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Teil zwei der Artikelserie zeigt, wie Migration in Südtirol aus dem Blickwinkel der ethnozentrierten Geschichtsschreibung interpretiert wurde. Dem wird der migrationsgeschichtliche Ansatz gegenübergestellt. Ein Überblick über die Südtiroler Migrationsgeschichte rundet den Artikel ab.
Die Migration in Südtirol im 20. Jahrhundert wurde in der Forschung nicht selten als Instrument zur Steuerung ethno-nationaler Transformationsprozesse interpretiert. Dementsprechend wurde Zuwanderung aus italienischen Provinzen als Italienisierung interpretiert, wodurch sich eine intensivere Beschäftigung mit den Wanderungsgründen, den individuellen Migrationsentscheidungen und den Fragen nach den Perspektiven der Migrierenden zu erübrigen schien.
Nun war Zuwanderung italienischer Familien nach Südtirol tatsächlich eine Strategie des Faschismus zur sprachlichen und kulturellen Assimilierung Südtirols, die einherging mit der Industrialisierung der Region. Beide waren untrennbar miteinander verknüpfte Ziele unter der Herrschaft von Benito Mussolini. Und die Bevorzugung der italienischen Bevölkerung im Wohnbau, in der Industrie, in der Verwaltung, gepaart mit dem faktischen Ausschluss der Deutschsprachigen von der Beamtenlaufbahn, aber auch die italienische Sprache auf Ämtern oder die Gängelei und Diskriminierung durch nationalistische italienische Beamte, ergänzt um die Namensänderungen in Italienisch, führten in der einheimischen Bevölkerung zu wachsender Frustration.
Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann sich die Situation zu verändern, und obwohl mancher Entscheidungsträger in Rom gerne die Assimilierungspolitik Mussolinis fortgesetzt hätte, wurden die staatlichen Maßnahmen dazu schwächer. An ihre Stelle traten nun zunehmend die Dynamiken des mehr und mehr internationalisierten Marktes, der neue Rahmenbedingungen für Migration schuf. Es dauerte aber noch Jahrzehnte, bis sich diese ökonomischen und dann vor allem auch die individuellen Aspekte von Migration stärker in der öffentlichen Debatte niederschlagen sollten. Denn während die Zuwanderung auch nach 1945 fast ausschließlich als politisches Instrument der Italienisierung interpretiert wurde, galten auch die deutsch- und ladinischsprachigen Ausgewanderten nicht als Migranten, sondern als „Heimatferne“. Damit sollte sprachlich ausgedrückt werden, dass diese Menschen Südtirol hatten verlassen müssen, im Herzen jedoch untrennbar mit ihrer Herkunft verbunden blieben.
Die deutsch- und ladinischsprachigen Ausgewanderten galten nicht als Migranten, sondern als „Heimatferne“.
Hier können Ansätze aus den Mobility Studies neue Einsichten ermöglichen, indem das Narrativ der „Heimatfernen“ durch Kontexte der Mobilität von Menschen, Gütern, Dienstleistungen und Finanzen im sich abzeichnenden gemeinsamen Binnenmarkt der EG erweitert wird. Dann wird aus der ethnonationalen, romantischen Verklärung des fern seiner Heimat lebenden Südtirolers, der gerne zurückkehren möchte, aber nicht kann, der Blick auf ein Individuum mit Entscheidungen, die sich an ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und persönlichen Perspektiven orientieren. Das erweitert das Spektrum an Migrationsgründen um die zuvor ausgeschlossene Wahrnehmung, dass Menschen nicht nur wandern, weil sie müssen, sondern auch, weil sie wollen.
Der migrationshistorische Vergleich mit Wanderungsbewegungen anderer ethnischer Gruppen, an anderen Orten und aus anderen Ländern zeigt zudem, dass die Südtirolerinnen und Südtiroler, die in den 1950er-Jahren in die BRD ausgewandert sind, vergleichbare Biographien und Schicksale aufweisen wie Menschen aus Jugoslawien, der Türkei oder Spanien, die im selben Zeitraum ebenfalls nach Westdeutschland migrierten.
