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„Als die Minnigonna kam, trugen ich und meine Freundin unsere Röcke noch kürzer, indem wir sie einmal aufstülpten. Dann gingen wir ins Dorfcafé, wo immer die ‚Frommen‘ aus der Kirche saßen, und stellten uns an den Thresen, um einen Macchiato und einen Spitzbua zu bestellen. Wir ließen dann mit Absicht ein Stück Keks fallen und bückten uns mit hinausgerecktem Hinterteil nach dem Keksbrösel, sodass alle unsere Unterhöschen sehen konnten. ‚Was für Säue!‘ riefen sie in unsere Richtung.“
Die 77-jährige Sophie ist die Nachbarin meines Freundes. Sie lacht, wenn sie solche Geschichten erzählt. Eigentlich heißt Sophie anders, aber nach einem Leben der Provokationen zieht sie wenigstens im Alter die Ruhe der Anonymität vor, damit ihre Geschichten nicht weitere Kontroversen in der Nachbarschaft nach sich ziehen. Ich liebe die nachmittäglichen Kaffeekränzchen, auf die Sophie immer wieder vorbeikommt, denn das bedeutet, es gibt wieder spannende Geschichten aus ihrem verrückten Leben zu hören. Sie geben Einblicke ins Südtiroler Dorfleben der 50er- und 60er-Jahre und vor allem ins Leben einer Frau, die ihrer Zeit voraus war. „Jaja, über mein Leben könnte ich ein Buch schreiben“, sagt Sophie dann meistens nach ihrer Geschichte.
Wer sich jetzt noch immer ein älteres Großmütterchen mit Stricknadel in der Hand, grauem Dutt und weitem Blumenkleid im Vorhang-style vorstellt, liegt daneben. Der 77-Jährigen mit braunem Pony und dunkler Sonnenbrille sieht man auf den ersten Blick kein Großmutter-Dasein an. Dennoch ist sie Oma, mit ihrer Enkelin regelmäßig in Kontakt auf WhatsApp. Sophie schaut auf das Display ihres Smartphones, zieht die Sonnenbrillen hoch und lächelt: „Meine Enkelin fragt, ob sie sich wieder meinen roten Mantel ausleihen kann,“ freut sich Großmutter Sophie. Sie selbst legt großen Wert auf Mode, im Dorf sieht man sie stets schick gekleidet, häufig mit Jeans und Ballerinas.
Doch dieser Sinn für Mode kam ihr oft zum Verhängnis und zieht heute noch neidische Bemerkungen auf sich. Eine Bekannte sagte letztens zu ihrem Outfit, damit würde sie in das allgemeine Dorfbild „nicht hineinpassen“. Sophie ist empört: „Was soll denn das heißen? Ich bin doch nicht alle! Ich bin nur ich. Und basta!“ Neid unter Frauen kann Sophie sowieso nicht verstehen: „Wir Frauen müssen zusammenhalten, anstatt uns gegenseitig die Ellbogen in die Rippen zu stoßen.“ Sophie ist Zusammenhalt gerade unter Frauen wichtig, denn bevor die ersten Funken der 60er Frauenbewegung ihr Dorf erreichten, hatten es sie und viele ihrer Geschlechtsgenossinnen alles andere als einfach. Noch schwieriger war es, wenn man auffiel, und anders war, als die anderen.
“Meine Mutter war den Ehefrauen im Dorf ein Dorn im Auge. Eine Witwe könnte ihnen ja den Mann wegschnappen.”
Bereits Sophies Mutter schwamm gegen den Strom. Als alleinerziehende Mutter von fünf Kindern beschloss sie, ihre eigene Näh- und Strickfirma mit mehreren Angestellten zu gründen. Ein ungewöhnlicher Schritt für eine Frau zu der Zeit. Sophie selbst ist in Linz geboren, ihre Eltern waren während des zweiten Weltkrieges nach Österreich optiert. „Mein Vater war Fanatiker, meine Mutter hatte furchtbares Heimweh“, erinnert sich Sophie an ihre frühe Kindheit. „Sobald mein Vater gestorben ist, hat meine Mutter unsere Sachen gepackt und ist zurück nach Südtirol.“ Sophie war damals sieben Jahre alt. Die aus der Stadt zugezogene Familie wurde im Südtiroler Dorf schnell zum Außenseiter: „Meine Mutter war stets elegant angezogen, und trug schöne Hüte. Damit musste sie bald aufhören, denn hier fiel sie zu sehr auf.“ Sophie schüttelt unverständlich den Kopf. „Überhaupt war meine Mutter als Witwe vielen im Dorf ein Dorn im Auge. Denn eine Witwe könnte ihnen ja den Mann wegschnappen.“ Zu allem Übel hatte die Mutter auch noch ein ungutes Verhältnis zur Kirche:
Als meine Mutter ihren ersten Sohn Joseph geboren hatte, ging sie, wie es damals im Dorf üblich war, zum Pfarrer, der ihrem Neugeborenen die „Dämonen austreiben sollte“. Sie musste über eine Stunde vor der Kirche in der Kälte warten, es war Dezember. Das Baby hätte eigentlich gestillt werden müssen, aber sie traute sich nicht, der Autorität der Kirche zu widersprechen. Dabei entzündete sich ihre Brust und ihre Milch blieb danach aus. Das brachte das Fass zum Überlaufen und sie schloss mit der Kirche ab.
