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Waltraud Mittich hat auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit den autofiktionalen Roman „Ein Russe aus Kiew“ geschrieben. Darin streift die Schriftstellerin hochaktuelle politische Themen wie Identität, Herkunft, Flucht, Frausein und Krieg. Die daraus resultierenden Parallelen zwischen der Ukraine und Südtirol verpackt Mittich in die Form eines Briefes an den eigenen Vater, den sie nie kennengelernt hat.
Wann und wie entstand die Idee für Ihr Buch?
Der Gedanke, ein Buch über meinen mir unbekannten ukrainischen Vater zu schreiben, begleitet mich schon sehr lange. Es liegt in meiner Natur Dinge möglichst lange hinauszuschieben und Unangenehmes zu verdrängen. So bin ich einfach gestrickt. Während der Pandemie hatte ich dann sehr viel Zeit und wollte dieses Projekt angehen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Ich habe recherchiert und mich mit Facebook-Gruppen wie den „Freunden der Ukraine“ und „Ukraine verstehen“ ausgetauscht. 2018 bin ich dann in viele verschiedene Städte der Ukraine, in erster Linie zum Paul Celan-Festival nach Czernowitz, gereist. Nach meiner Rückkehr habe ich begonnen zu schreiben. Zunächst war der Schreibprozess sehr mühsam, weil ich mir über die Form unsicher war. Es hat gedauert, bis ich wusste, dass es ein Brief an meinen ukrainischen Vater werden soll.
Inwiefern richtet sich Ihr Buch an eine ganze Gesellschaft und nicht nur an den eigenen Vater?
Das stimmt. Es handelt sich um eine Menschheitsfrage. Ich suche immer nach einem Vorwand, etwas zu schreiben, das mich nicht allein betrifft. Das Buch geht auf viele gesellschaftlich-politischen Fragen und Missstände ein.
Zum Beispiel?
Die Leihmutterschaft in der Ukraine während den Pandemiezeiten. Während der Corona-Pandemie konnten die vielen Kinder von Leihmüttern nicht mehr abgeholt werden. Es gab in Kiew ein Hotel, in welchem sich über 100 Babys befanden. Sie wurden wortwörtlich “bestellt” und nicht abgeholt. Eine ganze Generation schreit jetzt: Sagt mir, wer ich bin!
Ich habe den Krieg, wie viele andere auch kommen sehen, aber niemand wollte es glauben.
Die Frage nach Identität ist nicht die einzige politische in Ihrem Buch. Inwiefern ist „Ein Russe in Kiew“ als politisches Statement zum Krieg zu lesen?
Das Literaturhaus Wien beschreibt mein Buch als hoch politisch und brisantes Buch. Das würde ich unterschreiben. Das Buch wurde in der Zeit von 2018 bis 2022 geschrieben und endet mit dem Ausbruch des Krieges. Alle Truppenbewegung davor wurden aufgezeichnet und fließen in das Buch mit ein. Ich habe den Krieg, wie viele andere auch kommen sehen, aber niemand wollte es glauben.
Hat sich das Buch mit der sich zuspitzenden, militärischen Situation und dem Kriegsausbruch verändert?
Nein. Ich habe das Buch vor dem Ausbruch des Krieges beendet und mich strikt geweigert, noch etwas zu verändern. Das war auch nicht nötig, weil das politische Statement dasselbe bleibt.
Bei der Lesung in Brixen wurde Ihnen mitgeteilt, dass der Titel in der ukrainischen Version abgeändert wird…
Mir wurde klar gemacht, dass ich mich damit abfinden muss. Die Ukraine sieht gerade bei jedem Satz, der das Wort „Russe“ beinhaltet, einfach rot. Mein ursprünglicher Arbeitstitel lautete: Tochterbrief. Den Menschen in der Ukraine gefällt dieser Titel weit besser. Ob es mir gefällt, weiß ich nicht… Aber es wird schon gehen, denn schließlich ist mein Buch ein politisches Statement.
Auch uns Südtirolern sollte die Sprache genommen werden. Dies droht nun den Ukrainern, sollte Russland gewinnen.
Welche Rolle spielt Südtirol darin?
Die Vielsprachigkeit und auch die anderen Parallelen zur Ukraine werden im Buch immer wieder aufgegriffen. Auch uns Südtirolern sollte die Sprache genommen werden. Dies droht nun den Ukrainern, sollte Russland gewinnen. Ich bin eine Freundin der Viel- und Mehrsprachigkeit. Diese sollte in Südtirol und auch in der Ukraine gefördert und gelebt werden.
Die Sprache ist nicht das einzige Thema, in dem Parallelen zwischen der Ukraine und Südtirol gezogen werden. Wie verhält es sich mit dem Frausein?
Ich zitiere zu Beginn des Buches Olha Kobyljanska mit den Worten „Jetzt lebe ich noch nicht voll, aber später“. Das ist eine weibliche, vor allem für junge Frauen zutreffende Haltung. Aber auch auf mich trifft diese Aussage zu und auf die Form der seltenen Vater-Tochter Geschichte. Ich habe sehr lange gewartet, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Hätte ich noch länger gewartet, wäre ich wohl tot. Frausein in Südtirol wie in der Ukraine und generell ist in meinen Augen politischer Ausdruck des weiblichen Wartens.
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