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Lisa Maria Gasser
Veröffentlicht
am 08.03.2023
LebenAbwanderung junger Leute

Im Westen nichts Neues?

Veröffentlicht
am 08.03.2023
Junge Menschen zieht es oft aus Südtirol weg – und nicht mehr zurück. Ein Blick in den Vinschgau zeigt: Baustellen gibt es viele. Aber genauso Köpfe, die die Potenziale der Peripherie nützen wollen.
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Blick auf Schlanders und das Untervinschau, im Vordergrund die BASIS in der Schlanderser Drususkaserne

Tun oder lassen? Wer um eine Entscheidung ringt, hilft sich gerne mit einer Pro- und Contra-Liste. Mathias Lechthaler weiß, was seine Gründe wären, nach dem Studium in Wien wieder zurück in die Heimat zu ziehen. „Die Familie – in den Ferien bin ich immer daheim –, die Natur.“ Auf der anderen Seite spricht vieles dagegen. „Mit einem Physik- und Astronomiestudium sind die Jobmöglichkeiten sehr begrenzt. Außerdem verdiene ich in Südtirol bei denselben Anstellungsverhältnissen weniger als in Österreich, habe aber deutlich höhere Lebenshaltungskosten“, meint der 23-jährige Schlanderser. Nicht nur Lechthaler ist hin- und hergerissen. Arbeit, Wohnen, Mobilität und Erreichbarkeit, Kulturangebot, Nachtleben sind Schlagworte, die im Gespräch mit jungen Menschen immer wieder fallen, die sich mit der Frage beschäftigen: Sehe ich im Vinschgau (m)eine Zukunft?

Die Frage, ob er nach dem Studium in den Vinschgau zurückkehrt, beschäftigt nicht nur Mathias Lechtaler. „Ich kenne viele, denen es ähnlich geht wie mir.“

Vinschger Strukturen
„Das ist nichts Neues, seit 30 Jahren reden wir über Abwanderung.“ Georg Altstätter ist seit 2010 Bürgermeister von Martell. Die Gemeinde gilt als „strukturschwach“ – eine Definition, die gerne für den gesamten Bezirk Vinschgau verwendet wird. Indikatoren für strukturschwache Räume sind ihre periphere Lage, eine meist geringe Bevölkerungsdichte, eine schwache Einbindung in das öffentliche Verkehrsnetz, stagnierende Bevölkerungszahlen, ein verhältnismäßig niedriges Bruttojahreseinkommen und eine allgemein geringe Wirtschaftskraft. Gründe dafür sind die landwirtschaftliche Prägung der Region und ein Mangel an Arbeitsplätzen im Industrie- und Dienstleistungssektor.

Altstätter warnt davor, alle 13 Vinschger Gemeinden, „pauschal über einen Kamm zu scheren – das wäre nicht seriös.“ Dennoch ist ein Blick auf die Situation des Vinschgaus als Ganzes zur Einordnung erforderlich.

Viel Fläche, wenig besiedelt
Zur Bezirksgemeinschaft Vinschgau gehören die Gemeinden Schlanders, Latsch, Mals, Laas, Prad, Kastelbell-Tschars, Graun, Schluderns, Schnals, Stilfs, Taufers im Münstertal, Glurns, Martell. Mit knapp 1.442 Quadratkilometern ist der Vinschgau nach dem Pustertal der zweitgrößte Bezirk Südtirols und zählt nach dem Wipptal die zweitwenigsten Einwohner:innen. Auf 19,5 Prozent der Landesfläche lebten 2020 nur 6,8 Prozent der Bevölkerung, das sind 25 Personen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: Der 1.036 Quadratkilometer große Bezirk Salten-Schlern umfasst 14 Prozent der Landesfläche und 9,5 Prozent der Bevölkerung. Mit 49 Personen pro Quadratkilometer ist die Bevölkerungsdichte doppelt so hoch wie im Vinschgau.

