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Den deutschen Bundestag betritt man als Normalbürger nicht alle Tage, umso weniger mit den strengen Regeln zum Schutz vor Corona. Wenn sich ausgerechnet am selben Tag ein politischer Auftritt von historischem Wert ereignet, ist der Besuch noch erinnerungswürdiger. Der Südtiroler Hannes Pichler, dem ich meine Anwesenheit im Reichstagsgebäude zu verdanken habe, sagt zu Merkels Auftritt nur: „So etwas habe ich bisher noch nicht erlebt“.
Pichler arbeitet seit 2019 als politischer Berater eines CSU-Abgeordneten im Bundestag und bekommt die deutsche Kanzlerin sonst auch nicht allzu oft zu sehen. Sie hat ihr Büro im gegenüberliegenden Regierungsgebäude, dem Kanzleramt. In den Bundestag kommt sie meist nur für Fraktionssitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, für Regierungserklärungen und drei Mal im Jahr für Befragungen durch den Bundestag. So wie heute.
Das heiße Thema an diesem Mittwoch: der Lockdown über Ostern, den die Kanzlerin wenige Tage zuvor euphemistisch als „Osterruhe“ angekündigt hatte, mit geschlossenen Geschäften schon ab Osterdonnerstag, Ausgangssperren und strengeren Kontaktregeln. Die Kritik daraufhin war heftig, die Handelsverbände liefen Sturm. Aber auch Epidemiologen zweifelten an der Sinnhaftigkeit der Entscheidung: Wozu die Geschäfte früher schließen, wenn das den Kundenandrang nur auf weniger Tage verteilen und letztlich für überfüllte Läden sorgen würde? Steht hier der Nutzen, den man sich aus der Maßnahme verspricht, noch im Verhältnis zu den Kosten?
Unter dem Druck und auch aufgrund der Einsicht, dass der Oster-Lockdown mit allen rechtlichen Implikationen in so kurzer Zeit kaum umsetzbar wäre, knickte die Regierung am Mittwoch ein, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit beantwortete Merkel vor dem Bundestag mit einem klaren Nein und übernahm für den Fehler überraschend viel Verantwortung. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler“, sagte die Kanzlerin.
Genauer betrachtet, handelte es sich um zwei Fehler. Der eine Fehler war der Beschluss der Osterruhe, und der ließ sich durch den Rückzieher gerade noch reparieren. Der andere Fehler – die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger durch den Schlingerkurs der Regierung – war nicht mehr wiedergutzumachen. Dafür bat die Kanzlerin „alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung“.
Hannes Pichler, mit Anzug und Hemd ausstaffiert, sieht mich bei diesen Worten der Kanzlerin vielsagend an; Ja, das, was wir hier gerade gehört haben, ist auch in Deutschland nicht die Norm. Tatsächlich schreiben deutsche Medien kurz darauf von einem „historischen Auftritt“ der Bundeskanzlerin. Von „Mut“ und „persönlicher Größe“ ist die Rede. Wer unter hochrangigen Politikern Fehler eingesteht und Schwäche zeigt, setzt schließlich nicht nur Stolz und persönliche Befindlichkeiten, sondern auch den Zuspruch seiner Wählerschaft aufs Spiel. Deshalb sorgte es für großes Aufsehen, dass sich die Kanzlerin zu einem so offenen Geständnis hinreißen ließ.
Wobei „hinreißen“ hier wahrscheinlich das falsche Wort ist. In der Politik ist so gut wie alles kalkuliert, Strategie ist die Norm, Spontanität eine absolute Ausnahme. Das bestätigt mir auch Hannes Pichler, während wir durch das Reichstagsgebäude gehen.
Für seinen Chef, den CSU-Abgeordneten, schreibt der junge Südtiroler politische Reden, informiert ihn zu brisanten Entwicklungen und Hintergründen und bringt konkrete Vorschläge zu politischen Themen ein, von außenpolitischen Initiativen bis hin zum Umgang mit Herausforderungen im bayrischen Wahlkreis. In der professionellen Politik geschehe kaum etwas, das vorher nicht durchdacht wurde, erklärt Pichler: „Kommunikation, Auftritt und Wirken folgen zumeist einem klaren Plan mit klaren Zielen.“
Was bedeutet das für den Auftritt von Merkel, frage ich mich. War die offenherzige Entschuldigung möglicherweise ein kühl kalkulierter Schachzug in der Not? Hinter Merkel stehen schließlich zig Berater und Vertraute, die auf ihr Handeln und ihre öffentlichen Auftritte erheblichen Einfluss nehmen.
