Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Wer sich viel in öffentlichen Räumen bewegt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann Zeuge einer Gewaltszene. Wie man sich in solchen Augenblicken verhält, kann für das Opfer einen entscheidenden Unterschied machen – und im Extremfall Leben retten.
Anlass für dieses Interview war ein persönliches Erlebnis, das bei mir viele offene Fragen zurückließ. Hatte ich richtig gehandelt? Hätte ich dem Opfer besser helfen können? Was passiert ist: Während einer Zugfahrt zwischen Bozen und Brenner kam es zu einem gewalttätigen Übergriff eines Mannes auf seine Frau. Gemeinsam mit einem anderen Passagier gelang es, dazwischenzugehen und den Täter zu beruhigen. Die Frau konnte sich in Sicherheit bringen und setzte sich zu einer anderen Menschengruppe.
Leider stellte sich heraus, dass die Passagierin, die wir beauftragt hatten, die Polizei zu rufen, dies nicht getan hatte. Die Situation war vorerst beruhigt, daher erschien die Hilfe der Polizei nicht mehr notwendig. Kurz bevor er ausstieg, fing der Täter aber noch einmal an, Passagiere, die vorher eingegriffen hatten, heftig zu beschimpfen und zu bedrohen („Wenn ich dich irgendwo allein sehe, schlage ich dir den Kopf ab“). Es fielen Sätze wie: „Das ist meine Frau, ich kann mit ihr tun, was ich will.“ Dann verließen Täter und Opfer gemeinsam den Zug.
Zurück blieb ein Gefühl der Ohnmacht. Mit Sicherheit war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Gewalt wiederholte, vielleicht geschah es noch am selben Tag. Und es war nicht gelungen, das zu verhindern. Es muss einiges falsch gelaufen sein, aber was genau? Um in Zukunft besser helfen zu können, wandte ich mich mit meinen Fragen an Lukas Schwienbacher, Koordinator der Fachstelle Gewalt beim Forum Prävention.
Herr Schwienbacher, zunächst ganz allgemein: Ich sehe, dass jemand durch einen oder mehrere Täter Gewalt erfährt. Was kann ich tun?
Auch wenn es oft tabuisiert und nicht klar ausgesprochen wird: Körperliche Nähe zum Täter oder gar Körperkontakt muss unbedingt vermieden werden! Insbesondere wenn offensichtlich Waffen im Spiel sind oder die Situation bereits eskaliert, muss man als Zeuge von Gewalthandlungen immer auf die eigene Sicherheit achten. Vor allem Männer haben oft den Reflex, selbst aktiv einzugreifen und sich in das Magnetfeld der Eskalation zu begeben. Als Außenstehender kann man nicht wissen, wie sich die Dynamik entwickelt – ein Risiko, das häufig unterschätzt wird!
Es kann als Beobachter sehr aufreibend sein, wenn jemand Opfer von Gewalt wird und man selbst nur tatenlos daneben steht …
Der Beobachter muss nicht hilf- und tatenlos zusehen. Was jeder und jede bei physischer Gewalt tun kann und auch tun muss, ist den Notruf 112 zu tätigen – und zwar sofort!
Wenn genügend Menschen vor Ort sind und diese sich in sicherer Entfernung zum Täter befinden, könnten sie dem Opfer laut zurufen, dass dieses zu ihnen kommen soll, um Schutz zu finden. In einem Zug gäbe es zum Beispiel die Möglichkeit, andere Menschen auf die Situation aufmerksam zu machen, sich direkt an den Schaffner zu wenden oder – wenn vorhanden – die SOS-Taste zu drücken.
Woher kommt der Impuls direkt einzugreifen – vor allem bei Männern?
Das hat zum einen mit bestimmten Rollenbildern zu tun, die wir in unseren Köpfen haben. Daraus ergeben sich falsche Vorstellungen darüber, was mutig und was feige ist. Auch die Medien tragen zu einem verzerrten Verständnis von Zivilcourage bei. Es wird fast immer nur von Fällen berichtet, wo Beobachter direkt eingreifen. Das sind beispielsweise Sensationsgeschichten, wo jemand einen Bankräuber erfolgreich überwältigt und an der Flucht hindert. Welche enormen Risiken mit solchen Aktionen verbunden sind, kommt in den Berichten viel zu kurz. Im Allgemeinen bringen solche Vorstellungen von Zivilcourage viel mehr Menschen in Gefahr als sie Betroffenen helfen.
Um welche Risiken geht es da?
Gewalt kann durch das physische Eingreifen Dritter erst richtig eskalieren. Wenn etwa mehrere Täter vor Ort sind und einer von diesen plötzlich bedrängt wird, könnte es durchaus sein, dass er erst recht gewalttätig reagiert oder zur Waffe greift, da er vor den Mittätern riskiert sein Gesicht zu verlieren. Zivilcourage zeigen heißt nicht, den Helden zu spielen. Zivilcourage bedeutet, hinzuschauen und dem Opfer zu helfen, ohne sich dabei selbst in Gefahr zu bringen.
Der erste Schritt ist also, die Polizei zu verständigen. Bis diese vor Ort ist, vergeht Zeit. Was kann ich tun, um inzwischen zu deeskalieren?