Allzu oft heiße es „Nein“ von oben, kritisiert der Bürgermeister von Martell Georg Altstätter. Die Landespolitik müsse die Bedürfnisse der Menschen, „die 365 Tage in Gebieten in peripherer Lage leben und arbeiten“, ernster nehmen.

Bevölkerung wächst unverhältnismäßig
Absolut betrachtet ist die Bevölkerungszahl im Vinschgau in den vergangenen 50 Jahren stetig gestiegen: von 30.601 Einwohner 1971 auf 36.188 Einwohner im Jahr 2020. Die Bevölkerung nimmt aber langsamer zu als im Landesvergleich. Zwischen 1971 und 2001 wuchs die Südtiroler Gesamtbevölkerung um 11,9 Prozent, die des Vinschgaus um 11,5 Prozent. Von 2001 bis 2020 nahm die Vinschger Bevölkerung um weitere sechs Prozent zu, während sie landesweit um ganze 15,5 Prozent stieg. Machten die Vinschger:innen von 1971 bis 2001 noch 7,4 Prozent der Einwohner Südtirols aus, so lebten 2020 nur mehr 6,8 Prozent im westlichsten Bezirk des Landes.

Geringes Einkommen
Laut dem Arbeitsförderungsinstitut AFI ist der Vinschgau der Bezirk mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen in Südtirol und das, obwohl die Autonome Provinz mit einem erklärten Einkommen von durchschnittlich 24.766 Euro im Steuerjahr 2020 italienweit zu den Spitzenreitern zählt. In Bozen beträgt das jährliche Durchschnittseinkommen 27.400, im Pustertal 25.285 und im Vinschgau 18.121 Euro. Martell (16.242 Euro), Kastelbell-Tschars (15.854 Euro), Taufers im Münstertal (15.002 Euro) und Laas (14.445 Euro) landen auf den letzten Plätzen der Rangordnung. Auch wenn man die Saisonarbeiter:innen, die in der Landwirtschaft nur wenige Monate im Jahr arbeiten und Grenzpendler:innen, die vom italienischen Steuersystem nicht erfasst werden, nicht berücksichtigt, zeige sich, „dass die Einkommenssituation der Bewohner im Vinschgau weniger rosig ist als in anderen Gebieten“, so das AFI.

Periphere Chancen
Zu den nackten Zahlen gesellen sich subjektive Wahrnehmungen vieler junger Menschen im Vinschgau. Ein häufig genanntes Problem: unzureichenden Verkehrsanbindungen. Lukas Pircher stammt aus Schlanders, studiert Wirtschaft in Wien und sagt, daheim das Gefühl zu haben „von der Welt abgeschnitten zu sein. Um nach München oder Wien zu kommen, braucht man eine Ewigkeit, vor allem wenn man kein eigenes Auto besitzt. Allein die Fahrt nach Bozen ist eine halbe Weltreise, und der letzte Zug in den Vinschgau fährt schon um zehn.“

Franziska Riedl findet hingegen, dass „für ein ländliches Gebiet die Mobilität im Vinschgau prinzipiell gut aufgestellt ist.“ Die junge Laaserin ist Vizebürgermeisterin ihrer Gemeinde und für die Jugend verantwortlich. Die Marteller Gemeindereferentin Heidi Gamper, die seit 20 Jahren in der Jugendarbeit tätig und Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Jugenddienste ist, bestätigt allerdings: „Die Anbindungen an Österreich, die Schweiz und den Rest des Landes sind ausbaufähig.“ Beide Politikerinnen sehen in der Tatsache, dass junge Menschen im Vinschgau Perspektiven vermissen, ein akutes Problem. Die Gemeinden könnten den Rahmen setzen: Ausbau der digitalen Infrastruktur, Angebote für Kinderbetreuung, Unterstützung kultureller Vorhaben. Dennoch brauche es private Initiativen, um attraktive Möglichkeiten für die Arbeit oder das Ausgehen zu schaffen.

