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Die Historikerin Fiammetta Balestracci lebt zurzeit in München als Gastwissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität. Sie ist Gründerin der <a href="http://www.siscalt.it” target=”_blank”>Societa Italiana per la Storia Contemporanea di Lingua Tedesca und veröffentlichte vor kurzem ihr Buch „La Sessualità degli Italiani – Politiche, Consumi e Culture dal 1945 ad oggi“. Darin geht sie unter anderem der Frage nach, warum Deutschland sich früher als Italien sexuell befreite.
Frau Balestracci, Sie forschen zur Geschichte Deutschlands und Italiens im Vergleich, sowie zu den kulturpolitischen Beziehungen der beiden Länder. Wie kam es gerade zu diesem regionalen Schwerpunkt?
Dieser Forschungsschwerpunkt hat eine lange Tradition. Die zwei Länder sind beide im 19. Jahrhundert gegründet worden und haben somit eine parallele Geschichte der nationalen Vereinigung. Dadurch kam es, dass die zwei Nationen bereits seit dem 19. Jh. die eigene Geschichte miteinander vergleichen, so auch in der Forschung. Das zeigen eine Reihe an Forschungsinstituten, denken Sie etwa an das deutsche historische Institut in Rom, das 1888 gegründet wurde.
Woher stammt ihr persönliches Interesse zu dem Thema?
Ich habe bereits meine Magisterarbeit zur Geschichte Preußens geschrieben. In der Schule habe ich fünf Jahre lang Deutsch gelernt, das war mein Lieblingsfach, und ich pflegte eine sehr gute Beziehung zu meiner Deutschlehrerin. Wahrscheinlich hat mich diese Erfahrung dazu gebracht, mich für diesen Forschungsfokus zu entscheiden. Vielleicht liegt es auch an meiner Familiengeschichte: Mein Großvater hat in Freiburg studiert und konnte daher schon Deutsch. Mein Vater versteht es zwar, aber kann es nicht sprechen, obwohl ihm die Sprache immer so sehr gefallen hat. Diesen Wunsch hat er wohl an mich und meinen Bruder weitergegeben.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich auch mit der Alpenregion, die als natürliche Grenze zwischen dem deutschsprachigen- und italienischsprachigen Raum gilt. In Ihren Worten: „ein Schauplatz von essentiellen Zusammenstößen für die Geschichte der Länder dieser beiden Welten.“
Das Alpengebiet ist eine Region Europas, in der sich unterschiedliche Sprachen begegnen, darunter die deutsche und die italienische Sprache. Diese besondere Perspektive hat einen Forschungsgegenstand begründet, der von Wirtschaft über Gesellschaft und Kultur oder die Entwicklung des Tourismus reicht. Das 19. Und 20. Jahrhundert sind insofern für die Region spannend, da es eine Zeit aufstrebender Nationalismen war. Der Alpenraum wurde zum Gegenstand des Wettbewerbs zwischen den Nationen, ein Wettrennen darum, wer die Natur beherrschen konnte, um zu sagen: Dieses Land gehört mir. Der 1. Weltkrieg gilt als Spitze dieses nationalen Wettbewerbs. Und er hat sich besonders stark in der Alpenregion abgespielt. Gleichzeitig wurden die Alpen aber auch ein Ort der Begegnung, denn die Kulturen haben sich gegenseitig beeinflusst.
Engländer waren die ersten Alpinisten Europas.
Wie haben sie sich beeinflusst?
Seit Beginn der Industriellen Revolution und der Urbanisierung, galt die Schweiz als Modell in der öffentlichen Repräsentation der Alpen, deren Romantisierung und literarischen Verarbeitung. Auch die ersten Skiresorts und Grand Hotels wurden erstmals in der Schweiz und später in Frankreich errichtet. Während der 20er- und 30er-Jahre hat auch der östliche Teil der Alpen ein neues Modell zu präsentieren begonnen. Seitdem galt nicht mehr nur die Schweiz als alpinistische Touristendestination, sondern auch Deutschland und Österreich. Diese kulturelle Übertragung begann ausgerechnet während des Faschismus, als der nationale Wettbewerb am Stärksten ausgetragen wurde. Da zeigt sich die Ambivalenz der Alpen zwischen Wettbewerb und kulturellem Austausch.
Und wie wird der Alpenraum heute wahrgenommen?
Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die Narration der Alpen gewandelt: Sie wurden nicht mehr als nationaler Besitz angesehen, sonders als europäisches Kulturgut. Die Konvention der Alpen von 1991 hat ebenjene „Europäisierung“ der Alpen zum Ziel. Genauso auch Projekte wie Eurregio.
Heute gelten die Alpen vor allem als touristisches Ziel. Wie kam es dazu?
Der Alpinismus wurde von den Engländern begründet. Sie waren die ersten Alpinisten Europas. Das hängt mit der Industrialisierung zusammen, die ja in Großbritannien begann: Als die Menschen nicht mehr auf dem Land, sondern in der Stadt arbeiteten, wuchs in ihnen das Bedürfnis, sich in ihrer Freizeit zu bewegen. Die Urbanisierung führte somit zur Erfindung des Sports. Als reichste und größte Nation begannen die Briten zu Reisen, andere Länder zu erkunden. Und so kam es, dass sie auch den Sport in den Alpen entdeckten, und den Alpinismus erfanden. Noch heute gibt es viele Orte und Hütten auf den Alpen, die einen englischen Namen tragen.
Die Vorstellung von Sex als reinem Akt der Reproduktion wurde in Italien lange sehr hochgehalten.
Kommen wir zur Geschichte der Sexualität: Wie kamen Sie als Historikerin zu diesem Thema?
