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Wen interessiere schon ihre Geschichte, fragt sich Elisabetta, unter Freunden Eli, auf Jiddisch Elischva Rossi. Die 52-Jährige mit blondiertem Haar und Pony trägt einen Designerschal, darunter einen schwarzen Pulli. Ihre Lippen und Augen sind leicht geschminkt. Vor der Italienerin liegt ein Tablet. Damit und mit sieben Tagesschauen sowie der täglichen Lektüre internationaler Zeitungen stillt sie ihren Wissensdrang.
Viele Jahre hat Elisabetta als Chemikerin in der Lebensmittelbranche gearbeitet, zehn davon in Führungsposition. Heute schätzt sie es, sich als Freiberuflerin ihre Arbeit aussuchen und ihre Zeit selbst einteilen zu können. Schlaf braucht sie sechs Stunden am Tag. Vor kurzem hat sie sich ihren Traum vom Medizinstudium erfüllt und trägt jetzt einen dritten Titel. Wenn Elisabetta erzählt, funkeln ihre tiefblauen Augen.
Seit 2006 ist sie Präsidentin der orthodoxen, aschkenasischen Gemeinschaft in Meran. Bis vor einem Jahr war sie auch Kultusverantwortliche und organisierte sämtliche Veranstaltungen für die 49 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die 1922 gegründet wurde. Besonders religiös oder gar fromm, behauptet Elisabetta, sei sie aber nicht.
Jüdisch durch Anne Frank
Elisabetta ist nach ihrer Geburt bei Urbino in der Region Marken mit ihren Eltern nach Meran gezogen. Im Religionsunterricht hat sie still in der Klasse gesessen und war neidisch, als ihre Mitschüler Erstkommunion feierten. Höhepunkte als jüdisches Mädchen gab es in ihrer Kindheit keine. Ihre Eltern beteten zu Hause nicht und zeigten auch sonst auf keinster Weise, dass sie einer religiösen Gemeinschaft angehörten. Und das obwohl im Meran der 70er-Jahre die Zahl der Juden wieder anstieg, nachdem sie zwischen 1938 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges von rund 1.500 auf zwei geschrumpft war. In diesem Zeitraum musste der Großteil der Juden aufgrund der faschistischen Rassengesetze das Land verlassen. Nach Mussolinis Sturz 1943, als Südtirol von Nazi-Deutschland besetzt war, wurden die restlichen rund 150 Zurückgebliebenen in Konzentrationslager deportiert – wie junge Forschungen zeigen, auch durch Mithilfe Südtiroler Nationalsozialisten.
Elisabetta glaubte als Kind, sie, ihre Eltern und Großeltern seien Atheisten. Bis sie mit vierzehn das Tagebuch der Anne Frank las. Da dachte sie sich: „Gott sei Dank bin ich keine Jüdin“. Zu ihrer Oma sagte sie, sie solle doch die Menora aus ihrem Wohnzimmer entfernen. Diesen siebenarmigen Leuchter kannte sie als wichtiges jüdisches Symbol aus dem Unterricht. Man wüsste nie, ob dieser nicht doch irgendwie zur Gefahr werden könnte. So beginnt Elisabettas Geschichte als Jüdin. Im Mittelpunkt steht dabei weniger ein Glaube, als die Zugehörigkeit zu einem Volk, die auch das Leben ihrer Familie geprägt hat.
Auf Konfrontation mit dem eigenen Schicksal
Elisabettas Großmutter hat sie damals über die Familiengeschichte aufgeklärt. Ihre Mutter ist ursprünglich Österreicherin, hat aber nach dem Zweiten Weltkrieg die italienische Staatsbürgerschaft erhalten. Elisabetta wusste zwar als Mädchen, dass der Mann ihrer Oma mütterlicherseits deren zweiter war, nicht aber, dass ihr richtiger Großvater in Auschwitz ermordet worden war. Auch Elisabettas Mutter und Großmutter waren drei Monate lang in diesem Konzentrationslager gewesen. Sie hatten glücklicherweise überlebt. Deutsch zu sprechen war bei Elisabetta daheim verboten. Ihre Mutter konnte das Erlebte nie verarbeiten und redet auch heute nicht darüber. Ihre Großeltern väterlicherseits waren ein jüdisches Paar aus Minsk in Weißrussland und Marseille in Frankreich. Der Nachname Rossi sei lediglich die italienisierte Version von Rossinov, erzählt Elisabetta.
