eigentlich sogar in einem Eldorado: Englisch besteht aus vielen germanischen und aus noch mehr lateinischen Elementen, da ist es zum Italienischen nicht mehr weit.

Sind Muttersprachler die am besten geeigneten Lehrkräfte?
Das hängt von der Gestaltung des Unterrichts ab. Ein Muttersprachler ist nicht automatisch ein guter Lehrer. Schließlich kennt er die Perspektive eines Fremdsprachschülers nicht aus eigener Erfahrung. Ein Muttersprachler hat bestimmte Phänomene verinnerlicht. Die sollten aber mit präziseren Erklärungen als mit einem „ist eben so“ vermittelt werden. Früher wurde der Muttersprachler als Lehrer hochgejubelt, weil er so exotisch war. Das mag im Unterricht natürlich toll rüberkommen, ist aber nicht die einzige Lösung. Den Kontakt mit der zweiten Sprache könnte man in Südtirol direkt vor der eigenen Haustür pflegen, was an und für sich wunderbar ist. Manche nehmen diese Möglichkeit wahr, andere eben nicht. An anderen Schulen gibt es keine Kontaktmöglichkeit zur Fremdsprache vor der Haustür und trotzdem können Schüler in einem gut gestalteten Unterricht erfolgreich sein und sehr gute Sprachkenntnisse entwickeln.

Was könnte getan werden, um Mehrsprachigkeit in Südtirol zu fördern?
Die Vielfalt alleine ist bereits eine Bereicherung, deshalb ist auch ein neues Verständnis für Unterricht und Mehrsprachigkeit notwendig. Dementsprechend sollten die Lehrerausbildung angepasst und Fortbildungen angeboten werden, um die Lehrpersonen zu unterstützen. Auch die Inhalte müssen in diesem Sinne angepasst werden. Wenn etwa die Italienischkompetenzen in einem deutschsprachigen Gymnasium nicht ausreichen, um literarische Stoffe wie Dante zu verstehen, sollten die Schwerpunkte anderswo gelegt werden. Die Kolipsi-Studie hat Missstände aufgezeigt. Dieser Moment kann als große Chance gesehen werden, um die Mehrsprachigkeit dynamisch und interdisziplinär anzugehen. Die ersten Schritte werden durch die Einführung des Gesamtsprachencurriculums gesetzt, aber es muss gezielt und gut informiert umgesetzt werden.

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