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Anna Mayr
Veröffentlicht
am 12.07.2021
LebenStraßenzeitung Zebra

„Lai top“ – Lass es zu!

Veröffentlicht
am 12.07.2021
Schwitzen, alten Geistern nachspüren und auf Grenzwanderung gehen: zebra.-Autorin Anna Mayr hat sich in Lettland als Pirtniek versucht.
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Māra Zute taucht die Birkenbüschel in den Wasserkübel zu ihren Füßen. Mit kreisenden Bewegungen wedelt die Pirts-Meisterin den heißen Dampf über den nackten Mann, der vor ihr auf dem Holztisch liegt: Zwei Büschel unter dem Kopf und unter den Füßen, zwei bedecken sein Gesicht und zwei seine Mitte. Selbst das Gras unter ihren Füßen scheint zu dampfen, während die 30-Jährige, Augen geschlossen, mit dem „Pirts Gariņš“, dem Geist der Pirts-Hütte, Zwiesprache hält. Die Luft wird knapp im Rundzelt, über das wir provisorisch eine transparente Plastikplane gespannt haben. 60 Grad und fast 100 Prozent Luftfeuchtigkeit in einem Zelt, das wohl eher für fünf Personen gedacht ist als für neun. Ich höre den pfeifenden Atem eines Pirts-Genossen und wie sich die Finger der Frau neben mir ins Zeltgestell krallen. Vor dem nächsten Hitzeschwall gewinnt mein innerer Schweinehund. Wissend, dass ich in einigen Stunden Māras Rolle einnehmen soll, ducke ich mich ins Freie.

Meine sieben Kurskolleginnen und Kollegen aus der Schweiz, Holland und Deutschland, die als hartgesottene Saunameisterinnen und Saunageher erst Minuten später zu mir auf die Gartenwiese trödeln, sind demselben Kursangebot nach Lettland gefolgt, wie ich. Jahrelang hat sich Māras Vater, Pirts-Meister Nauris Zutis, dafür eingesetzt, die fast vergessene Saunatradition in Lettland wiederzubeleben. 2011 gründet er die „PirtsSkola“, die erste staatlich anerkannte Sauna-Schule in der Hauptstadt Riga. Um seiner Tochter die alten Pirts-Hütten-Rituale näher zu bringen, organisiert er für sie ein Sauna-Initiationsritual. Māra ist wenig begeistert. „Sauna hat mich wenig interessiert, ich war jung, wollte feiern und mein Leben genießen“, erinnert sie sich. Zuerst lehnt sie ab. Um endlich ihre Ruhe zu haben, sagt sie schließlich zu. „Nach drei Stunden in der Pirts-Hütte war es um mich geschehen. Es hat mein Leben für immer verändert!“

Heute ist Māra Saunameisterin in einer Schweizer Luxustherme. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Benoit Le Bock hat sie den englischsprachigen Ableger der Pirts-Skola „Pirts Spirit“ ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Das alte lettische Kulturgut europaweit bekanntmachen. Als ich in Südtirol auf einen ihrer Flyer stoße, denke ich nicht zweimal nach. Auf der Suche nach einer Auszeit reise ich ohne bedeutende Saunaerfahrung aufs baltische Land. Fünf Tage lang campiere ich in Māras Garten, in einem Vorort von Riga, dessen Namen ich nie erfahren werde; um am längsten Tag des Jahres, dem 21. Juni, selbst als „Pirtniek“, also als Pirts-Lehrling, ein lettisches Saunaritual durchzuführen und mich einem zu unterziehen.

„Nach drei Stunden in der Pirts-Hütte war es um mich geschehen. Es hat mein Leben für immer verändert!“

Vier Stunden vor dem großen Moment bekomme ich wackelige Knie. Weder weiß ich, ob ich als gelegentliche Saunageherin die Hitze während des Rituals überstehen werde, noch habe ich mit dem Pragmatismus der Lett*innen gerechnet. Während fünf Bauarbeiter im Nachbarsgarten ein Gerüst montieren, führt Māra den nackten jungen Mann, den sie zuvor dem Pirts-Ritual unterzogen hat, zum zweimeter-hohen Wasserbottich am Gartenrand. Niemand scheint sich an der offen zur Schau gestellten Nacktheit zu stören.

Auch Minuten später nicht, als Māra ihr geblümtes Leinenkleid auszieht und die drei Stufen hochsteigt, um sich selbst im Wasserbottich abzukühlen. Sie lacht und meint: „Als Lettland im 13. Jahrhundert christianisiert wurde, konnten nicht einmal die Missionare die Bevölkerung davon abbringen, nackt in die Pirts-Hütte zu gehen.“ Noch bis ins 19. Jahrhundert besaß jedes lettische Bauernhaus eine hölzerne Pirts-Hütte, die verschiedene Funktionen erfüllte. Dort wusch sich die Familie, dort brachten lettische Frauen ihre Kinder zur Welt, dort zelebrierten Mütter und Töchter ihre Trennung vor der Hochzeit, dorthin wurden die Kranken zur Heilung und die Alten zum Sterben gebracht. Während die Wechselwirkung von Wärme und Kälte das Immunsystem ankurbelte, trugen Kräuteraufgüsse und Hitze auf natürliche Weise zur Desinfektion der Räume bei.

