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Julia Tappeiner
Veröffentlicht
am 23.10.2020
LebenInterview mit Anna Gius

Sex hat viele Gesichter

Veröffentlicht
am 23.10.2020
Anna Gius gibt sexuelle Bildungsworkshops jenseits klassischer Sexualkunde. Warum wir uns mit einer vielfältigen Sexualität schwer tun und was der Kapitalismus damit zu tun hat.
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In den Workshops des queer-feministischen Kollektivs „Die zweite Aufklärung“ lernen die Teilnehmenden nicht, wie man ein Kondom über eine Banane stülpt und welche Geschlechtskrankheiten es gibt. Sie lernen, wie Ungleichheit zwischen den Geschlechtern entsteht, worauf es beim Analsex ankommt oder was BDSM so alles bietet. Die Politikwissenschaftlerin Anna Gius aus Bruneck ist Mitbegründerin des Wiener Kollektivs und will durch ihre Bildungsarbeit sexuelle Tabus brechen und Sex-Stereotype hinterfragen. Im Interview erklärt sie, warum eine wahre sexuelle Revolution erst noch passieren muss und wie der Neoliberalismus unser Sexleben beeinflusst.

Du bist im queer-feministischen Kollektiv „Die zweite Aufklärung“ aktiv. Was kann man sich darunter vorstellen?
Wir bieten sexuelle Bildung für Erwachsene an. Grundsätzlich geht es darum, Gesellschaftsmechanismen, die Ungleichheit schaffen, kritisch zu hinterfragen. Das ist der feministische Teil. Der queere Teil bedeutet, dass wir nicht davon ausgehen, dass es die Geschlechter so gibt, wie die Gesellschaft sie darstellt, sondern dass es konstruierte Kategorien sind. Körper haben vielfältigere Existenzweisen als das, was als typisch Frau oder als typisch Mann gilt. Durch unsere Workshops zur sexuellen Bildung wollen wir Raum schaffen für all das, was Sexualität sein kann. Also: Wie unterschiedlich können Körper sein, was kann Lust alles bedeuten? Wir möchten eine Sexualpädagogik bieten, in der sich alle wiederfinden, ohne gesellschaftliche Vorgaben, weg von starren Rollenbildern.

Warum ist eine „zweite Aufklärung“ nötig in unserer scheinbar so aufgeklärten Gesellschaft, wo alles online zugänglich ist?
Es stimmt, dass es in einer gewissen Weise „besser wird“. Jugendliche haben heute schon mehr Zugang zu vielfältigen Inhalten sexueller Bildung, vor allem im Internet. Doch Sexualität ist ein lebenslanger Prozess. Und solange es noch sexuelle Tabus gibt, haben wir noch nicht fertig über das Thema gesprochen. Homophobie ist zum Beispiel immer noch Realität. Menschen haben Angst, sich zu outen. Unsere Gesellschaft ist noch nicht soweit, die Riesenvielfalt an Sexualität anzuerkennen und alle als gleichwertig zu bezeichnen, sondern sagt: „Es gibt normal und daneben gibt es halt noch andere, aber die dürfen wir nicht abwerten.“ Unsere Mehrheitsgesellschaft tut so, als wäre es ein abgeschlossenes Thema. Dabei sind noch viele Fragen offen, und es gibt mehr zu lernen als die Fortpflanzungsbasics, die man in der Schule mitbekommt. Uns ist auch das Wie des Lernens und der Wissensvermittlung sehr wichtig. Es soll sensibel für Ausschlüsse und Tabus sein.

Anna Gius

Initiativen wie OMGYES oder ErikaLust-Filme versuchen einen inklusiveren und feministischen Standpunkt in den sexuellen Diskurs einzubringen. Haben wir damit den Höhepunkt der sexuellen Revolution nicht schon erreicht?
Zu OMGYES schreibe ich gerade meine Masterarbeit. Es handelt sich dabei um eine E-Learning Plattform, bei der man unter anderem Techniken zur weiblichen Genitalstimulation lernt. Seit Schauspielerin und Feministin Emma Watson in einem Interview einmal erwähnt hat, sie ausprobiert zu haben, gilt die Plattform als Teil der neuen sexuellen Revolution. Dieses Narrativ ist teilweise berechtigt, jedoch lernt die Frau bei OMGYES die Techniken zur Befriedigung erstmal auf dem Bildschirm. In der Frauengesundheitsbewegung der 70er- und 80er-Jahren machten Frauen sich ihren Körper mit Handspiegel selbst erfahrbar. So weit sind wir heute leider nicht mehr, was das Körperbewusstsein angeht. Feministischer Porno möchte allerdings die Vielfalt der Lust, Identitäten, Körper und Praktiken zeigen und das ist schon revolutionär und das würde ich nicht missen wollen.


Warum haben wir diesen Rückschritt im Körperbewusstsein gemacht?
Wenn man sich diese Entwicklung in Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus anschaut, ergibt das interessante Parallelen. Wir befinden uns heute im Neoliberalismus, wo Leistung eine immer zentralere Rolle spielt. Diese Leistungslogik ist meiner Meinung nach bis in unsere Sexualität vorgedrungen. Der Neoliberalismus beeinflusst nicht nur, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sondern auch, wie wir sexuell sind. Man denke nur an den Performancedruck, an den Drang, beim Sex unbedingt zum Orgasmus kommen zu müssen. OMGYES reproduziert dieses neoliberale Prinzip: „Du bist selbst verantwortlich, sexuelle Lust zu empfinden. Wenn dem nicht so ist, musst du etwas dran ändern, um besser im Bett zu werden, dann werden auch deine Beziehungen besser, dein Leben glücklicher.“ Dieses Narrativ verdeckt aber, dass das für die allermeisten Menschen so nicht aufgehen kann. Bei all dem können wir uns auch die Frage stellen: Wie wichtig ist ein Höhepunkt?

