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Wie gut kennst du deine Nachbarn? Wünscht du dir mehr Gemeinschaft oder bist du froh, wenig mit ihnen zu tun zu haben? In einer immer populärer werdenden Form des Wohnens, dem Cohousing, wird Nachbarschaft nicht nur großgeschrieben, sondern mit Ausrufezeichen.
Eine Südtirolerin, die sich besonders für solche Wohnprojekte interessiert, ist Mirijam Mock. Die Soziologin ist Mitglied des Projekts Gleis 21. Diese Baugruppe nimmt sich ein Beispiel an bereits realisierten Cohousing-Projekten und macht sich für einen nachhaltigen Lebensstil stark. Eines dieser bestehenden Wohnprojekte ist Wien am Nordbahnhof. Die Bewohner planten ihr Haus mit, wie beim Cohousing üblich. Beim Betreten spürt man sofort eine offene Atmosphäre. Lichtdurchflutete Räume und Trennwände aus Glas. Viel Holz und eine moderne Architektur. Die Bewohner zahlen keine Miete, sondern Nutzungsentgelt. Organisiert ist die Gemeinschaft als Verein, das Haus ist kollektives Eigentum. Von 7 Monaten bis 72 Jahre sind alle Altersgruppen in der Gemeinschaft vertreten.
In der Küche steigt Dampf aus dem Kochtopf. Ein langhaariger Mann schnippelt Gemüse auf der hölzernen Arbeitsplatte. Seine Frau stillt auf einer der gemütlichen Sitzgelegenheiten ihr Kind. Von hier aus sieht man durch eine Glaswand in den Kinderspielbereich, der direkt an den Ess- und Kochbereich anschließt. „Unsere Gemeinschaftsküche ist das soziale Herz des Gebäudes“, meint Markus Zilker, Bewohner und Architekt der Wohnanlage. „Es gibt bei uns jeden Tag einen Mittagstisch. Wer möchte, kann sich beteiligen und mitessen“, grinst er und deutet auf einen ungefähr zehn Meter langen Esstisch. Die einzelnen Wohneinheiten haben natürlich auch eigene Küchen.
Ein wichtiger Aspekt beim Cohousing: Förderung und Umsetzung von nachhaltigem Leben. Ressourcen werden gemeinsam genutzt – wie die sechs Autos für die gesamte Wohnanlage. Das spart nicht nur Geld in der Anschaffung und bei der Erhaltung, sondern auch in der Errichtung von Parkplätzen. Das Carsharing ist in der Gruppe selbstorganisiert.
Die Werkstatt im Keller des Hauses und das Werkzeug nutzt man ebenfalls gemeinsam. Filmabende, Konzerte oder Yoga-Kurse finden im großen Veranstaltungsraum statt. Das ungefähr 50 Quadratmeter große Zimmer ist bis auf eine HiFi-Anlage leer. Es kann auch extern angemietet werden. „Die Bewohner freuen sich, wenn die Räumlichkeiten hier optimal genutzt sind. Ganz nebenbei senkt der Erlös auch die Betriebskosten“, erläutert Markus Zilker.
Der Hausflur unterscheidet sich nicht von herkömmlichen Wohnhäusern. Lange, helle Gänge und Zugänge zu den einzelnen Wohnungen. Was auffällt? Die kleinen Whiteboards an jeder Wohnungstür. Darauf: gemalte Herzchen, Blümchen oder Nachrichten von und für die Bewohner.
Vom obersten Stock aus gelangt man direkt auf die grasbewachsene Dachterrasse. Holz und Grün prägen das Bild. Der Blick schweift über die Skyline Wiens und den angrenzenden Park. Fast ein Viertel der gesamten Fläche des Hauses nutzen die Bewohner gemeinschaftlich – als Raum der offenen Kommunikation.
Ein eigener Bereich am Dach beheimatet eine Sauna und eine Wanne mit Sternblick. Zugang hat man hier nur als Bewohner oder Hausgast. Eine andere Tür des Dachgeschosses führt in die Gemeinschaftsbibliothek. Gemütliche Bänke und Sesseln, der Ausblick durch die Glasfront und eine reiche Auswahl an Büchern füllen den Raum.