Vor diesem Hintergrund dürfte die Entschuldigung nicht nur mit persönlichen Schuldgefühlen zu erklären sein. Es ist ihre letzte Amtszeit, bei der nächsten Bundestagswahl im Oktober wird eine Ära zu Ende gehen und jemand anderes ihre Nachfolge antreten müssen – bestenfalls jemand aus der eigenen Partei. Man kann sich gut ausmalen, wie so etwas in internen Besprechungen ablaufen könnte: Angela, überleg doch mal. Du bist jetzt nur noch sieben Monate lang im Amt, danach kommt der Ruhestand. – Wer eine Schuld allein auf sich nimmt, entlastet zugleich alle anderen, jene, die bei der nächsten Wahl noch eine Chance haben sollen.
Egal welches Kalkül letztlich dahinter stand: Die Reaktionen auf Merkels Auftritt erwiesen sich als überwiegend positiv. Auf der Straße befragte Bürger gaben sich nach wie vor verärgert über die entstandene Unsicherheit, zeigten für das klare Schuldbekenntnis und die Entschuldigung der Kanzlerin aber Anerkennung und Respekt. Der Tenor der Reaktionen war eher: Wann finden Merkels Kollegen den Mut, Fehler einzugestehen – vom gescheiterten Maut-Projekt des Verkehrsministers zum Impf- und Test-Debakel des Gesundheitsministers?
Zickzack-Kurs, Ungewissheit, öffnen, schließen, wieder öffnen, dann doch wieder schließen. Als Südtiroler wird man angesichts des deutschen Polit-Theaters zwangsläufig an die Szenen aus dem heimischen Corona-Management erinnert. So ging es auch mir im Bundestag. Nur leider, so sehr ich mein Gedächtnis bemühte, konnte ich mich an keinen Merkel-ähnlichen Auftritt von Südtiroler Landespolitikern erinnern. Und in Südtirol – zu solchen Schlüssen zwingen allein die bekannten Zahlen zu Infektionen und Todesfällen – wurden weitaus gravierendere Fehler als in Deutschland gemacht, wo eine einzige kurzfristig gekippte Maßnahme die Kanzlerin bereits zum öffentlichen „Mea culpa“ bewog.
Wie oft hätten sich ein Kompatscher, ein Widmann, ein Zerzer für politische Fehlentscheidungen bereits entschuldigen müssen, wenn in Südtirol eine ähnliche Fehlerkultur gelten würde? Am ehesten ließ sich diese Haltung noch am Landeshauptmann beobachten. Ansonsten fehlte der Mut und vielleicht steht so manchem auch die Berufsmotivation Nummer Eins, eine gewisse Eitelkeit, im Weg.
Eine aufrichtige Fehlerkultur, so hat sich dieser Tage in Deutschland gezeigt, wird von den Bürgern und Bürgerinnen aber stark vermisst. Eine Politikerin oder ein Politiker, der sich hin und wieder offen für einen Fehltritt entschuldigt, verliert keine Wählerstimmen, sondern gewinnt offensichtlich an Vertrauen. Wer einen Irrtum zugibt, beweist in erster Linie, kein automatisierter Stratege, sondern menschlich und fehleranfällig zu sein – dabei aber tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Auch bei den Entscheidungsprozessen sind Offenheit und Transparenz entscheidend, um bei den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen zu generieren. So hat sich in Deutschland die Ministerpräsidentenkonferenz, eine föderale Institution, spätestens mit dem Fehltritt der letzten Woche als Entscheidungsgremium für Corona-Belange als ungeeignet erwiesen. Wie wurden eigentlich in Südtirol die Entscheidungen hinsichtlich des Notstands-Managements gefällt? Wie waren die Einflussmöglichkeiten zwischen Landesregierung, Sanität, Landtag und Interessenverbänden verteilt?
Ehrlich und transparent sein, das heißt nicht zuletzt, bürgernah zu sein. Eine Domäne, die viel zu oft den Populisten überlassen wurde. Auch persönlich könnten die Politikerinnen und Politiker davon profitieren, kritischer mit sich umzugehen. Eine Aura der scheinbaren Unfehlbarkeit, die in dem harten Geschäft oft selbst befeuert wird, kann nur allen Beteiligten schaden. Beim ersten Fehlgriff kippt sie unter den Bürgerinnen und Bürgern in Gehässigkeit und persönliche Angriffe, manchmal sogar Drohungen, die den Adressaten, auch wenn sie dies nicht öffentlich zeigen, doch häufig nahegehen und sie kränken. Das vergiftet letztendlich das Klima, in dem Entscheidungen getroffen werden. Politiker werden zu Treibern und Getriebenen – und die Qualität ihrer Beschlüsse leidet darunter.
Die konkrete Motivation hinter ihrer Entschuldigung erklärte Merkel übrigens noch am selben Tag in einem Interview im ARD-Brennpunkt. Gerade jetzt, in der Krise, sei es ihr wichtig, „ehrlich miteinander zu reden“. Wenn es ein offenes Gespräch über das gebe, was nicht gelingt, dann, so hoffte die Kanzlerin, entsteht vielleicht auch wieder mehr Platz, um das zu sehen, was gelingt.
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