2022 hat die Gemeinde von Franziska Riedl (1.v.l.) das Label „Junges Dorf Laas“ erhalten – im Ausschuss des Jugendforums sitzen neben Riedl auch Maddalena Fiegele (2.v.l.), Julia Spechtenhauser (3.v.l.) und Tamara Zueck (4.v.l.)

Ländliche Gebiete werden nie mit den Vorzügen und Strukturen mithalten können, die eine Großstadt wie Wien, München oder die Landeshauptstadt Bozen bieten. „Man kann nicht überall alles haben“, bleibt Martells Bürgermeister realistisch. Es gibt andere Wege, um Junge vom Abwandern abzuhalten oder zur Rückkehr zu bewegen. So belegen zahlreiche Projekte und Studien der vergangenen Jahre das Potenzial der Peripherie. Ein Ansatz ist, Arbeitsplätze und -möglichkeiten in zumutbarer Nähe, etwa 20 bis 30 Kilometer vom Wohnort entfernt, zu schaffen, damit Job nicht automatisch Umzug bedeutet. In Mals hat im Oktober 2021 ein Coworking-Space eröffnet.

„Eine Nutzerin dieser Struktur hat mir erzählt, dass sie jetzt nur mehr ein Mal in der Woche zur Arbeit nach Bozen fahren muss. Alles andere kann sie vor Ort erledigen“, berichtet Riedl. Flexibilität der Arbeitgeber:innen ist genauso gefragt wie die Landespolitik, sagt Georg Altstätter. Er vermisst das Bewusstsein für die Bedürfnisse peripherer Räume wie dem Vinschgau. „Es braucht die Möglichkeit, in den Dörfern wirtschaften zu können. Allzu oft wird verhindert anstatt zugelassen: Man ist gegen den Ausbau von Straßen, gegen Radwege, gegen die Stärkung des Tourismus, der im Vinschgau völlig andere Dimensionen hat als etwa in Gröden oder Meran“, bemängelt der Bürgermeister.

Jugend-, Kultur und Sportvereine sowie Bildungsausschüsse bemühen sich, ein Angebot für junge Menschen zu schaffen, sagt die Marteller Gemeindereferentin Heidi Gamper. „Was machbar ist, versuchen wir zu machen.“

Veränderung im Kopf
Verhindern und zulassen sind Worte, die auch Hannes Götsch verwendet – umgemünzt auf die Südtiroler Mentalität. Götsch hat vor acht Jahren die BASIS Vinschgau Venosta in Schlanders mitgegründet. Seit 20 Jahren arbeitet er gegen die Landflucht kreativer Köpfe an. „Südtirol hat erfolgreich und zurecht in Infrastruktur investiert, aber es braucht ebenso Investitionen in Menschen“, sagt Götsch. Er könne verstehen, wenn junge Leute in Südtirol das Gefühl hätten, „mich zerdrückt es hier.“ Mit dem Wohlstand – zu verdanken dem schnellen wirtschaftlichen Wachstum in kurzer Zeit – habe sich im Land vielfach eine lethargische Selbstgefälligkeit breitgemacht. „Haben ist wichtiger als Sein“, bringt es Götsch auf den Punkt. Veränderung wird oft kein Platz gegeben. Dabei ist der Zeitgeist längst ein anderer: „Der jungen Generation sind Werte wichtiger als reines Wachsen. Für sie steht das Wie und nicht Dass man wirtschaftet im Vordergrund.“

