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Manfred Nowak ist Sprecher der Initiative und Stiftung „Jeder Mensch“ in Österreich. Ihre Forderung, die Europäischen Grundrechte den großen Herausforderungen unserer Zeit anzugleichen und diese um sechs Artikel zu erweitern (siehe Info-Box rechts), hat für Aufsehen gesorgt: Es geht um Umweltschutz, Datenschutz, Künstliche Intelligenz, Wahrheit, Globalisierung und darum, diese Rechte und die bereits bestehenden Europäischen Grundrechte einklagen zu können.
Manfred Nowak ist Professor für Menschenrechte an der Universität Wien, Mitbegründer des Wiener Forum für Demokratie und Menschenrechte und Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig. Neben vielen anderen Expertenfunktionen für internationale Organisationen war er UNO-Sonderberichterstatter für Folter. Ein Gespräch darüber, welche neuen Grundrechte wir brauchen, warum wir sie brauchen und wie sie verbindlich eingeführt werden können.
Herr Nowak, warum brauchen wir sechs neue Grundrechte?
Grundrechte haben sich in der Geschichte der Menschheit immer in Reaktion auf konkrete Unrechtserfahrungen, auf Katastrophen und neue Herausforderungen entwickelt. Wenn beispielsweise die Biomedizin soweit fortgeschritten war, dass man Menschen klonen konnte, dann haben die internationalen Organisationen und nationalen Verfassungen entschieden, dass man hier einen Riegel vorschieben muss. Es geht uns darum, anhand dieser sechs neuen Grundrechte aufzuzeigen, wo die neuen großen Herausforderungen unserer Zeit liegen und wie wir diese mit einer Ergänzung der Europäischen Grundrechtecharta besser bewältigen könnten. Ich hoffe, dass wir in einer Zeit leben, in der es für neue Grundrechte weder eine Revolution noch einen Dritten Weltkrieg braucht.
Was unterscheidet die neuen Grundrechte von den bestehenden?
Wenn Sie sich Artikel 1 der neuen Grundrechte anschauen, also „Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben“, dann ist dieses Thema in der Rechtsprechung nicht komplett neu. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat immer wieder Entscheidungen getroffen, die sich mit Lärmbelästigung, toxischem Abfall, Gift und sonstigen Umweltbeeinträchtigungen befasst haben. Dabei hat er sich auf das Recht auf Eigentum, das Recht auf Privatheit oder das Recht auf Leben berufen. Der Europäische Gerichtshof hat sich also bisher mit diesen Grundrechten beholfen. Aber er hat sich nie auf das Recht auf eine geschützte Umwelt berufen können.
Nun sind wir heute an einem Punkt, wo wir wissen, dass wir unseren Nachkommen eine nicht lebenswerte Welt hinterlassen, wenn wir diese großen Probleme unserer Zeit nicht in den Griff kriegen. Deshalb brauchen wir neue Grundrechte.
Reichen sechs neue Grundrechte? Was ist beispielsweise mit dem Problem wachsender sozialer Ungleichheit?
An sich gibt es das Recht bereits, nicht nur die Gleichheit und Gleichberechtigung vor dem Gesetz, sondern auch die gleiche Behandlung durch das Gesetz. Aus dem Gleichheitsgrundsatz sind auch gewisse staatliche Verpflichtungen abzuleiten, wie insbesondere die ökonomische Ungleichheit durch steuerliche und sonstige Umverteilungsmaßnahmen so klein wie möglich zu halten. Im Angesicht dieses Rechts muss man klar sagen: Die Politik hat hier die Kontrolle über die Wirtschaft verloren, weil diese weitgehend über Lobbyismus gesteuert wird. Wir müssen diese Kontrolle zurückerlangen, wenn wir Ungleichheit bekämpfen wollen. Denn ein weiteres Folgeproblem dieser Ungleichheit ist, dass die Grundfesten der demokratischen Gesellschaft untergraben werden. Das sehen wir an der Krise der Demokratie in den USA, aber auch in England und in anderen europäischen Staaten, wo die Ungleichheit noch drastischere Ausmaße erreicht hat. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen und wählen antidemokratische Parteien.
Ich hoffe, dass wir in einer Zeit leben, in der es für neue Grundrechte weder eine Revolution noch einen Dritten Weltkrieg braucht.
Kritiker sehen bereits die bestehenden Grundrechte bedroht, beispielsweise auch durch die Corona-Maßnahmen. Was halten Sie davon?
