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Wenn man am vergangenen Freitag zwischen 18.20 und 19 Uhr auf Brasiliens Straßen hätte blind laufen können, ohne überfahren zu werden, dann aus einem Grund. Der Sender GLOBO, das drittgrößte TV-Netzwerk der Welt, strahlte das letzte Kapitel der Telenovela „Joia rara“ (übersetzt: Seltener Juwel) aus. Und das Ende eines Fortsetzungsromans im Fernsehen wird in Brasilien so gespannt erwartet wie das Finale eines wichtigen Fußballturniers. Ein Millionenpublikum saß vor dem Bildschirm, als in der 173. Folge endlich gezeigt wurde, was von vornherein klar war: Die Liebe überwindet alle Hindernisse, selbst unterschiedliche soziale Schichten und zerstrittene Familien.
Um die Seele eines Landes zu kennen, muss man sein TV-Programm studieren. Fernsehen hat in Brasilien eine enorme Wichtigkeit. Das erkennt man allein daran, dass, egal wohin man kommt, in beinahe jeder Bar, jedem Restaurant, jedem Busbahnhof, ein kleiner, schwarzer Kasten an der Wand hängt. Novelas sind die Königsdisziplin der TV-Unterhaltung mit Einschaltquoten von bis zu 70 Prozent. Hinter ihnen steckt ein Milliardengeschäft, das sich auch im Ausland erfolgreich verkauft.
Der Novelanachmittag beginnt in Brasilien um 16 Uhr mit der Wiederholung einer alten Novela und der Einführung „es lohnt sich, sie noch einmal zu sehen“. Ihr folgt eine Jugendnovela, eine historische Novela und mindestens eine davon erzählt eine Geschichte aus Rio de Janeiro. Die wichtigste Novela, in der die Topakteure des Landes spielen, ist die Abendnovela, sie beginnt um 21.15 Uhr. Zwischen Fiktion und Illusion wird dann um 20.30 Uhr für eine Dreiviertelstunde die reale Welt der Nachrichten geschoben.
Novelas sind immer nach demselben Muster gestrickt. Ein halbes Jahr lang zeigen sie von Montag bis Samstag eine vorhersehbare Geschichte, mit stereotyp gezeichneten Charakteren und Themen, die sich wiederholen wie die Jahreszeiten. In jeder Novela wird gemordet, betrogen, belogen, geliebt. Und die Botschaft ist stets: Das Gute siegt über das Böse, Ehrlichkeit währt am längsten und nichts ist stärker als wahre Gefühle. Novelas überraschen nicht und machen dennoch süchtig, weil sie im richtigen Moment abbrechen und auf die morgige Folge verweisen.
Dass Novelas eine Scheinwelt reproduzieren mit ihren glamourösen Kulissen und den stets gut aussehenden Menschen, scheint in Brasilien kaum jemanden zu stören, im Gegenteil, ihr Erfolg muss in einem Land mit einer der höchsten Mord- und Gewaltraten weltweit auch darin begründet liegen. Novelas haben einen großen Einfluss auf die Alltagskultur, sie bestimmen in Brasilien die Art zu sprechen, sich anzuziehen, zu wohnen. Novelas gehen auf aktuelle Debatten ein und bleiben dabei nicht objektiv, politisch sind sie meist Mitte rechts angesiedelt. Manchmal werden auch Tabuthemen angesprochen, zum Beispiel dann, wenn eine Frau der anderen rät, der Polizei zu melden, dass ihr Mann sie schlägt. Aber auch hier ist es immer die Hausbesitzerin, die die Köchin belehrt und nicht umgekehrt.
Eine Novela erreicht alle sozialen Schichten, Altersgruppen, Geschlechter. Sie hätte beinahe revolutionäre Kraft, wenn die Schreiber, die selbst oft noch berühmter sind als die Schauspieler, das möchten. Trotzdem wird in Novelas gern gezeigt, wie sehr sich die einzelnen sozialen Schichten unterscheiden. Sie fördern ein Klassendenken und fahren ungleiche Strukturen in den Köpfen der Menschen fest. Obwohl vor allem die Welt der Reichen präsentiert wird, spielen auch Favelabewohner eine Nebenrolle in Novelas. Sie sind meist die Tollpatschigeren und diejenigen, die mehr Spaß haben. Eine Novela lässt keine Fragen offen, wohl aber die nach der Botschaft dieser Inszenierung.
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