Es braucht, so Götsch, dringend einen sozio-kulturellen Wandel. Genau den will die BASIS als Innovationstreiber und Plattform möglich machen. In der ehemaligen Drususkaserne wurden Räume fernab von Leistungsdruck und Konsumzwang eröffnet, in denen kreative Potenziale, Wirtschafts- und Gesellschaftsprojekte aufblühen sollen. Dank Coworking-Spaces – der in Mals geht auch auf die Initiative der BASIS zurück –, kulturellen Veranstaltungen, Workshops, Diskussionsveranstaltungen, Beratungs- und Bildungsangeboten. Anfangs gerne als „Spinner“ bezeichnet, haben Götsch und das BASIS-Team eine Struktur aufgebaut, die mittlerweile europaweit bekannt ist und Veränderungspotenzial über Schlanders und den Vinschgau hinaus erlangt hat. Ein weiterer Shared Space in Naturns ist in Planung. In Martell soll ein Forschungsretreat entstehen. Ohne den Schlanderser Bürgermeister Dieter Pinggera wäre das nicht möglich gewesen. „Er hat uns von Anfang an Vertrauen geschenkt“, sagt Götsch. Es brauche mehr solcher „Ermöglicher:innen“ in der Politik.

Sich gegen den Zeitgeist stemmen sei ein denkbar schlechter Weg, um Abwanderung entgegenzuwirken, meint Hannes Götsch von BASIS Vinschgau Venosta.

In anderen Vinschger Gemeinden rennt der 39-Jährige mit seiner Haltung offenbar offene Türen ein. Als „wahnsinnig wichtigen kreativen Standort“ bezeichnet die Marteller Referentin Heidi Gamper die BASIS in Schlanders. „Um Junge zu halten und anzuziehen ist es fundamental, Scheuklappen abzulegen, ihnen ohne einen Stempel aufzudrücken und Vorurteile zu begegnen und Raum zu geben.“ In Laas versuchen Vereine und die Gemeinde selbst immer wieder, Angebote für die Jugend und dadurch Gemeinschaftssinn und Identität zu stiften, meint Vizebürgermeisterin Franziska Riedl. Nach Prad hat Laas als zweite Gemeinde 2022 das Label „Junges Dorf“ erhalten. Das Siegel verleihen das Jugendforum Vinschgau und die Jugenddienste Mittel- und Obervinschgau Gemeinden für ihr Engagement für junge Menschen.

Zukunft geht nur zusammen
„Der Vinschgau ist kein armer Standort – wenn Dinge zugelassen werden. Die Gesellschaft muss von der Statik in die Dynamik wechseln, sich aus der Lethargie herausmanövrieren.“ Die Botschaft von Hannes Götsch ist klar. Und dieselbe, die von einer Diskussionsrunde Anfang Februar in der BASIS bleibt: Strukturschwach sei die Region nicht, allenfalls anders als die restlichen Landesteile. Diese Eigenart gelte es zu nutzen, meinte Dominik Matt. Der gebürtige Schlanderser, Professor an der Freien Universität Bozen und Direktor des größten europäischen Forschungs- und Entwicklungsdienstleisters Fraunhofer Italia plädiert dafür, eigene Visionen zu entwickeln. Gelingen kann das nur gemeinsam, mit jungen Menschen, von denen es viele gibt, die mitgestalten wollen.

Ohne die BASIS wäre er nicht nach Schlanders gekommen, sagt Simon Mariacher. Für ihn gilt es, sich „Hand in Hand konkret auf die Herausforderungen der Zeit“ zu fokussieren.

Simon Mariacher ist vor wenigen Monaten nach Schlanders gezogen. Er kümmert sich um die Kommunikation in der BASIS. Aktuell sieht der 26-Jährige aus dem Bozner Raum seine Wahlheimat als Phase. „Aber ich will nicht ausschließen, meinen Lebensmittelpunkt langfristig hierher zu verlegen.“ Abhängig will er diese Entscheidung auch davon machen, „ob der offene, tolerante Zugang, den ich in Schlanders erlebe, breiteren Anklang findet.“ Mathias Lechthaler fasst vorerst ein Doktoratsstudium in Wien ins Auge. „So in fünf Jahren denke ich, werde ich entscheiden, ob ich in den Vinschgau zurückkehre“, sagt er. „Ich hoffe, dass sich bis dahin etwas getan hat.“

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