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Das erste Kammermusikstück beginnt langsam. In einem gemächlichen Andante fangen die Töne an, den Spiegelsaal im Grand Hotel Toblach abzutasten. Noch bevor man sich an das gehende Tempo der Streichinstrumente gewöhnt, springen sie schon in einen schnelleren Schritt und erreichen munter das kreisförmig um die vier Musikerinnen angereihte Publikum. Wenige Takte später fällt das Stück schon wieder in einen trägen Trab zurück. Wie das hereinscheinende Sonnenlicht immer wieder von Wolken durchbrochen wird, hacken sich die Tempi dieses Streichquartetts in kürzester Zeit gegenseitig ab.
Diese extremen Temposchwankungen klingen für moderne Ohren etwas ungewohnt, gehörten aber zum Ton der romantischen Musik um 1900 – jener Epoche, in der Gustav Mahler wirkte. Den Wiener Originalklang will die Gustav Mahler Academy ins Jahr 2021 holen und spielt dafür Kammermusik böhmisch-österreichischer Komponisten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – mit Originalinstrumenten und damit einhergehend alter Spieltechnik.
„Eine ganz feine, deutliche Artikulation“, „ein Klicken vor jeder Note“, „Ein expressiver, nasaler Klang“ – mit diesen Worten beschreibt der Koordinator der dreiwöchigen Sommer-Akademie Philipp von Steinaecker die Musik, die die Instrumente aus Gustav Mahlers Zeiten produzieren. “Das sind die Klänge, die diese Komponisten im Ohr hatten, als sie diese Lieder komponierten”, fügt er hinzu und meint damit Janáček, Dvořák und Schubert – die großen Komponisten der Romantik im ehemaligen Kaiserreich Österreich.
Ihre Werke geben die jungen Musikerinnen und Musiker der Mahler Academy in Toblach zum Besten. Doch nicht nur wiedergeben, sondern erleben sollen die Studierenden die Musik, die sie spielen, und sich daher an die Originalinstrumente aus dem 19. Jh. wagen. “Nur drüber lesen oder Aufnahmen hören, ist nicht dasselbe”, fügt von Steinaecker hinzu.
“Das sind die Klänge, die diese Komponisten im Ohr hatten, als sie diese Lieder komponierten.”
Die Streichinstrumente werden zwar heute noch nach demselben Modell gebaut, wie die ersten Geigen, Cellos und Kontrabasse vor 300 Jahren. Doch wurden deren Holzbäuche früher nicht von Stahlsaiten durchzogen, sondern von gewaschenem, gedrehtem Schaftsdarm. Mit ebenjenen Darmsaiten spielen die jungen Musizierenden der diesjährigen Gustav Mahler Academy.
Für die jungen Nachwuchstalente ist das eine Herausforderung: “Bei den Darmsaiten muss man unheimlich aufpassen, dass es nicht gleich anfängt zu kratzen und zu quietschen. Das passiert viel schneller als bei Stahlsaiten”, erzählt die 23-jährige Cellistin Theresa Schneider, die in Oslo an der norwegischen Musikhochschule studiert.
“Man versteht, warum diese Saiten irgendwann nicht mehr benutzt wurden”, bestätigt von Steinaecker, der selbst Cellist ist und verschiedenste internationale Orchester dirigiert hat. Zu kompliziert sei es, darauf zu spielen, zu schnell verstimmten sich die Instrummente. Zudem verlangten die alten Instrumente eine andere Handhabe, bestätigen Musizierende wie Dozierende. Was die jungen Talente durch jahrelange Übung ihren Händen antrainiert haben, müssen sie nun neu denken; mit dem Bogen anders in die Saite reingehen, zum Beispiel, mit einer anderen Geschwindigkeit, als man es gewohnt ist, erzählt Theresa.
Liana Leßmann studiert an der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker und spielt für die Mahler Academy zum ersten Mal auf einer historischen Klarinette. Im Gegensatz zu den Streichinstrumenten, die teilweise 300 Jahre lang gleichgeblieben seien – abgesehen von den Saiten – hätten sich Klarinetten und allgemein Holzbläser in den letzten 50 Jahren noch weiterentwickelt, erklärt die 27-jährige Klarinettenspielerin. Sie muss sich somit auf einem völlig anderen Instrument orientieren, denn viele Klappen, die bei den modernen Klarinetten dazukamen, gab es früher nicht. „Heute haben wir eine super getunete Klarinette, alles geht. Bei den historischen Klarinetten fehlen alle diese Extras.“ Wer schon einmal von einer modernen Digitalkamera zu einem analogen Fotoapparat umsteigen musste, kann sich in etwa vorstellen, wie sich das anfühlt.
Seit drei Wochen spielen die jungen Musikerinnen und Musiker erst gemeinsam, doch wirken sie auf die Zuschauer wie ein jahrelang eingespieltes Team. Jeder Takt stimmt zeitlich exakt, atmend koordinieren sie jeden Einsatz richtig, Blicke dazwischen, hier und da ein flüchtiges Lächeln zeugen von gegenseitiger Aufmunterung, Stärkung, Komplizenschaft.
“Das kommt, weil wir von morgens bis abends miteinander geprobt haben”, sagt Liana etwas erschöpft lachend, aber glücklich. “Es war eine sehr intensive Zeit”, fügt Theresa hinzu, “sehr lehrreich, und wir haben viel mitgenommen.” Nicht zuletzt die Bekanntschaft neuer, internationaler Leute. Rund 800 junge Studierende aus ganz Europa hatten sich für die Gustav Mahler Academy beworben. Das künstlerische Niveau, die Determination ist dementsprechend hoch, bestätigt Theresa: “Da ist eine Energie da, der Wille, sich zusammenzusetzen und dieses Stück zu spielen.”
“Heute haben wir eine super getunte Klarinette, alles geht. Bei den historischen Klarinetten fehlen all diese Extras.”
Die Gustav Mahler Academy in Bozen versammelt seit 1999 jährlich junge musikalische Talente aus ganz Europa. In drei Wochen sammeln die Teilnehmenden Erfahrung von berühmten Professorinnen und Professoren aus den besten Orchestern und Musikschulen Europas – und geben das Gelernte in Konzerten der Landeshauptstadt wider.
Seit einigen Jahren reist die Gustav Mahler Academy einmal für ein Sinfonie-Konzert nach Toblach. Dieses Jahr ist die Zusammenarbeit mit dem Grand Hotel Toblach besonders eng. Denn daraus soll bald ein permanentes Orchester werden, erklärt von Steinaecker: “Wir planen in Toblach das Grand Hotel Orchester zu formieren, wo wir auf Originalinstrumenten spielen werden.”
Die Zusammenkunft der jungen Nachwuchstalente in der Pustertaler Mahler-Hochburg soll somit ein Vorspiel sein für die künftig langfristige Zusammenarbeit. Denn mit in die Besatzung des geplanten Grand Hotel Orchesters sollen – neben etablierten Musikern – auch die Studierenden der Gustav Mahler Academy.
Instrument für Instrument kauft sich dafür das Kulturzentrum ein Repertoire an historischen Klarinetten und Co. aus europäischen Antiquitätenläden zusammen – teilweise nach Originalmodel der Instrumente, die Gustav Mahler 1907 für die Wiener Staatsoper kaufte – und sorgt für die richtige Lagerung der alten Teile. Denn ihr Klang wird in Zukunft öfter die Konzertsäle im Land und darüber hinaus erfüllen.
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