„Das Leben hier ist gemeinschaftlich erfüllend, aber auch anstrengend. Man muss auch immer für die Gruppe mitdenken“, fasst Markus Zilker den Alltag in der Cohousing-Gemeinschaft zusammen. Entscheidungen fallen soziokratisch. Das heißt, alle Beteiligten sind gleichwertig. Ein Beschluss wird nur dann getroffen, wenn keiner der Bewohner einen schwerwiegenden und argumentierten Einwand hat.
Fernab von solchen Entscheidungen gibt es im Haus genug zu tun. Bewohner müssen Anlage und Gemeinschaftsleben in Schwung halten. Darum bringt sich jeder Erwachsene mit elf Stunden Engagement im Monat ein. Das ist verpflichtend. Markus meint dazu: „Man muss auf jeden Fall auch der Typ dazu sein, sonst wird man hier nicht glücklich.“
Die Zeit kann auch für Solidaritätsprojekte genutzt werden. Der solidarische Aspekt war für die Bewohner von Anfang an ein wichtiges Thema. Cohousing-Projekte stehen oft unter dem Verdacht, nur etwas für Wohlhabendere zu sein. Im Wohnprojekt Wien am Nordbahnhof gibt es auch günstigere Wohneinheiten und eine WG für Junge im Haus. Diese werden von der Gemeinschaft mitfinanziert. Aktuell lebt auch eine syrische Flüchtlingsfamilie in einem der Gästeappartments.
Die Baugruppe 21 rund um die Südtirolerin Mirijam Mock plant eine Wohnanlage im Zentrum Wiens. Fertig soll das Gebäude 2018 sein. Neben Carsharing ist für das Projekt Gleis 21 auch eine Foodcoop geplant: Lebensmittel werden in der Gemeinschaft gekauft, von lokalen Bauern. Auch in der Bauweise hat man sich für Nachhaltigkeit entschieden – ein Holzhaus mitten in Wien.
Wie die meisten der Bewohner des Wohnprojekts Wien am Nordbahnhof ist auch Mirijam das Landleben gewöhnt. „Wo ich aufgewachsen bin, kennt man sein Umfeld. Für mich war es normal, seine Nachbarn zu fragen, ob sie mit Eiern oder Milch aushelfen können. In der Großstadt wird man dafür eher komisch angesehen. Daran musste ich mich erst gewöhnen“, erzählt sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Eine weitere Südtirolerin, die sich besonders für Cohousing-Projekte interessiert, ist Itta Maurer. Die Architektin aus Bozen befasst sich seit Jahren mit diesem Konzept des Wohnens. Aber woher stammt das Cohousing eigentlich? Die Grundidee kommt aus Dänemark. Familien entwickelten dort die ersten Wohnprojekte. Ein wenig ausgeprägtes Gemeinwesen macht unzufrieden – das war anfänglich der Antrieb.
Über die Jahre feierten Projekte in Skandinavien und Holland große Erfolge. Das Konzept des Cohousing verbreitete sich in anderen Teilen der Welt. USA, Kanada, Australien, England und Österreich gehören dazu. In Südtirol haben sich solche Projekte noch nicht etabliert. Itta Maurer ist überzeugt, dass Cohousing auch in ihrer Heimat eine Zukunft hat: „Ich denke, dass es wichtig ist, aus alten Mustern auszubrechen und neue Formen des Zusammenlebens auszuprobieren. Von öffentlicher Hand kommt aktuell nur wenig Unterstützung für solche Projekte.“
Wichtig findet sie die Rolle von Architekten und Mediatoren beim gesamten Entstehungsprozess eines solchen Projekts. Die Suche nach Baufirmen, Grundstücken und geeigneten Bewohnern kann sich schwierig gestalten und benötigt viel Kraft. Das Endresultat kann so unterschiedlich sein wie die Bewohner. Zum Beispiel treffen Jung und Alt in manchen Cohousing-Projekten aufeinander. Die jüngeren Bewohner helfen hier den älteren, ihren Alltag zu bewältigen. Dafür kann ein Teil der Miete übernommen werden. In einer anderen Form des Cohousing leben Inländer mit Asylanten zusammen und unterstützen diese bei organisatorischen Aufgaben und Amtswegen.
„Ich könnte mir auch vorstellen, in Südtirol bei einer Baugruppe dabei zu sein“, erzählt Mirijam Mock. Cohousing wäre für sie ein Grund, zurück nach Bozen zu gehen. Ein Leben in der Anonymität der Stadt reizt sie nicht, sie will wissen, wer ihre Nachbarn sind.
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