Während aber in der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler Öffentlichkeit die „Heimatfernen“ als Individuen mit persönlichen Entscheidungen wahrgenommen wurden, blieb den nach Südtirol eingewanderten Italienerinnen und Italienern diese Anerkennung verwehrt. Sie wurden nicht als Menschen mit individuellen Entscheidungen betrachtet, sondern als Ausführende eines übergeordneten nationalistischen Assimilierungsplans. Zwar existierte die Absicht, Südtirol ethnisch zu assimilieren, in der römischen Politik auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zeit lang fort, aber sie wurde im Kontext der Auseinandersetzungen um Autonomie schwächer.
Doch auch in einem ethnonationalen Migrationsregime – und als solches kann die mehrere Jahrzehnte anhaltende römische Assimilierungspolitik gegenüber Südtirol bezeichnet werden – wandern Menschen nicht einfach auf Anweisung von Regierungen. Insofern bleibt die Untersuchung der heterogenen Migrationsmotive und die Dokumentation der Migrationsgeschichten der nach Südtirol eingewanderten Italienerinnen und Italiener ein wichtiges Forschungsziel der Zeitgeschichte.
Jenseits der ethnonationalen Zuordnung deutsch – ladinisch – italienisch wurden nach Südtirol eingewanderte Menschen über viele Jahrzehnte ignoriert.
Weil das Phänomen in der deutschsprachigen Öffentlichkeit über Jahrzehnte aus ethnozentriertem Blickwinkel betrachtet wurde, lag der Fokus aber kaum je auf den individuellen Geschichten oder auf den Wanderungsbedingungen als vielmehr auf den statistischen Wanderungsauswirkungen. Der methodische Ansatz dieser Art von Geschichtsforschung entstammte meist der politischen Historiographie der Autonomiegeschichte, der auch die Migration untergeordnet war. Dadurch erübrigten sich nicht nur bestimmte Fragestellungen oder auch Vergleiche der Südtiroler Migration mit anderen Regionen der Welt: Jenseits der ethnonationalen Zuordnung deutsch – ladinisch – italienisch wurden nach Südtirol eingewanderte Menschen auch über viele Jahrzehnte von der Öffentlichkeit, der Geschichtsschreibung und der Geschichtsforschung ignoriert.
Der Zugang der vergleichenden historischen Migrationsforschung, wie er hier für die Geschichte Südtirols vorgeschlagen wird, beleuchtet die blinden Flecken der Südtiroler Geschichtsforschung. Durch den Ansatz einer transnationalen migrationshistorischen Perspektive wird die Region nicht nur als ein Kulturraum sichtbar, in dem – übrigens schon seit Jahrhunderten – Menschen unterschiedlichster Herkunft leben, es tauchen auch neue Fragestellungen auf, die zusätzliche Erkenntnisse über die Vergangenheit des Landes geben. Als vielversprechend zum Verständnis der Südtiroler Geschichte des 20. Jahrhunderts, die auch und vor allem eine Migrationsgeschichte war, erweist sich dabei das Konzept des “Migrationsregimes” als Beobachtungsperspektive. Doch was ist darunter zu verstehen?
Das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück geht davon aus, dass das Handeln von Migrantinnen einzeln ebenso wie in der Gruppe unter Bedingungen geschieht, die von der Aufnahmegesellschaft vorgegeben sind, wie z. B. Regulierungen, Kontrollen o. ä.. Die Wechselwirkungen dieser Faktoren mit den Entscheidungen und Handlungen der Migranten werden als Migrationsregime bezeichnet. Die zentrale Frage lautet, wer aus welchen Gründen, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen welche Migrationen und ihre Folgen produziert, beeinflusst und beobachtet.