Was braucht es also für eine neue sexuelle Revolution?
Eine sexuelle Revolution heißt für mich: Sich frei machen von bestimmten Gedanken, die uns kleiner machen als wir sind. Diese hat es noch nicht gegeben. Damit es zu einer wahren „Befreiung“ kommen kann, wünsche ich mir, und ich arbeite auch selbst daran, dass Räume entstehen können, die viel offener sind, und nicht diese fixen Grundannahmen haben. Für jemanden kann Orgasmus total wichtig sein und ein Ziel des Sexuallebens, für jemand anderen wiederum ist er nebensächlich. Und es kann sich auch im Laufe des Lebens ändern. Wir müssen darüber reden können, was so eine Grundannahme mit uns macht. Für mich ist sexuelle Revolution daher auch eine philosophische Arbeit, und dazu gehört, hinterfragen zu lernen.

Für jemanden kann Orgasmus total wichtig sein und ein Ziel des Sexuallebens, für jemand anderen wiederum ist er nebensächlich.

In euren Workshops werden sehr intime und tabuisierte Aspekte der Sexualität angesprochen. Wie reagieren die Leute darauf?
Die Leute, die überhaupt auf uns stoßen, sind meist schon sehr informiert und bringen eine Offenheit mit, die nicht repräsentativ ist für die Mehrheitsgesellschaft. Es kommt dann in den Workshops zu Aha-Momenten, aber zu keinen Schockstarren (lacht). Nur einmal kam ein breiteres Publikum zu uns und zwar wegen eines Vorfalls: Wir werden nämlich von der Österreichischen Hochschülerinnenschaft (ÖH) gefördert. Kurz vor den ÖH-Wahlen haben wir einen Workshop zu Anatomie und Analsex angeboten, als der Ring Freiheitlicher Studenten [Studentische Organisation der FPÖ, Anm.d.Red] öffentlich kritisierte, die ÖH zahle Geld für Sexworkshops. Lustigerweise haben sie sich damit selbst ins Knie geschossen, denn der Vorfall erhielt österreichweit Aufmerksamkeit und unser Workshop wurde so zahlreich besucht wie noch nie. Dort waren dann Leute mit dabei, die angaben, noch nie so eine Veranstaltung besucht zu haben. Ich hatte das Gefühl, dass sie vielleicht an manchen Stellen emotional gefordert waren, aber dass deren Neugierde doch stärker war und sie sich am Ende wohl gefühlt haben. Genau so wünsche ich mir auch diese Räume, denn die Themen sind fordernd, aber eben deswegen soll man darüber sprechen können.

Planst du auch in Südtirol solche Workshops anzubieten?
Ich bin sicher, dass es auch bei uns zuhause einen Bedarf an solchen Workshops gibt. Es gibt sicherlich eine Hemmschwelle, aber sicher auch die Neugierde, über alle diese spannenden Themen wie Masturbation, Beziehung, Konsens, sexuelle Vielfalt usw. reden zu können. Ich plane daher schon, in Zukunft auch etwas in diese Richtung in Südtirol zu machen, aber ich muss mich da erst noch herantasten und schauen, wann die nötigen Ressourcen hier sind. Im Moment bin ich die einzige Südtirolerin in unserem Kollektiv und wir geben immer Workshops im Zweier-Team, also müsste ich da auch noch eine Person finden, die das mit mir macht.

Pauschal gefragt: Wie offen ist Südtirol beim Thema Sex und damit zusammenhängend: Homosexualität?
Das ist schwer zu sagen, denn was ist die Südtiroler Gesellschaft? Ich habe mir da meine eigene Blase gesucht, in der ich mich wohl fühle, daher weiß ich nicht wirklich, wie „schlimm“ es außerhalb der Blase ist. Aber was ich ganz stark fühle, ist, dass die Leute Angst davor haben, ausgeschlossen oder von der Gesellschaft verurteilt zu werden. Daher bedarf es bei uns viel Mut, seine Sexualität und Orientierung offen nach außen zu tragen. Doch erst wenn man sich öffnet, kann man sehen, wieviel Unterstützung da ist. Und hier, finde ich, verpasst man oft die Chance festzustellen, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie man dachte. Aus diesem Grund ist es so wichtig, über solche Themen bereits im Vorfeld zu reden, auch mit „Nichtbetroffenen“, um Räume zu schaffen, wo Leute sehen, dass sexuelle Vielfalt ok ist, wo sich Vertrauen und Sensibilität entwickeln können. Auf der anderen Seite hört man immer wieder von homophoben Angriffen. Hier würde ich Südtirol zwar nicht viel schlechter einschätzen als andere ländliche Gegenden, aber auch nicht besser. Diskriminierung ist leider noch in vielerlei Hinsicht und an sehr vielen Orten Alltag. Ich möchte deshalb Orte gestalten, die ein Aufatmen möglich machen.

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