Vor 10 Jahren beschäftigte ich mich mit der Entwicklung der Familie, ein Thema, das auch mit Sexualität zu tun hat. Irgendwann bekam ich einen Anruf mit dem Angebot, etwas zum Thema Sexualität in Italien zu schreiben. So kam ich auf diesen Schwerpunkt, der noch sehr wenig erforscht ist und den ich sehr spannend finde.
Bei der Geschichte der Sexualität erforschen Sie besonders die 70er Jahre. Warum ist dieses Jahrzehnt so relevant in der Entwicklung der Sexualität?
Die 70er Jahre repräsentieren eine Zeit des kulturellen Paradigmenwechsels: Während Sexualität bis in die 60er Jahre hinein als heiliger Akt der Ehe galt, änderte sich das Moralitätsverständnis in den 70er-Jahren und Sex wurde zu mehr als nur ein Akt der Reproduktion. Auch die öffentliche Repräsentation der Sexualität änderte sich, denken Sie nur an die Erfindung des Minirocks als Zeichen weiblicher Emanzipation. Diese Entwicklungen fanden in ganz Europa statt, doch gab es natürlich nationale Eigenheiten.
In Ihrem neuen Buch „La Sessualità degli Italiani-Politiche, Consumi e Culture dal 1945 ad oggi“ sprechen Sie von den Entwicklungen in Italien. Inwiefern unterscheiden sie sich von der deutschen Sexualgeschichte?
Durch den Vatikan und die katholische Kultur wurde das traditionelle Familienmodell und die Vorstellung von Sex als reinem Akt der Reproduktion in Italien lange sehr hochgehalten. Zum Glück hat es auch bei uns eine tiefgreifende Transformation gegeben, jedoch viel später. Fragen der Scheidung, Abtreibung oder Homosexualität waren in Italien während der 70er Jahre viel stärker tabuisiert als in Deutschland, wo diese Themen früher in die Öffentlichkeit gelangten.
Die Politisierung von Homosexualität hat in Deutschland dazu geführt, dass man darüber sprechen konnte.
Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Entwicklung zwischen den beiden Ländern?
Das liegt daran, dass Deutschland die Weimarer Republik hatte. Während dieser Jahre haben sich in Deutschland bereits Theorien entwickelt, die die Ideen einer sexuellen Befreiung förderten. Deutschland hat 1961 als erstes Land in Europa begonnen, die Pille zu verbreiten. Und es ist auch kein Zufall, dass die größten Theoretiker einer neuen Sexualität deutsch bzw. deutschsprachig sind, etwa Herbert Marcuse (Eros und Zivilisation, erstmal veröffentlicht 1955) oder Wilhelm Reich (Die Sexualität im Kulturkampf, erste Auflage 1937). Reich schrieb in seinem Buch darüber, wie faschistische Systeme den individuellen Trieb unterdrücken. Beide erlebten die Weimarer Republik mit und schrieben ihre Werke unter dem Einfluss dieser Erfahrung, die dann später in den 60er und 70er-Jahren rezipiert wurden. In Italien hingegen gingen wir nach dem ersten Weltkrieg sofort in den Faschismus über, der die italienische Kultur vom restlichen Diskurs in Europa über Geburtenkontrolle usw. abgrenzte. Noch in den 70er-Jahren war in Italien die Frage der Verhütungsmittel ein heikles Debattenthema. Die Pille wurde bei uns erst im Jahr 1971 legalisiert.
Besteht dieser kulturelle Kontrast zwischen den beiden Ländern bis heute?
Das ist schwer zu sagen. Aber in Bezug auf Homosexualität glaube ich das schon. Das Thema ist in der italienischen Presse immer noch nicht leicht zu behandeln. Die deutsche Kultur ist in dieser Hinsicht offener. Homosexualität war in Deutschland bis 1968 kriminalisiert. Diese Politisierung von Homosexualität hat aber dazu geführt, dass man darüber sprechen konnte. Solch ein Gesetz gab es in Italien nie – gerade weil man nicht wollte, dass die Gesellschaft sich damit auseinandersetzte. Ich bin auch gespannt zu sehen, wie mein neues Buch aufgefasst wird, denn die Geschichte der Sexualität ist ziemlich marginal in der italienischen Geschichtsforschung.
Welche Entwicklungen hat die Sexualität in den letzten Jahrzehnten in Italien erlebt? Ich denke etwa an die Ära Berlusconi, die eine sehr sexualisierte mediale Repräsentation von Frauen verbreitet hat.
Von einem neuen Paradigmenwechsel würde ich nicht sprechen, die Errungenschaften der 70er Jahre haben einen stabilen Wandel erzeugt, den wir heute noch genießen können. Auf der anderen Seite stimmt es, dass die Ära Berlusconi die sexuelle Revolution auf eine bestimmte Arte neutralisiert hat, denn er hat das patriarchale System und die Hierarchie der Geschlechter durch die Medien restauriert. Ich würde sagen, die sexuelle Entwicklung ist immer ein dialektischer Prozess zwischen progressiven und konservativen Kräften: In den 60er- und 70er-Jahren brauchte die Gesellschaft nach dem konservativen 19. Jh., dem Faschismus, den 50er-Jahren eine Aktualisierung und so konnte der Paradigmenwechsel stattfinden. Darauf haben die konservativen Kräfte reagiert und versucht, das alte Modell zu restaurieren. Der Neoliberalismus hat auch dazu beigetragen, er verbindet das wirtschaftliche Modell mit einem patriarchalen Geschlechtermodell, das Männer in eine prominente Rolle versetzt. Und Berlusconi repräsentiert die italienische Version des Neoliberalismus. Aber diesen Trend können wir in der gesamten westlichen Welt beobachten.
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