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Es ist kurz vor sechs Uhr abends in Bozen. Die Straßen wirken leer. Wer sich jetzt noch keinen Platz gesichert hat in den Hotspots mit Großbildschirmen, der hat ein Problem. Im Batzenhäusl, in der Kellerei Malojer, im Palais Campofranco und in den verschiedenen Bars hat Bozen seine größten Bildschirme und Leinwände aufgestellt, um das Spiel Italien gegen Costa Rica zu zeigen. Ein Multikulti-Publikum trifft sich in der Hauptstadt, um die italienische Nationalelf anzufeuern. Einige wenige tragen die Nationalfarben am Körper, andere auf den Wangen, wieder andere halten nichts von Fankleidung. Auch die Fanartikel halten sich in Grenzen. XXL-Hüte, Fahnen und Pfeifchen: Fehlanzeige. Stattdessen bleibt es ruhig beim Public Viewing. Trotzdem scheint die Vorfreude groß. Alle wollen die Azzurri spielen sehen und natürlich anschließend einen Sieg feiern.
„Das ist unser erstes Public Viewing. Natürlich wollen wir Italien siegen sehen“, sagen Viktoria Fischer und Gregor Peer, die sich selbst zu den gemäßigten Fans zählen: die nicht zu laut schreien, gemütlich ihr Bierchen trinken und in guter Gesellschaft das Spiel anschauen. Allzu laut geht es jedoch auch in der italienischen Fanfraktion nicht zu. Eine ungewohnte Ruhe, die so gar nicht für das italienische „Tifosi-tum“ steht. Trotzdem ist sich eine Gruppe junger Mädchen, die ihre Mannschaft in den Farben der Flagge anfeuert, sicher: „Ancora non c’è tanto casino, ma se si vince, sicuramente c'è festa in piazza“.
Auch die kleine Nasrin und ihr Bruder sind ins Zentrum gekommen, um Italien spielen zu sehen und anschließend einen Sieg zu feiern. Und natürlich um ihren persönlichen Star Mario Balotelli anzufeuern.
Während sich dieser im Falle eines Sieges einen Kuss der Queen erwartet („If we beat Costa Rica i want a kiss, obviously on the cheek, from the UK Queen“ twitterte der Fußballstar), warten die beiden Geschwister immer noch auf einen Sitzplatz und die freie Sicht auf den Bildschirm. Auch die erwartete Stimmung beim Public Viewing bleibt trotz der Menschenmengen für die beiden aus. In den Bars gibt es eher gemütliche Pläuschchen statt lauter Fanchöre, was vielleicht an der Leistung der Nationalelf liegen könnte.
Die erste Halbzeit ist an fehlender Spannung kaum zu überbieten. Es scheint geradezu so, als würde Prandellis blaue Elf unter brasilianischer Sonne keine Lust aufs Fußballspielen haben. Und das in einem Stadion, vor rund 50.000 Fans. In Bozen ist die Zuschauerzahl um einiges kleiner und Fans kann man die Teilzeit-Fußballbegeisterten auch nicht wirklich nennen. Denn genauso wie auf dem Bildschirm sehen die Gesichter in Echtzeit aus: gelangweilt. Der eine schaut ins Smartphone, der andere nippt an seinem Bier, wieder ein anderer postet ein nettes Selfie in Grün-Weiß-Rot.
Die Leinwand nimmt bald die Rolle des am wenigsten beachteten Accessoires des Abends ein. Die Stimmung, auf die beim Public Viewing alle hoffen, bleibt weiterhin aus. Abgesehen von ein paar kurzen Seufzern für versemmelte Torchancen und einem leisen „oh“ für das gegnerische Tor ist vom Fantreiben keine Spur. Also begnügt man sich anderswo: willkommen zum Public Showing. Sehen und gesehen werden lautet die Devise.
Während ein Junggesellenabschied mit blinkendem Schleier zum Sexspielzeug-Verkauf seine Runden dreht, streicht sich die blonde Schönheit in der ersten Reihe zum zehnten Mal durchs Haar, zieht ihren Lippenstift nach und schaut sich nach männlicher Beute um. Es scheint geradezu so, als ob alle hier das Event WM-Fußballspiel als Anlass genommen hätten, um endlich wieder einmal aus dem Haus zu kommen. Von den echten Hardcore-Fans fehlt jede Spur. Viel eher gleicht das Public Viewing-Publikum einer Singlebörse. Es geht zu wie auf einem Laufsteg, auf dem Mann und Frau die neue Sommerkollektion 2014 präsentieren. Frisch gebräunt passt ein knalloranger Veneziano perfekt ins Konzept von Singles auf der Suche nach dem Traumpartner beim WM-Spiel.
Was Pirlo, Buffon und Co. da oben auf den vier Flatscreens gerade treiben, scheint ziemlich vielen egal zu sein. Ab und zu ertönt aus dem Hintergrund ein verzweifelter Tröter, der an die Vuvuzelas und packende Fußballmomente aus dem Jahre 2010 erinnert. Doch heute gibt es nichts zu tröten. So lahm wie Italiens Leistung auf dem Feld ist, bleibt auch die Stimmung vor dem Bildschirm.
Der Traum vom ausgelassenen Public Viewing unter Freunden, von lauten „ahs“ und „ohs“ der Mitfiebernden, vor Spannung verzerrten Gesichtern und Umarmungen bei gefallenen Toren bleibt also aus. Von der erwarteten festa fehlt jede Spur. Public Viewing ist nicht das, was es einmal war. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Und vielleicht ist es noch etwas zu früh im Turnier, um wirkliche Hardcore-Fans, laute Fanmeilen und Autokorsos anzutreffen. Vielleicht war es auch das falsche Spiel. Doch die Angst der Schützen bleibt auf alle Fälle unbegründet. Nach 90 Minuten minderster Fußballkunst ziehen nicht nur die Spieler vom Feld, sondern auch die Fans. Straßen und Plätze bleiben nach wie vor leer. Wäre die Fußball-WM nicht in beinahe jedem Medium präsent, hätte in Bozen keiner gemerkt, dass die Azzurri gerade um den Weltpokal kicken.
Es bleibt abzuwarten, was heute gegen Uruguay passiert. Bozens Fußballstimmung würden etwas Grün-Weiß-Rot, ein paar Fans mit wehenden Fähnchen und ein Sieg bestimmt guttun. Vielleicht würde das Public Viewing dann auch Public Viewing bleiben.
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