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An alle, die diesen Brief lesen: Ich habe euch zwar noch nie getroffen, bin aber überzeugt, dass ihr eine freie Seele habt. Dies ist die wahre Geschichte eines Mädchens, das ebenso frei von Stereotypen und Geschlechterklischees sein will. Ein Mädchen, das einfach nur als Mensch behandelt werden möchte.
Hijab und kleine Mädchen
„Magst du lieber das Donald-Duck-Motiv oder Blumenmuster?“ So begann mein erstes Gespräch mit meiner Mutter über die Frage, welches Kopftuch ich tragen wollte. Damals war ich drei Jahre alt. Ich weiß, das ist eigentlich zu früh, um Kopftuch zu tragen. Aber als gute Muslima musst du Religion im Alltag auch dann praktizieren, wenn es nicht vorgeschrieben ist.
Als ich neun Jahre alt war, und somit alt genug, um religiöse Verantwortung zu übernehmen, wurde ich mit einer weiteren Frage konfrontiert: „Magst du lieber ein ‘Manto’ tragen (ein langes Kleid, das deinen Körper bedeckt, aber noch deine Kurven zeigt) oder einen ‘Tschador’ (ein schwarzer Umhang, der alles verdeckt)?“ Das war mein Leben in einer religiösen Familie. Unerträgliche Fragen danach, was ich anziehen wollte, gehörten dazu. Antwortete ich nicht korrekt, so versuchten mich die älteren Familienmitglieder zu überzeugen: „Wenn du deinen Hijab nicht richtig trägst, werden dich Dämonen an den Haaren aufhängen“, drohten sie.
„Warum?“, fragte ich.
„Es ist nun mal so. Der gütige Gott verlangt das von dir.“
„Aha, gütig“, dachte ich.
Aber das habe ich nie laut zu jemandem gesagt; meine Gedanken blieben viele Jahre lang unausgesprochen.
Der Hijab gehörte zu den Dingen, auf die sowohl das iranische Regime als auch meine Familie bestand. Und es war gerade der Hijab, der mich am stärksten ins Grübeln brachte. Als Kind wusste ich noch nichts von der Chemie zwischen Mann und Frau, weshalb mich die Erklärungen der Lehrer:innen wenig überzeugten. Alles, was ich dachte, war: „Aber die Menschen schauen doch so viel schöner aus ohne Hijab!“
Als Heranwachsende war ich überzeugt: Wer keinen Spaß im Leben hat, den erwarten als Belohnung dieselben Freuden im Paradies. Könnt ihr das glauben?
Ich erinnere mich daran, wie mich ein paar verwöhnte Mädchen im Kindergarten auslachten, weil meine Kleider unmodisch waren. Meine Eltern kauften mir nie schöne Kleider oder ließen mich meine Haare stylen.
Wenn mich in der Grundschule eine Freundin zum Geburtstag zu sich nach Hause einlud, durfte ich nie mittanzen, und wenn ihre Väter oder Brüder auftauchten, musste ich mich irgendwo verstecken – meine Eltern hatten mir beigebracht, meine Haut niemals fremden Männern zu zeigen. Es ist absurd, wie sehr ich all die Jahre versucht habe, mich richtig zu verschleiern – Gott zuliebe.
Und dann kam die Pubertät. Ich wollte schön sein, tanzen gehen, Spaß haben. Aber all das erlaubt meine Religion nicht. Gibt es etwas Besseres als Musik, um die Seele zu nähren? In meinen Augen nicht. Und trotzdem: Bis ich 13 war, stellte ich alle Lieder ab, die im Radio oder im Fernsehen gespielt wurden – Gott zuliebe.
Als Heranwachsende war ich überzeugt: Wer keinen Spaß im Leben hat, den erwarten als Belohnung dieselben Freuden im Paradies. Könnt ihr das glauben? Alkohol und Geschlechtsverkehr vor der Ehe sind in diesem Leben verboten und als Belohnung kriegt man im Himmel ausgerechnet Wein und Sex? Leider steht nirgends geschrieben, ob man im Himmel für das Tragen eines Hijabs damit belohnt wird, dort keinen tragen zu müssen.
Ist es ein Junge?