Es kann wirksam sein, dem Täter oder den Tätern aus sicherer Entfernung zuzurufen, dass die Polizei verständigt und schon unterwegs ist. Das bringt den Täter normalerweise aus dem Konzept oder veranlasst ihn bestenfalls zur Flucht. Auf keinen Fall sollte man den Täter vorwarnen, dass man die Polizei rufen will. Die Absicht, den Täter dadurch einzuschüchtern und ihn vor weiterer Gewaltanwendung abzuhalten, könnte sich ins Gegenteil verkehren. Die Gefahr ist groß, dass der Täter sich gegen Außenstehende richtet, um den Anruf an die Polizei zu verhindern. Und wie erwähnt: Wenn einige Menschen vor Ort sind und diese sich in sicherer Entfernung zum Täter befinden, könnten sie dem Opfer laut zurufen, dass dieses zu ihnen kommen soll. In der Folge könnte man gemeinsam Schutz in einem Geschäft, in einer Bar oder Restaurant suchen.
Was, wenn der Täter flüchtet?
In einem solchen Fall sollte der Täter auf keinen Fall von der Flucht abgehalten werden! Wird ein Täter am Fluchtversuch gehindert, kann dies schnell zu weiterer Gewalt führen. Hat sich der Täter entfernt, sollte man beim Opfer bleiben, bis die Einsatzkräfte eintreffen. In der Zwischenzeit kann es angebracht sein, das Opfer zu beruhigen oder es zu fragen, was man für die Person tun kann. Wenn die Polizei eintrifft, ist es außerdem wichtig, sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen.
Gewalt fängt auch schon verbal an, mit Anpöbelungen, Belästigungen oder rassistischen Bemerkungen.
In öffentlichen Verkehrsmitteln beispielsweise kann man der betroffenen Person helfen, indem man sie gezielt anspricht und ihr einen Sitzplatz neben sich anbietet oder so tut als ob man sie kennt und in ein Gespräch verwickelt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, gemeinsam mit dem Ofer bei der nächsten Haltestelle auszusteigen. All diese Dinge können die Täter überraschen, irritieren und somit abhalten weiterzumachen. Wichtig ist, die Situation zügig, nicht flüchtend und ohne Blickkontakt mit dem Täter zu verlassen. Auch verbale Attacken oder Beleidigungen sind unbedingt zu vermeiden.
Macht es noch Sinn, die Polizei zu rufen, wenn die Situation schon deeskaliert ist?
In diesem Fall kann es natürlich auch noch Sinn machen, die Polizei zu rufen. Generell ist es aber immer der erste und nicht der letzte Schritt, die Polizei zu rufen. Der sofortige Anruf bei der Polizei kann verhindern, dass es zu einer Eskalation und somit zu einem erhöhten Gefahrenpotenzial für alle kommt. Es ist nicht sinnvoll abzuwarten in der Hoffnung, dass sich die Situation beruhigt. Auch ist es besser, die Polizei selbst zu rufen, anstatt diese Aufgabe zu delegieren. Man kann sich nämlich nie zu hundert Prozent darauf verlassen, dass die beauftragte Person tatsächlich die Polizei anruft – wie es ja auch in Ihrem Fall nicht eintraf. Sollte sich die Situation vorübergehend beruhigen, ist es im Zweifelsfall dennoch besser, die Polizei zu verständigen.
In meiner Geschichte kam noch die Tatsache hinzu, dass die Gewalt wahrscheinlich kein einmaliges Ereignis war. Wie kann man hier vorgehen?
In Ihrer Geschichte greifen die Probleme „Gewalt in der Öffentlichkeit“ und „häusliche Gewalt“ ineinander über. In der akuten Gefahrensituation ist es auch hier entscheidend, die Polizei zu Hilfe zu rufen. Was die nachhaltige Lösung des Problems betrifft, ist es eine sehr schwierige und heikle Angelegenheit. Um einer Person effektiv zu helfen, muss diese auch selbst bereit sein, Hilfe anzunehmen. Es kann also von Vorteil sein, die betroffene Person darauf hinzuweisen, dass sie sich an die Polizei und/oder an eine Beratungseinrichtung wenden soll, falls sich der Übergriff wiederholt. Wie man aber bei häuslicher Gewalt konkret helfen kann, ist sehr situationsbezogen und auch delikat. Wenn die betroffene Person in der Folge nicht beschützt ist, kann der Versuch ihr zu helfen sogar gefährlich werden.
In der Theorie klingen Ihre Tipps und Hinweise sehr einleuchtend. In einer realen Notsituation fühlen sich viele Menschen dennoch überfordert. Wie kann man besser vorbereitet sein?
Für den Ausnahmefall ist es sinnvoll, Gewaltsituationen zum Beispiel in einem öffentlichen Verkehrsmittel im Kopf durchzuspielen und zu überlegen, wie man in so einem Fall handeln könnte. Voraussetzung dafür ist, die Empfehlungen für die Deeskalation von Gewalt zu berücksichtigen.
Bei Fällen häuslicher Gewalt können sich Betroffene und Zeugen an folgenden Beratungsstellen wenden:
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support