Elisabetta war zuerst schockiert darüber, plötzlich jüdisch zu sein, doch schon bald begann sie sich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Während ihres Pharmaziestudiums in Urbino, lernte sie Hebräisch von einem Rabbiner aus Ancona. Nur die engsten Freunde wussten, dass sie Jüdin ist. In der multikulturellen Studentenstadt Bologna, in der sie im Anschluss Chemie studierte, fiel sie als Jüdin nicht auf. Sie nahm auch nicht am Leben einer jüdischen Gemeinschaft teil. Genauso wenig in Los Angeles, wo sie ihre Liebe zur Jazz-Musik entdeckte. Dort verbrachte sie „acht finstere Jahre als Jüdin“, wie sie ihre Zeit in Amerika nennt. Der schwache Bezug zum Judentum änderte sich mit der Heimkehr nach Südtirol 1992. Da schrieb sich Elisabetta in die Jüdische Gemeinde Meran ein. Heute vertritt sie diese sogar auf nationaler Ebene und ist aktiv in den drei italienweiten Kommissionen für kleine Gemeinschaften, Kaschrut – jüdische Speisegesetze und der Kommission gegen Antisemitismus.
Religiöse Trennkost
Wie die meisten Mitglieder der israelitischen Kultusgemeinde in Meran und anders als die Bezeichnung „orthodoxe Juden“ meinen lässt, lebt sie nicht streng nach den Gesetzen der Thora, der jüdischen Bibel, erzählt Elisabetta. Sie betet an großen jüdischen Feiertagen, besucht am Schabbat den Gottesdienst, der in Meran ein- bis zweimal im Monat zu Stande kommt, oder geht gemeinsam mit anderen Mitgliedern auf kulturelle Veranstaltungen, wie etwa einer Bar-Mitzwa-Feier. Wenn möglich, achtet sie auf koscheres Essen, trennt im Kühlschrank und bei Mahlzeiten Milch- von Fleischprodukten und hat für beides eigenes Geschirr. Aber das sei auch nicht viel komplizierter, als sonn- und werktags andere Teller zu benutzen, außer, „dass noch Töpfe hinzukommen“, meint Elisabetta. Koscheres Fleisch, sprich Fleisch von Tieren mit zwei gespaltenen Hufen, die Wiederkäuer sind und geschächtet wurden, kaufen sie oder ihr Partner auf regelmäßigen Reisen nach Mailand oder Rom.
Viele Lebensmittel sind an sich koscher und müssen nicht eigens produziert werden, wie etwa Nudeln. Andere werden extra nach jüdischen Speisegesetzen produziert und streng kontrolliert. Nur mit dem OK eines Rabbiners dürfen diese Lebensmittel als koscher bezeichnet werden.
Zu einem Volk gehören
Außer den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde in Meran, leben in Südtirol schätzungsweise weitere 30 bis 50 Juden. Für Elisabetta hat Jüdisch sein nicht vordergründig mit Glauben zu tun, sondern vielmehr mit der Geschichte eines Volkes und der Zugehörigkeit zu diesem. Das Zusammenleben mit Andersgläubigen hierzulande laufe generell gut. Trotzdem sei Südtirol keine heile Welt. Denn mehrere Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden schon einmal bedroht, berichtet Elisabetta.
Elisabetta ist eine Frau, die die Dinge hinterfragt und bei Bedarf eingreift. So beten dank Elisabetta Frauen in der Meraner Synagoge nicht mehr wie vorher üblich von der Frauenempore herab, sondern gemeinsam mit den Männern auf Altarhöhe. Das schaffe eine wärmere Atmosphäre und fördere die Aufmerksamkeit während des Gottesdienstes, meint sie. Außerdem „sehen die Männer so, dass Frauen mindestens genauso viel wissen.“
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