Die Corona-Pandemie kann man aus menschenrechtlicher Perspektive sehr gut beleuchten. Menschenrechtsarbeit ist ein ständiges Abwägen von Menschenrechten. Der Staat hat eine positive Funktion: Er muss nämlich das Recht auf Gesundheit und Leben schützten. Jedoch haben diese Schutzmaßnahmen massiv in andere bestehende Rechte eingegriffen. Unter anderem wurden die Rechte auf Bildung, Bewegungsfreiheit, Arbeit, Privatheit, Versammlungsfreiheit eingeschränkt.
Sind diese Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft wirklich notwendig?
Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Bedrohung ab. Die Bedrohung wurde dabei durch das Kaputtsparen unserer Gesundheitssysteme um ein Vielfaches erhöht. Jeder Mensch sollte auch das Recht auf Intensivbetreuung haben. Wenn die Inzidenzzahlen nicht so hoch sind und ein sehr gut funktionierendes Gesundheitssystem vorhanden ist, dann sollte man gewisse Einschränkungen der Freiheit wieder zurücknehmen. Man muss in jeder konkreten Situation abwägen und entscheiden: Waren die Einschränkungen verhältnismäßig oder nicht? Wenn nein, dann war es eine Menschenrechtsverletzung. Das sind schwierige Fragen, die Höchstgerichte entscheiden müssen.
Sind die neuen Grundrechte nicht sehr allgemein formuliert?
Grundrechte sind und waren schon immer etwas allgemein und lapidar formuliert. Beispielsweise das Grundrecht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Das ist für viele Menschen nicht eindeutig, denn jeder versteht etwas anderes unter Menschenwürde. Hier wird dem Gerichtshof bewusst ein Definitionsspielraum überlassen. Denn genau dafür gibt es Judikatur. Die Europäische Menschenrechtkonvention ist ein lebendiges Instrument. Das heißt, die Grundrechte müssen nicht so interpretiert werden, wie sie im Gründungsjahr 1950 interpretiert wurden, sondern indem man neue Erkenntnisse und Entwicklungen der Zeit auch miteinbezieht.
Beispielsweise war die Körperstrafe bis in den 1950er Jahren noch an der Tagesordnung. Lehrer, Eltern oder Militär züchtigten Kinder und Jugendliche, das war normal. Erst in den 70er Jahren wurden Schläge gegen einen jungen Mann auf der Isle of Man vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht. Dieser Fall ging in die Europäische Geschichte als erstes Urteil gegen Züchtigung ein. Menschenrechte entwickeln sich ständig weiter und das im Wesentlichen durch die Interpretation bestehender Grundrechte.
Wenn diese Idee eine breite Unterstützung in der Bevölkerung Europas findet, muss die Politik reagieren.
Wie wollen Sie die neuen Grundrechte durchsetzen? Lassen sich die Menschen für solche juristischen Themen überhaupt begeistern?
Die Initiative will eben nicht von oben nach unten diese Grundrechte durchsetzen, sondern von unten nach oben. Wir Menschen sollen uns selbst die Frage stellen, in welcher Gesellschaft wir leben möchten und das anhand der neuen Grundrechte durchsetzen. In Deutschland war Ferdinand von Schirach, der Gründer der Initiative, schon relativ erfolgreich. Wenn diese Idee eine breite Unterstützung in der Bevölkerung Europas findet, muss die Politik reagieren. Wir müssen völlig umdenken und weil die Politik auf die derzeitigen Krisen nicht angemessen reagiert, müssen die Menschen das selbst in die Hand nehmen. Je mehr Menschen dem Aufruf folgen und den Appell unterzeichnen, desto besser.
Wie realistisch sehen Sie die Einführung dieser zusätzlichen Grundrechte? Ich habe auf der Webseite etwas von knapp 250.000 Unterschriften gelesen, was bedeutet das?
Es wird sicher dauern, bis die Idee in allen 27 Mitgliedsstaaten Europas genügend verbreitet wird, aber wir sind sehr zuversichtlich, denn die Zeit ist reif dafür. Veränderung liegt in der Luft, Ferdinand von Schirach hat sie verschriftlicht und wir müssen sie nur noch verbreiten.
Es gibt keine Mindestanzahl wie bei einer Petition. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn genügend Menschen sagen, dass sie diese neuen Grundrechte wollen, dann bekommen sie diese auch. Dafür braucht es Druck auf die Landesparlamente, welche diese Themen dann ins Europaparlament bringen. Das Ziel ist ein Verfassungskonvent, eine Versammlung, die die neuen Grundrechte in die Europäische Charta der Grundrechte einarbeitet und beschließt.