Meine Mutter litt jahrelang an einer psychischen Krankheit. Ihre zweite Schwangerschaft war deshalb gesundheitsgefährdend für sie, und ihre Ärzt:innen gaben ihr die Erlaubnis, sie abzubrechen. Doch ihre Mutter nicht. Sie sagte: „Was, wenn das Baby ein Junge ist?“ Damals war ich erst zehn, aber reif genug, um in diesem Moment glasklar die Diskriminierung von Mädchen und Frauen zu begreifen. Es ging meiner Großmutter nicht um die Gesundheit ihrer Tochter. Alles, was für sie zählte, war das Geschlecht des Kindes. Ein ungeborener Junge war ihr wichtiger als ich oder meine Mutter. Ich habe mich selten in meinem Leben so gedemütigt gefühlt.
Seitdem weiß ich: Der Mann gilt als die überlegene Spezies in unserem Land. Laut dem iranischen Strafgesetz zählen weibliche Zeuginnen vor Gericht nur halb so viel wie männliche Zeugen. Wenn meine Eltern sterben, werde ich nur halb so viel erben wie mein Bruder. Und ich darf nicht heiraten, bis es mein Vater mir erlaubt. Ich darf nicht einmal das Land ohne Erlaubnis meines Ehemanns verlassen.
Jungen dürfen in unserer Gesellschaft machen, was sie wollen: auf Dates gehen, Freundinnen haben, sogar rauchen! Aber dasselbe gilt nicht für Mädchen. Wenn etwas als falsch gilt, sollte es doch falsch für beide Geschlechter sein?!
Unsichere Mütter erziehen unsichere Mädchen, die niemals für ihre Rechte einstehen, die nie rebellieren. Abhängige Frauen schweigen, um das Geld ihrer Väter und Ehemänner zu erhalten.
Die iranische Regierung hat große Geldsummen in das nationale Fernsehen gesteckt, um den Leuten diese patriarchale Lebensweise einzutrichtern. Das Feindbild in den Fernsehshows repräsentierten meist unabhängige Frauen, die selbst über ihr Leben bestimmen wollten. Am Ende wurde immer ihr Leben zerstört.
Unsichere Mütter erziehen unsichere Mädchen, die niemals für ihre Rechte einstehen, die nie rebellieren. Abhängige Frauen schweigen, um das Geld ihrer Väter und Ehemänner zu erhalten. So wie ich, nachdem mein Vater starb: Ich gab vor, ein „gutes Mädchen“ zu sein (also eines, das keinen Freund hat, nicht mit Freund:innen herumzieht oder allein reist), weil ich Angst hatte, dass mich mein Onkel sonst finanziell nicht mehr unterstützen würde. Und was hätte ich ohne Geld machen sollen!
Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, andere davon zu überzeugen, dass ich genauso klug bin wie ein Junge. Aber ich habe gelernt, dass meine Anstrengungen nie ausreichen würden. Je mehr du versuchst, dich mit Männern auf eine Ebene zu stellen, desto stärker wollen sie dich dominieren. Solche Menschen wollen sich nicht verändern, und irgendwann hatte ich genug von ihren Spielchen und sinnlosen Rechtfertigungen.
Mein Weg zur Emanzipation
Trotz all des Drucks gab es Menschen in meinem Leben, die offener eingestellt waren. Mein Vater etwa hat mich später in meiner Emanzipation bekräftigt. Nachdem mein Bruder geboren wurde, sagte er zu mir: „Was mich stolz macht, ist nicht, meine Blutlinie durch meinen Sohn aufrechtzuerhalten; was mich stolz macht, ist, dich glücklich, stark und unabhängig zu sehen.“ Dieser Satz hat mir geholfen, meinen verlorenen Selbstwert wiederzufinden. Auch mein jüngster Onkel hat mir geholfen. Er hat mich dazu ermutigt, Englisch zu lernen, damit ich den westlichen Medien und den Wissenschaften folgen kann.
Später hörte ich das Hörbuch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari. Darin erklärt er, wie Menschen Religion nutzten, um Stämme zu vereinen, zu kontrollieren und ihnen einen Grund zum Kämpfen zu geben. Je mehr ich über die Geschichte der Menschheit erfuhr, desto sicherer wurde ich, dass Religion nicht heilig sein kann. Die Widersprüche im Islam sind zahllos – oder zumindest in dem Islam, der uns beigebracht wird.
Zum Beispiel darfst du niemals Fragen stellen. Du darfst nur suchen, um das zu bestätigen, was bereits als gesetzt gilt. Reformen sind nicht erlaubt. Am spannendsten finde ich, dass sich der Islam – oder jegliche andere Religion – je nach Region verändert. Und jede Führungsperson legt die Religion anders aus. Wie kann man dem vertrauen?