Zur Messe ging die Familie seitdem nur noch, wenn ein schönes Konzert gespielt wurde. Anders verhielt es sich bei den Nachbarshäusern, die alle von frommen Kirchgängern bewohnt waren. „Aus Spaß nannten wir unsere Nachbarschaft manchmal den Vatikan“, scherzt Sophie. Die selbstbestimme Lebensweise gab Sophies Mutter ihrer Tochter mit auf den Weg, und Sophie lebte ebenso mode- und selbstbewusst ihre Individualität aus:
Mein Mann Paul* erzählte mir, dass seine Kollegen sich regelmäßig bei ihm beklagten: ‚Du musst ja viel Geld verdienen, dass deine Frau immer so schöne Kleider trägt‘, spöttelten sie. Das waren deren Ehefrauen, die ihre Männer dazu drängten. Mein Mann sagte dann immer, die seien alle nur neidisch.
„Aus Spaß nannten wir unsere Nachbarschaft manchmal den Vatikan.“
Sophie lächelt verschmitzt „Gut, ich habe schon auch gerne provoziert,“ erinnert sie sich an ihren Minnigonna- Auftritt aus jungen Jahren und die empörten Blicke der Café-Gäste. Doch Sophie war die Reaktion der Leute egal. So war ihr auch egal, dass zu jener Zeit Frauen gesetzlich verboten war, ohne die Erlaubnis des Ehemanns zu arbeiten. Neben dem Haushalt und der Erziehung ihres Sohnes begann sie nachmittags in der Kleiderboutique ihrer Freundin auszuhelfen. Ihrem Mann war das anfangs alles andere als recht: „Hast du denn nicht genug zu Hause zu tun?“ fragte Paul. „Aber ich habe mich durchgesetzt. Ich habe mich immer durchgesetzt“, erzählt Sophie bestimmt. Das typische Hausfrauenleben war nichts für die eigensinnige junge Frau:
Die Männer waren damals, neben der Arbeit, viel unterwegs mit Freunden. Sie sagten, sie gingen ein Bier trinken, und kamen nach drei Tagen erst zurück. Ich wollte nicht immer nur alleine zuhause sein, putzen und die Kinder großziehen. Also habe ich mich selbst beschäftigt. Ich habe alle möglichen Kurse besucht: Töpferkurse, Malkurse und habe bei Vernissagen ausgeholfen.
Durch ihre Einschreibung in einen Art-Club konnte Sophie ihre Leidenschaft für die Kunst ausleben. Auch zu Jazz-Konzerten ging sie regelmäßig, meist ohne ihren Mann, entgegen den Bräuchen dieser Zeit. Allmählich zog die Pionierin auch andere Frauen mit sich und gemeinsam wagten sie die ersten Schritte der Emanzipation: „Irgendwann fingen wir Frauen selbst an, drei Tage mal in den Skiurlaub zu fahren, ohne unsere Männer. Das war richtig lustig.“ Dann bekam Sophie das Angebot, für Aktzeichnungen Model zu stehen. Regelmäßig saß sie stundenlang nackt vor verschiedenen Künstlern, ohne sich zu bewegen. Ein anstrengender Job, aber am Ende war es die Arbeit wert, denn viele Künstler gewannen Preise mit Sophie als Model:
Ich habe immer gemerkt, wer ein guter Künstler ist, und wer nicht. Die guten schaffen es, dein Innerstes zu verstehen und nach außen zu bringen. Das war unglaublich, ich sah in den Zeichnungen nicht nur meinen nackten Körper, ich sah auch meinen Charakter. Die gezeichneten Hände, die haben geredet. Alles von dir war auf der Leinwand, du warst bloßgestellt. Das hat mir manchmal Angst gemacht.
”Auf dem Tisch lagen Kekse. Sie sahen aus wie Weihnachtsgebäck, herzchen- und sternförmig. Ich dachte, darin sei Anis.”