Für Südtirol führt die Beantwortung dieser Fragen weg von einer unspezifisch ethnopolitischen Wahrnehmung und hin zur differenzierteren Beobachtung von Migrationsprozessen von Individuen. Diese geht Hand in Hand mit der Analyse der Migrantennetzwerke. So wird bei näherer Betrachtung der bald nach 1945 gegründeten italienischen Vereinigungen in Bozen klar, dass es keine auf staatlicher Steuerung beruhende, politisch bedingte homogene italienische Binnenwanderung gab, sondern stattdessen eine auf individuellen Entscheidungen fußende Arbeitsmigration von Menschen, die sich kulturell als sehr unterschiedlich wahrnahmen und entsprechend voneinander unabhängige Kulturvereine gründeten. Gleichzeitig wurde die individuelle Migration aber wieder von staatlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. Die ab den 1980er-Jahren einsetzende internationale Migration wurde hingegen zu Beginn von autochthonen Vereinen aufgefangen, während sich später – analog zu den italienischen Vereinen – auch Migrations-Vereinigungen bilden.
SVP und “Dolomiten” fürchteten ein Übergreifen linker Gedanken auch auf die deutschsprachige Arbeiterschaft.
Konkret lässt sich anhand der Migration nicht nur ein Verständnis für unterschiedlich gewichtete gesellschaftliche Akteure im Kontext einer mehrsprachigen Region gewinnen, sondern auch die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Provinz im 20. und 21. Jahrhundert nachzeichnen. Ein Beispiel: Die Südtiroler Volkspartei (SVP) und die ihr nahestehende Tageszeitung Dolomiten bekämpften die italienische Arbeitsmigration in den 1950er-Jahren nicht nur ethnopolitisch als Versuch einer italienischen Majorisierung Südtirols, sondern wegen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auch ideologisch, weil man – fast im Geiste des McCarthyismus – eine Zunahme des Kommunismus in Südtirol und ein Übergreifen linker Gedanken auch auf die deutschsprachige Arbeiterschaft befürchtete.
Doch die Migrationsgeschichte bietet nicht nur einen Erkenntniszuwachs hinsichtlich der arbeitsbedingten Mobilität des 20. Jahrhunderts – wobei diesbezüglich die regionalen Auswirkungen, welche die Schaffung des europäischen Binnenmarkts hatte, noch genauer zu untersuchen wären. Sie kann auch in Bezug auf politische Beteiligung und Good Governance Erhellendes zutage fördern, wie das folgende Beispiel zeigt: Bis in die frühen 2000er-Jahre lag die Vertretung der Interessen von Eingewanderten meist in den Händen von aus der Aufnahmegesellschaft entstandenen Organisationen für Migranten. Auch die als Reaktion auf den Wunsch nach mehr Partizipation von manchen Gemeinden geschaffenen beratenden Ausschüsse und Beiräte für Eingewanderte wurden bislang sowohl von diesen als auch von der Gemeindeverwaltung nur als sehr schwache Form politischer Teilnahme betrachtet. Migrationsorganisationen (hier als Synonym zu Organisationen von Migrantinnen und Migranten verwendet) werden gar nach wie vor kaum wahrgenommen.