Erst der Sozialismus im 20. Jahrhundert schaffte es, mit der fest verwurzelten Tradition aufzuräumen: „Dieses Mal war es allerdings die spirituelle Komponente der baltischen Baderituale, die zum Verbot und dann zum Vergessen der Pirts-Rituale führte“, sagt Mara. Während ich mein letztes Trockentraining im Wedeln absolviere, finde ich die Überbleibsel des alten Volksglaubens überall in meiner Umgebung wieder. Selbst von der Plastikdecke des improvisierten Pirts-Zeltes baumeln geschnitzte Runen, die von spirituellen Übergangsriten zeugen. Zwei Stunden vor meiner Saunaerfahrung geht es auch nochmals in den Wald, um die Zweige zu sammeln, die im Pirts-Ritual die Wiedergeburt von Mensch und Natur einleiten. Gemeinsam schneiden wir junge Birken-, Eichen-, Linden- und Ahorntriebe und binden sie zu armlangen Büscheln.

In der Pirts-Hütte wusch sich die Familie, brachten lettische Frauen ihre Kinder zur Welt, wurden die Kranken zur Heilung und die Alten zum Sterben gebracht.

Bis auf eine Eisenkelle zum Wasseraufgießen sind sie wenig später die einzigen Utensilien, die meine deutsche Kurskollegin Miriam und ich mit in unser Prüfungszelt nehmen. Māra wünscht uns noch „Vieglu garu!“ – gut Dampf – und „Lai top!“, was so viel heißt wie „Lass es zu!“ oder „Nimm’s wie’s ist“. Dann zieht sich die Pirts-Meisterin in eine Zeltnische zurück und schweigt. Miriam und ich sind uns selbst überlassen. Es gibt keine Hintergrundmusik, keine künstliche Beleuchtung oder witzereißende Mitschwitzer*innen, wie ich sie aus wenigen Saunabesuchen in Südtirol kenne. Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum merke, wie ich die fünfzehn Minuten Wedeln hinter mich bringe. Der Dampf versengt mir die Fingerkuppen. Immer wieder wedle ich die feuchte Luft, die sich
unter der Plastikplane über meinem Kopf gesammelt hat, auf Miriams Körper herunter. Ich gieße Wasser auf die heißen Steine, klopfe mit den Birkenbüscheln so lange ihre Glieder ab, bis der entschlackende Birkensud ihre Poren durchdringt und dessen Aroma auch meine Lunge füllt. Ich drehe Miriam auf den Bauch, kühle ihren Kopf mit kaltem Wasser und verabreiche ihr eine zweite Birkendampfkur, die nicht nur den Körper reinigt, sondern auch Kopf und Herz befreien soll.

Wenn die Birkenbüschel rascheln.

Wie sehr dies zutrifft, erkenne ich erst Minuten später, als ich selbst ausgestreckt auf der Holzpritsche im Pirts-Zelt liege. Noch schiele ich skeptisch durch die nassen Birkenblätter an die Plastikdecke und fühle mich nackt bis auf die Knochen. Dann rascheln die nassen Birkenbüschel über meinen Körper, hüllen mich in heiße Dampfschwaden, sausen auf meinen Körper nieder und wischen jeden Gedanken der Scham, jedes Gefühl des Fremdseins, jedes Zweifeln hinweg. Meine Nervenenden zucken unter den kalten Wassertropfen und ich strudle entlang des Dampfschwalls hinab in die Tiefen meiner Selbst. Es ist ein Wechselbad, das Dr. Kneipp alle Ehre macht: Wirklich alles, körperlich wie gedanklich, muss ich zurücklassen, um den Neubeginn, den Pirts verspricht, wie gesagt „zuzulassen“.

Fünfzehn Minuten später habe ich neben meinen Vorbehalten auch meine Hüllen fallengelassen. Wie in Trance tauche ich nackt im Wasserbottich unter und steige, den Birkenbüscheln sei Dank, wie neugeboren wieder heraus. Die Endorphine rasen durch meinen Körper während ich, in dicke Frotteetücher gewickelt, neben meiner Pirts-Kollegin auf dem Rasen liege und in einem bewusstseinserweitertem Zustand dahinschwebe. Sobald ich wieder den Boden unter mir spüre, frage ich Miriam, ob ich ihr Pirts-Ritual zu heiß gestaltet habe. Die passionierte Saunageherin lacht. Nach einer Weile raunt sie mir zu: „Es war eher zu kalt, aber das war mir schon recht.“ Ob mich das als Pirtniek auszeichnet oder nicht, lasse ich Mal so dahingestellt.

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