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Veröffentlicht
am 09.07.2021
Leben100 Jahre Migrationsgeschichte

Instrument der Italienisierung?

Veröffentlicht
am 09.07.2021
Südtirols Zeitgeschichte wurde oft als Konfliktgeschichte im Kampf um Autonomie interpretiert. Doch dieser weit verbreitete Forschungsansatz greift zu kurz.
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Neofaschisten auf einer Kundgebung in den 70er Jahren

Teil drei der Artikelserie widmet sich den wichtigsten Daten, Ereignissen und Zäsuren der Südtiroler Migrationsgeschichte. Er beschäftigt sich mit Wanderungen im Kontext einer gespaltenen Gesellschaft und schließt mit einem Ausblick auf die Grenzen der Italienisierung durch Zuwanderung in der Provinz Bozen.

Migration während Faschismus, Option und Nachkriegszeit

Für Südtirols Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts lassen sich sechs bedeutende Jahreszahlen feststellen. Es sind dies 1922, 1939, 1945, 1955/57, 1972 und 1993. 1922 gelangt Benito Mussolini an die Macht, die Industrialisierung der Provinz Bozen und die Zuwanderung zehntausender italienischer Arbeiter nehmen ihren Ausgang. 1939 kommt es auf der Basis völkischen Denkens zum Optionsabkommen zwischen Mussolini und Hitler im Geiste des Totalitarismus, wodurch rund 75.000 Südtirolerinnen und Südtiroler deutscher und ladinischer Sprache nach Norden auswandern. 1945 gelangen italienische Kriegsflüchtlinge nach Südtirol.

1955 schließt die BRD ein Anwerbeabkommen mit Italien, 1957 erfolgen die Gründung der EWG und durch diese ab 1958 wesentliche Mobilitätserleichterungen, ausdrücklich von Italien als Gegenleistung zum Beitritt zum gemeinsamen Markt gefordert. 1972 tritt das zweite Autonomiestatut in Kraft, wodurch eine weitreichende Selbstverwaltung nun vor allem den deutsch- und ladinischsprachigen Menschen den Zugang in den tertiären Sektor ermöglicht. Und am 1. November 1993 wird schließlich in Maastricht die Europäische Union gegründet und die Reisefreiheit darin verankert. Trotzdem handelt es sich bei all diesen Daten weniger um Zäsuren als um den Beginn von Prozessen, die sowohl die Südtiroler Wirtschaft als auch die Gesellschaft maßgeblich geprägt haben.

Die Option kann als wirtschaftlich motivierte Abwanderung in einem politischen Rahmen verstanden werden.

Benito Mussolinis Südtirol-Politik ab 1922 lässt sich mit den Schlagworten Industrialisierung und Italienisierung charakterisieren. Sie fördert Arbeitsmigration, denn um genug Fachkräfte für die neuen Industrieanlagen in Meran und Bozen zu bekommen, ist Zuwanderung aus italienischen Provinzen notwendig. Gleichzeitig machen sich Menschen aus dem Piemont, aus Ligurien, der Lombardei, der Emilia Romagna und vor allem aus dem Veneto und Trentino auf die Suche nach besseren Perspektiven. Rom lenkt diese Mobilität durch gezielte Anreize wie Steuererleichterungen für Firmen oder öffentlichen Wohnbau mit dem Ziel, das „Alto Adige“ zu einer mehrheitlich italienisch bewohnten Region zu machen.

Zwar gelingt dies nicht, dennoch verändert sich die Zusammensetzung der Südtiroler Gesellschaft langfristig: Werden 1921 neben 9.910 Ladinern (3,9 Prozent der Gesamtbevölkerung) 193.271 Deutschsprachige (75,9 Prozent) und 27.048 Italiener (10,6 Prozent) sowie rund 24.000 weitere Personen gezählt, so leben im Januar 1946 in Südtirol 164.480 Deutschsprachige, 11.583 Ladiner und 89.878 Italiener mit festem Wohnsitz sowie 22.516 italienische Binnenflüchtlinge. Über Faschismus und Industrialisierung bis zur Arbeitsmigration der Nachkriegszeit wächst die Zahl der Italiener in der Provinz Bozen 1961 auf 128.271 (34,3 Prozent) und 1971 auf 137.759 (33,3 Prozent), bevor sie in den folgenden Jahrzehnten leicht sinkt.

1939 ist das Jahr des Hitler-Mussolini-Abkommens. Rund 210.000 Personen (86 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung Südtirols) votieren für das Deutsche Reich, rund 75.000 wandern aus. Mit dem Zweiten Weltkrieg kommt diese Migrationsbewegung, die lange kulturpolitisch gedeutet wurde (bleiben und assimiliert werden vs. auswandern und die deutsche Kultur bewahren), schließlich zum Erliegen. Die Option kann als wirtschaftlich motivierte Abwanderung in einem politischen Rahmen verstanden werden, denn ausgewandert sind vor allem Menschen, die damit die Hoffnung auf bessere Perspektiven verbunden hatten. Ganz ähnliche Motive hatten in den späten 1920er- und 1930er-Jahren zur Einwanderung von Italienerinnen und Italienern in die Provinz geführt.