Migration ist eine anthropologische Konstante, der Mensch war und ist ein Wanderer, ein homo migrans. Dies gilt gerade für den ländlichen Raum und nicht zuletzt für die Südtiroler Geschichte der vergangenen 150 Jahre. Beispiele dafür sind die Bozner Textilfabrik Mitte des 19. Jahrhunderts, die arbeitsbedingte Kinder- und Jugendmigration der sogenannten Schwabenkinder, die Erste Option, die faschistischen Semirurali, die (zweite) Option von 1939 oder das Phänomen der sogenannten Heimatfernen. Die großen Wanderbewegungen in der Region basierten durchwegs auf mehrschichtigen Voraussetzungen. Rund zwei Drittel der Bevölkerung war bis in die 1950er-Jahre im Primärsektor tätig, der immer weniger Perspektiven bot. Durch Rückgang der Kindersterblichkeit bei hoher Geburtenzahl entstand zunehmend Abwanderungsdruck. Zugleich wirkte die Möglichkeit, in den neuen Industriegebieten Merans und Bozens eine Arbeit zu finden, verbunden mit einer entsprechenden Wohnbaupolitik, auch und vor allem anziehend auf Arbeitssuchende außerhalb der Provinz. Der Faschismus bot in diesem Fall italienischen Zuwandernden positive Rahmenbedingungen, während die wachsende deutsch- und ladinischsprachige Landbevölkerung aufgrund systematischer Benachteiligung durch die staatlichen Organe und damit indirekt auch aufgrund fehlender Facharbeiterausbildung und mangelnder Italienischkenntnisse nach anderen Perspektiven suchte.
Doch nicht nur Südtirol als Provinz, auch Italien als Staat weist bis in die 1970er-Jahre hinein einen negativen Wanderungssaldo auf. Dies hängt damit zusammen, dass der Stiefelstaat lange Zeit ein Auswanderungsland war und Rom wiederholt Verträge mit anderen Staaten zur Mobilitätserleichterung seiner nach Arbeit und Perspektiven suchenden Bevölkerung schloss. So war Italien das erste Land, mit dem die in der Zeit des Wirtschaftswunders nach Arbeitskräften in der Industrie suchende BRD im Dezember 1955 ein Anwerbeabkommen unterschrieb. Für Rom entsprach diese Vereinbarung bereits einer gewissen historischen Kontinuität, knüpfte sie doch an die Abkommen von 1919 (mit Frankreich), 1937 (mit NS-Deutschland) und 1946 (erneut mit Frankreich) an.
Italien ist eine sogenannte verspätete Einwanderungsgesellschaft, und dasselbe gilt für Südtirol.
Österreich und vor allem das Bundesland Tirol wiederum federn lange Zeit ihre eigene Wirtschaftsmigration in die BRD und in die Schweiz durch Arbeitsbewilligungen für Südtiroler ab. So holt der nördliche Nachbar schon 1961 1.400 Personen im Baugewerbe, darunter 494 aus Südtirol, 546 aus dem Trentino und weitere 156 aus Venetien und der Lombardei. Und 1962 bewilligt Tirol 6.039 Beschäftigungsgenehmigungsanträge, darunter 3.871 für italienische Staatsbürgerinnen, von denen die meisten aus Südtirol kommen. Ab Mitte der 1960er-Jahre sinkt die Zahl der Arbeitsbewilligungen für Italiener als Folge der Anwerbeabkommen, die Österreich mit der Türkei und Jugoslawien abgeschlossen hat, und beträgt 1970 noch 1.183. Und während die Alpenrepublik 1973 mit rund siebeneinhalb Millionen Einwohnern 230.000 ausländische Beschäftigte (ca. drei Prozent) aufweist (davon 78,5 Prozent aus Jugoslawien), erreicht Italien denselben Prozentsatz an Migrantinnen erst zu Beginn der 2000er-Jahre.
Italien ist eine sogenannte verspätete Einwanderungsgesellschaft, und dasselbe gilt in gewissem Maße für Südtirol – weniger in dem Sinne, dass es keine Zuwanderung gegeben hätte, sondern vielmehr als Feststellung der Selbstwahrnehmung der Südtirolerinnen und Südtiroler. Das hängt auch, aber nicht nur damit zusammen, dass die Provinz Bozen bis Anfang der 1990er-Jahre einen negativen Wanderungssaldo aufwies – mehr Menschen verließen die Region als einwanderten. Doch seit 30 Jahren ist auch Südtirol nun ein Einwanderungsland geworden. Wie es dazu kam und welche Schritte zur Veränderung von Migration führten, darum geht es in Teil drei der Serie.
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