Ich konnte die Kontrolle über mein Privatleben nicht mehr ertragen
Am meisten Zweifel überkamen mich aber wegen meines eigenen Gewissens. Wie konnte ein Gott, der gut ist, Millionen von Menschen in die Hölle schicken? Das fühlte sich für mich nicht richtig an. Genauso wenig wie die Scharia. Ich finde, das wertvollste Geschenk ist das Leben. Und jede:r sollte das Recht haben, es zu genießen – auch Frauen!
Gegen all die Diskriminierung und Unterdrückung zu rebellieren, war ein langer Weg für mich. Aber der verhasste Hijab und meine Pubertät haben den Prozess beschleunigt. Ich konnte die Kontrolle über mein Privatleben nicht mehr ertragen.
Mittlerweile tue ich nicht mehr so, als würde ich den Hijab tragen (bei privaten Treffen natürlich, in der Öffentlichkeit ist das Kopftuch noch Pflicht). Das habe ich nach langen Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern durchsetzen können. Es war hart für sie, aber mit der Zeit haben sie gelernt, meine Entscheidung zu akzeptieren. Einige Dinge konnte ich noch nicht durchsetzen. Zum Beispiel, mich offen mit Jungen zu verabreden. (Ich bin seit 4 Jahren mit meinem Freund zusammen, muss die Beziehung aber geheim halten.) Ich hoffe, eines Tages auch damit offen umgehen zu können. Ich arbeite und verdiene mein eigenes Geld, sodass ich mich von niemandem mehr dominieren lassen muss. Ich habe mich von den patriarchalen Ketten befreit.
Diesen Weg der Emanzipation bin aber nicht nur ich gegangen, sondern auch viele andere Iranerinnen und Iraner.
Ein Land im Wandel
Der Schlüssel zu einem anderen Bewusstsein war das Internet. Durch Facebook konnte meine Generation erstmals besser untereinander kommunizieren. Und durch Youtube konnten wir unsere Leben mit den Leben der europäischen und nordamerikanischen Mittelklasse vergleichen. Das war augenöffnend, denn unsere Politiker hatten uns gesagt, im Westen hätten die Leute jegliche Moral verloren und die Frauen würden alle vergewaltigt. Dank der sozialen Medien konnten sie uns diese Lügen nun nicht mehr auftischen.
Warum ist unsere Regierung so interessiert daran, sich in das Privatleben seiner Bürger:innen einzumischen? Ganz einfach: Weil sie davon ablenken will, dass die Behörden unsere Vermögen stehlen. Jedes Jahr veruntreuen regierungsnahe Funktionäre öffentliche Gelder (wie Mr. Khavari, der nun in Kanada lebt). Was passiert mit den ganzen Öleinnahmen des Landes? Das wird nicht transparent kommuniziert, wie so viele andere Dinge.
Niemand glaubt mehr daran, dass sich dieses Regime reformieren kann. Das wurde uns lang genug vorgespielt.
Doch jetzt ist die Zeit für Veränderung gekommen. Niemand glaubt mehr daran, dass sich dieses Regime reformieren kann. Das wurde uns lang genug vorgespielt. Erst vor Kurzem wurde angekündigt, dass die Sittenpolizei abgeschafft werde. Gleichzeitig fängt das Regime aber damit an, Protestierende hinzurichten. So wie Mohsen Shekari, der am 8. Dezember als erster vom Regime ermordet wurde.
Was wir fordern, ist keine Ideologie, kein Liberalismus, Kommunismus oder sonst etwas. Nur grundsätzliche Menschenrechte. Wir wollen tanzen, selbstbestimmt leben und selbst entscheiden, was wir anziehen.
Ich kenne kaum noch Iraner:innen, die das Regime unterstützen. Wenn, dann weil sie Angst vor einem Bürgerkrieg haben; aber tief im Inneren sind auch diese Menschen unzufrieden mit der wirtschaftlichen Lage.
Der Rest der Bürger:innen hat nichts mehr zu verlieren. Die Menschen wissen: Wenn das Regime an der Macht bleibt, wird alles nur noch schlimmer. Das Regime kümmert sich bloß um sein Geld und seine Macht – egal zu welchem Preis. Und nun sind die Leute bereit, die Regierung zu stürzen, damit sie endlich in Demokratie und Freiheit leben können – egal zu welchem Preis.
Redaktionelle Bearbeitung und Übersetzung aus dem Englischen: Julia Tappeiner
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