Denjenigen, die zwischen 1948 und 1954 in der Kaserne von Leifers untergekommen waren, wurde sogar rückwirkend noch die Miete dafür in Rechnung gestellt.

Nach 1945 beginnt die als Rückoption bekannt gewordene teilweise Rückkehr der ausgewanderten Optierten. Von den 75.000 Ausgewanderten kehrt nur rund ein Drittel zurück, da die Perspektiven im Ursprungsland, im emotional als Heimat empfundenen Südtirol, weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich attraktiv bzw. im Ausland vielfach besser sind. Rückkehrwillige teilen das Schicksal anderer Flüchtlinge in dieser Zeit, manchmal, wie im Aufnahmezentrum Leifers, sogar dieselben Kasernen.

Bei den 1946 gezählten 22.516 italienischen Flüchtlingen in Südtirol handelte es sich v. a. um Menschen aus Istrien und Dalmatien. 1947, als sich die noch in Jugoslawien verbliebenen Italienerinnen und Italiener ähnlich wie die Südtiroler Bevölkerung acht Jahre zuvor einer Option unterziehen, also zwischen dem jugoslawischen und dem italienischen Pass wählen mussten, sollten noch viele weitere Tausend Flüchtlinge Jugoslawien in Richtung Italien verlassen. Rom verrechnete indes mit dem Wert des zurückgelassenen Eigentums einen Teil seiner Reparationszahlungen an Belgrad, freilich ohne den Geflohenen später etwas zurückzuerstatten – denjenigen, die zwischen 1948 und 1954 in der Kaserne von Leifers untergekommen waren, wurde Mitte der 1960er-Jahre sogar rückwirkend noch die Miete dafür in Rechnung gestellt.

Migration in einer gespaltenen Gesellschaft

Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Mobilität in Südtirol ein politisch aufgeladenes Thema zwischen deutschsprachiger Mehrheit und italienischer Minderheit in einer gespaltenen Gesellschaft, die einer Verwurzelung wenig Möglichkeit bot. Während erstere nun nach der langen Unterdrückung durch Mussolinis Faschismus vehement die eigenen kulturellen, sprachlichen und politischen Rechte einforderte und die Kontrolle über die Provinz anstrebte, hielt letztere an den im 20. Jahrhundert eroberten Privilegien fest und erklärte sie für unverhandelbar. Ökonomisch erschwerend kam hinzu, dass noch im ersten Nachkriegsjahrzehnt rund zwei Drittel der Südtiroler im Primärsektor tätig waren, der aber kontinuierlich weniger Menschen ein Auskommen verschaffen konnte, während von der italienischen Bevölkerung ein Drittel in der (meist öffentlichen) Verwaltung und knapp zwei Drittel in der Industrie arbeiteten.

In diesem sozioökonomischen und soziopolitischen Umfeld konnte eine erneute italienische Binnenwanderung, die bis Mitte der 1950er-Jahre anhielt, kaum als Arbeitsmigration gesehen werden, sondern musste fast zwangsläufig dem politischen Framing, der Rahmenerzählung von der kulturell bedrohten deutschsprachigen Minderheit, zum Opfer fallen, insbesondere da im selben Zeitraum trotz tausender Rückoptierender erneut Deutschsprachige und Ladiner nach Norden wanderten. Ein Kernelement der Erzählung war die „51-Prozent-Politik“, politische Überlegungen der römischen Politik, die Mehrheitsverhältnisse in Südtirol zugunsten der italienischen Sprachgruppe zu verändern. Dies hätte nämlich im Falle der Anwendung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts dazu geführt, dass eine Mehrheit für Italien zu erwarten gewesen wäre.

Kanonikus Michael Gamper behauptete 1953, die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols befände sich angesichts der italienischen Einwanderung nach 1945 auf einem „Todesmarsch“.

War die durch mehrere Zehntausend italienische Arbeitsmigrantinnen und –migranten in der Zeit der faschistischen Industrialisierung Südtirols entstandene Angst der vor allem deutschsprachigen Bevölkerung vor politischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Marginalisierung durchaus nicht unbegründet, so wurde in der Verbalisierung der Verlustängste mitunter deutlich über das Ziel hinausgeschossen. So behauptete Kanonikus Michael Gamper am 28. Oktober 1953 in der Tageszeitung Dolomiten, die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols befände sich angesichts der italienischen Einwanderung nach 1945 auf einem „Todesmarsch“. Damit suggerierte er in völkischer Tradition ein Aussterben der deutschsprachigen Ethnie in Südtirol, wenn es zu einer italienischen Majorisierung komme. Gampers populistische Behauptung war indes nicht einmal von den Wanderungszahlen selbst gedeckt. Als unzulässige Zuspitzung ignorierte sie aber auch den historischen Kontext der realen Todesmärsche in der NS-Zeit, was Hans Karl Peterlini in seinem Aufsatz „Mit Freud‘ durch Südtirol“ wie folgt kommentiert:

„Dieses Sprachbild ging weit über die berechtigte Angst vor sozialer, wirtschaftlicher, kultureller Bedrängnis hinaus, es handelte von einer real nicht beabsichtigten physischen Vernichtung.“

Die Italienisierung durch Migration stößt an ihre Grenzen

Zudem war Rom unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht an einer weiteren Zuwanderung nach Bozen interessiert, im Gegenteil. Am 29. Juli 1946 gab der italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi Anweisungen, den Zustrom italienischer Flüchtlinge aus dem dalmatinischen Raum nach Südtirol zu unterbinden. Rom wollte, so der Bozner Historiker Giorgio Mezzalira, angesichts einer in der ethnischen Frage sensibilisierten und hochaktiven SVP nicht noch mehr internationale Aufmerksamkeit auf die Südtirol-Frage lenken.

Aber auch in den weiteren Jahren verfolgte die italienische Regierung trotz entsprechender Überlegungen, über freiwillige italienische Zuwanderung („immigrazione spontanea italiana“), Mischehen („matrimoni misti“) und teilweise deutschsprachige Abwanderung in andere italienische Regionen oder ins Ausland („in una parziale emigrazione di altoatesini altrove, in Italia o all’estero“) schleichend eine italienische Mehrheit in Südtirol zu erreichen, keine ernsthafte Majorisierungspolitik. Denn selbst wenn solche Ideen sogar von Diplomaten kolportiert wurden (so vom italienischen Generalkonsul in München, Luigi Silvestrelli, 1954 und vom Generalkonsul in Innsbruck, Mario Paulucci, 1956), so verhinderten doch der begrenzte politische Einfluss dieser Kräfte und die internationale Aufmerksamkeit für die Südtirol-Frage eine ernsthafte Umsetzung.

Ein politischer Wille zu Italienisierung oder gar Assimilierung lässt sich nach 1945 nicht belegen.

Umgekehrt hätte Italien selbst bei vorhandenem politischen Willen der Forderung der SVP nach einer limitierten Zuwanderung nicht entsprechen können, ohne mit dem Verfassungsrecht auf freien Personenverkehr in Konflikt zu geraten. So war die Zahl der italienischen Einwandernden nach Südtirol zwischen 1945 und 1955 zwar beachtlich, ein politischer Wille zu Italienisierung oder gar Assimilierung lässt sich jedoch jenseits der zitierten Aussagen nicht belegen. Dass die physische Mobilität oft stärker durch ökonomische Faktoren als durch staatliche Regelungen bedingt war, zeigt auch der Umstand, dass der bis 1955 trotz Abwanderung deutschsprachiger Südtirolerinnen und Südtiroler gesamthaft positive Wanderungssaldo der Provinz Bozen dann stagniert und sich ab 1957 in einen negativen verwandelt.

Die Industrie bietet den Italienerinnen und Italienern nun weniger Aufnahmemöglichkeiten, und die Migration der Deutschsprachigen aus dem Primärsektor (die Landwirtschaft wird in den 1950er-Jahren zunehmend maschinisiert und bietet immer weniger Arbeitsplätze) ins deutschsprachige Ausland, wo Arbeitskräfte in Industrie und Bergbau gesucht sind, nimmt mit dem deutsch-italienischen Abkommen von Dezember 1955 und ab der Gründung der EWG und den von ihr geschaffenen Mobilitätserleichterungen ab 1957 immer mehr an Fahrt auf. Während innerhalb der deutschsprachigen Gruppe die Auswanderung der Südtirolerinnen und Südtiroler schon früh als Arbeitsmigration wahrgenommen wurde, deutete man an gleicher Stelle die italienische Einwanderung – teilweise bis in die Gegenwart – vor allem im Kontext der Italienisierung Südtirols und zu wenig unter dem Aspekt von Migration und Wirtschaftsmigration.

So nachvollziehbar angesichts des Kampfes um sprachlich-kulturelle Selbstbestimmung die ethnonationale Sichtweise auf die Südtiroler Vergangenheit war, hinsichtlich der Migration stößt sie an ihre Grenzen. Besonders sichtbar wird dies in Bezug auf die durch die Globalisierung verstärkte internationale Migration, von der im letzten Teil der Serie die Rede sein wird.

Der Autor ist promovierter Historiker, Konflikt- und Migrationsforscher. Aktuell lehrt er als Gastdozent am historischen Institut der Universität Luzern. Er ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Aufsätze und Artikel in Fachzeitschriften und Magazinen. 2016 erschien sein Buch „Vom Kommen und Gehen. Migration in Südtirol“ bei Edition Raetia. Im Auftrag des Instituts für Kulturforschung Graubünden (IKG) erforscht er derzeit die Migration Graubündens und seiner Nachbarn.

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