Warum kümmert sich die Politik nicht von selbst um diese fundamentalen Probleme unserer Zeit?
Es gäbe nicht so viele Krisen in unserer Zeit, wäre die Politik ihrer Verantwortung nachgekommen. Hier machen sich die Auswüchse des neoliberalen Systems bemerkbar. Der Markt interessiert sich nicht für diese drohenden, existenziellen Krisen. Der Markt ist an kurzfristigen Profiten interessiert und nicht an der Erhaltung unseres Planeten. Unseren Planeten schützen kann nur die Politik, die EU, die Vereinten Nationen… Wir leben auch in der Krise des Multilateralismus, aber globale Probleme erfordern globale Lösungen. Wir brauchen bei den großen Problemen unserer Zeit internationale Standards, sonst können die Probleme nicht gelöst werden.
Die fehlende Einklagbarkeit ist eine der Schwachstellen der Europäischen Grundrechtecharta.
Warum streben Sie europäische Grundrechte an und nicht universelle?
Natürlich müssen bei diesen Krisen alle internationalen Großmächte mitmachen, sonst werden wir die Herausforderungen, die ja global sind, nicht bewältigen können. Aber ein geeintes Europa könnte gestärkt und reformiert mit neuen Grundrechten auftreten und eine wichtige Vorreiterrolle spielen. Wir sehen beispielsweise eine gute Zusammenarbeit mit Joe Biden, der bei diesen wichtigen Themen schon viel weitergehende Vorschläge gemacht hat, sowohl im Bereich der Besteuerung von transnationalen Unternehmen, als auch im Bereich des Klimaschutzes. Auch in China, wo es enorme Probleme mit der Luftverschmutzung gibt, ist das Bewusstsein da, dass die CO2-Emissionen massiv gesenkt werden müssen.
Ein weiteres Ziel dieser Initiative ist es, die EU zu reformieren, denn die EU befindet sich in einer Krise. Für viele Menschen ist die EU ein riesiger komplizierter Verwaltungsapparat und eher das Europa der Konzerne und nicht das Europa der Menschen.
Man muss sich überlegen, wie die EU wieder eine viel größere Akzeptanz in der Bevölkerung erlangt. Deshalb müssen wir wieder eine Volksbewegung werden, damit die Leute merken, dass diese Grundrechte nicht von Brüssel diktiert werden, sondern wir uns diese als EU-Bürger selbst erkämpfen.
Könnte da auch das neue Grundrecht auf die Einklagbarkeit nach Artikel 6 hilfreich sein?
Natürlich, keine Frage. Die fehlende Einklagbarkeit ist eine der Schwachstellen der Europäischen Grundrechtecharta. Ich kann mich nicht als direkt Betroffener an den Gerichtshof der EU wenden und sagen, hier wurde das Recht auf eine gesunde Umwelt oder auf bestehende Grundrechte, wie beispielsweise das Recht auf Meinungsfreiheit systematisch verletzt. Mit Artikel 6 – Grundrechtsklage: „Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“, könnte ich das machen und der Gerichtshof würde darüber urteilen. Das würde den Menschen der EU wieder ein ganz neues Zugehörigkeitsgefühl geben.
Was passiert, wenn die Initiative scheitert und wir es nicht schaffen, diese drängenden Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen?
Wie ich eingangs gesagt habe: Die großen neuen Entwicklungen im Menschenrechtsbereich waren immer Reaktionen auf schwere Krisen. Ich glaube, die derzeitigen Krisen und Symptome sind schmerzhaft genug, sodass die Bevölkerung und die Politik zur Besinnung kommen sollten.
Die Erkenntnisse der Klimaforschung zeigen deutlich, wie akut die Situation ist und was getan werden muss. Dasselbe gilt für die anderen Bereiche, denn wir wissen ja, was falsch läuft auf der Welt, seien es die großen Datenkonzerne oder die Menschenrechtsverletzungen im globalen Süden. Es gibt bereits Gesetze, Petitionen und Bewegungen, die alle in dieselbe Richtung gehen. Die Aufbruchsstimmung ist da. Jetzt sind wir am Zug, uns diese neuen Grundrechte zu geben und damit eine neue, bessere Gesellschaft zu erschaffen.
Hier könnt ihr selbst den Appell unterzeichnen und sechs neue Grundrechte einfordern: https://you.wemove.eu/campaigns/fur-neue-grundrechte-in-europa
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