Die frommen Nachbarn, die Jahre zuvor noch Unterschriften gesammelt hatten gegen den Bau eines Schwimmbads im Dorf („um Kinder nicht nackt herumlaufen zu sehen“), grüßten Sophie daraufhin nicht mal mehr. Doch ihr Mann unterstützte sie und war stolz auf seine schöne Frau. Das Geld, das Sophie als Model verdiente, steckte sie wieder in die Kunst und besuchte Museen in Paris, sah Ausstellungen in Florenz, und fuhr mit ihrem Sohn auf Kulturreisen nach Rom oder Barcelona. Überhaupt liebte es Sophie, zu reisen. Mit 42 erfüllte sie sich ihren Lebenstraum: Mit Mustangs durch den US-Bundesstaat Oregon zu reiten. Jeden Tag trainierte sie mit Pferden auf der Seiser Alm, abends besuchte sie einen Englischkurs, um für die Reise gewappnet zu sein:
Als ich im Flugzeug saß, konnte ich nicht schlafen. Die lange Reise und der Jetlag haben mir zu Schaffen gemacht, und ich war ganz auf mich alleine gestellt. Als ich in Los Angeles ankam, war ich so müde und kaputt. Ich dachte, Paul hatte recht gehabt, als er sagte, ich solle doch zuhause bleiben. Aber ich war stur. Nach der ersten Nacht fühlte ich mich so gut, ich habe unter der Dusche am Morgen gesungen wie eine Verrückte. Ich war so froh, denn nun konnte meine Reise beginnen.
In drei Wochen bereiste die 42-jährige Mutter sechs Bundesstaaten. Einer davon Oregon, den sie mit Karawanen eine Woche lang auf Pferden reitend durchquerte. Mit dabei war ein Großvater mit seiner Enkelin: „Ich dachte mir immer, genau das will ich auch mal mit meiner Enkelin Eve machen.“ In den drei Wochen erlebte Sophie allerhand Abenteuer. In Colorado flog sie mit einem Hubschrauber einen Canyon entlang. Heute erinnert sie sich daran mit scherzhaftem Entsetzen: „Ich dachte die ganze Zeit, die Propeller stoßen bei den Steinwänden an und wir stürzen ab.“ Sie besuchte das Indianerreservat Navajo, traf dort Goldgräber und tanzte mit Cowboys. In San Francisco wurde sie von Leuten, die sie auf der Reise kennengelernt hatte, auf eine Party im Hotel eingeladen. Dort gab es Alkohol und Knabberzeug. „Auf dem Tisch lagen Kekse. Sie sahen aus wie Weihnachtsgebäck, herzchen- und sternförmig. Ich dachte, darin sei Anis.“ Erst, als ihr Kopf beginnt, sich zu drehen, und ihre Wahrnehmung sich ändert, versteht Sophie: Es handelt sich um Marihuana-Kekse. Heute kann sie drüber lachen: „Ich hatte solche Angst, dass die Polizei mich verhaftet. Ich habe die ganze Zeit meinen Namen und meine Adresse wiederholt, damit ich ja nicht einschlafe.“
„Jetzt bin ich 77, es wird Zeit für mich, vernünftig zu werden.“
An eine Begegnung während ihrer Amerikareise erinnert sich Sophie besonders:
Ich saß am Strand vor einem Restaurant, das als Künstlertreff bekannt ist und rauchte eine Zigarette. Da näherte sich ein Paar grau glänzender Schuhe von hinten. ‚Hallo, bunter Rucksack‘, hörte ich, ‚Darf ich dir meinen einsamen Hut vorstellen?‘ Diesen Anmachspruch fand ich so originell, da habe ich mich umgedreht. Der Mann stellte sich als Künstler heraus, und als ich ihn fragte, was er genau machte, antwortete er: ‚Ich verpacke gerne Dinge‘. So wie Christo! Rief ich aus. Er sagte nur: ‚Ganz genau‘ und lud mich zu einem Café ein.
Zum Kaffeetrinken kam es leider nicht mehr, denn Sophie musste zu ihrem Bus. Doch bevor sie diesen erreichte, sah sie noch, wie sich eine Menschenschar um den Mann mit dem einsamen Hut sammelte und um ein Autogramm bat. Erst da verstand sie: Es war tatsächlich der berühmte Verpackungskünstler Christo, der in seinen Kunstaktionen bereits den Berliner Reichstag oder den Pont Neuf in Paris eingehüllt hatte.
Heute ist Sophie 77 Jahre alt, doch aus ihren Augen lacht immer noch der Funken einer energetischen und selbstbewussten jungen Frau. Jeden Morgen steht Sophie früh zum Spazieren auf, zweimal jährlich begibt sie sich auf eine Pilgerreise. Die geschichtsreichen Mittelalterwege inspirieren die Kunstbegeisterte. „Man steht jeden Morgen auf und weiß nicht, was der Tag bringt oder wo man in der nächsten Nacht schlafen wird. Das ist Abenteuer!“ Heute legt Sophie zwar nur mehr die Hälfte der Pilgerwege zurück, denn zum ersten Mal in ihrem Leben fängt sie an, auf sich aufzupassen: „Jetzt bin ich 77, jetzt wird es Zeit für mich, vernünftig zu werden.“ Was ihr Geheimnis sei, um jung zu bleiben? „Interessen haben! Nie stehen bleiben“, schießt es wie eine Pistole aus ihrem Mund. Denn auch, wenn sie nun im Alter etwas mehr aufpassen muss, bleibt eines für sie sicher: „Ich werde nie aufhören weiter zu gehen, solange ich lebe!“
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