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Hans Peter Vikoler arbeitet für das Welternährungsprogramm (WFP) an vorderster Front. Er leitet, plant und koordiniert die Einsätze und die Verteilung von Hilfsgütern in Katastrophengebieten. Meistens sind Kriege, Überschwemmungen oder Dürren die unmittelbaren Auslöser für den Hunger – dieses Jahr kam auch noch eine Pandemie dazu.
Zuletzt war Vikoler in Mosambik im Einsatz, wo die weltweiten Lockdowns im Frühjahr einen Zusammenbruch der Wirtschaft verursacht hatten und unzähligen Tagelöhnern und Arbeitern plötzlich das überlebensnotwendige Einkommen weggebrochen war. Die Bemühungen des WFP, solche Hungersnöte einzudämmen, wurden am vergangenen Freitag mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.
Im April warnten die Vereinten Nationen vor einer „Hungersnot biblischer Ausmaße”. Seitdem sind sechs Monate vergangen. Konnte das Schlimmste verhindert werden?
Einiges hat man bestimmt verhindern können, aber die Zahl der Hungernden wächst täglich. Ende letzten Jahres waren etwa 85 Millionen Menschen von Unterernährung betroffen. Mit dem Beginn der Pandemie stieg ihre Zahl sprunghaft an auf 135 Millionen und jetzt spricht man schon von 270 Millionen. Die Auswirkungen von Covid zeigen sich auf globaler Ebene weniger im Gesundheitsbereich und vielmehr als soziales Elend infolge der Lockdowns, Handelsbeschränkungen und unterbrochenen Lieferketten.
Wurde dem WFP deswegen in diesem Jahr der Nobelpreis verliehen?
Zu einem bestimmten Teil, ja. Mit dem Nobelpreis wurde aber auch die Arbeit der letzten Jahre gewürdigt. 2020 haben wir außerdem stark mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammengearbeitet, wir waren sozusagen für die Logistik zuständig und haben auch die Hilfslieferungen von Arzneimitteln übernommen. Während der Pandemie waren wir zeitweise die größte Fluggesellschaft der Welt.
Sind Sie stolz auf die schwedische Ehrung?
Als Organisation freuen wir uns, dass unsere Arbeit anerkannt wird. Ich persönlich bin schon viele Jahrzehnte beim WFP und im humanitären Geschäft tätig. Deswegen bin ich mit solchen Gefühlen etwas vorsichtiger.
Hunger ist ein Mittel zur Kriegsführung.
Inwiefern hat die Arbeit des WFP zum Frieden beigetragen?
Hunger ist immer auch ein Mittel zur Kriegsführung. Wir sehen das in Syrien, in Jemen oder in Westafrika, vor allem durch Boko Haram. Eine hungernde Bevölkerung ist meistens gewaltbereiter, sie lässt sich von Terroristen eher rekrutieren und vereinnahmen. Wenn wir in diesen Regionen den Hunger bekämpfen, dann leisten wir auch einen Beitrag zu ihrer Befriedung. Das WFP agiert außerdem auf verschiedenen Ebenen, schon vor einem Konflikt und einer konkreten Notsituation wird viel investiert. Mit Analysen und Bestandsaufnahmen verschaffen wir uns ein Bild der Lage und unterstützen Regierungen und kleinere Organisationen vor Ort, damit sie im Krisenfall besser gerüstet sind.
Es gab auch Kritik an der Entscheidung, sie sei zu zahm und zu unpolitisch. Mit einem Preis ans WFP macht man sich jedenfalls keine Feinde.
Ich verstehe die Kritik, andererseits fiele mir in diesem Jahr auch keine Einzelperson ein, die durch herausragende Errungenschaften für den Frieden aufgefallen ist. Unter allen UN-Organisationen ist das WFP wahrscheinlich die Organisation, die tatsächlich am besten funktioniert und handfeste Erfolge liefert.
Der Sinn des Friedensnobelpreises besteht nicht nur in der symbolischen Würdigung von Erfolgen, sondern auch in der Erzeugung medialer Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema. Idealerweise hat dies reale politische Auswirkungen.
Wir sind nicht die einzige Organisation, die sich weltweit gegen Hunger einsetzt. Deswegen glaube ich auch, dass diese Entscheidung nicht nur den Zweck hat, das WFP zu würdigen, sondern mehr Aufmerksamkeit für das Problem an sich zu schaffen. Es geht uns alle an, auch in unserem Alltag, ob in Form von Lebensmittelverschwendung oder viel zu billigen Produkten.
Wenn ein Produkt bei uns billig auf den Markt kommt, hat meistens schon jemand anderes den Preis dafür gezahlt.
Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller kam kürzlich mit dem Satz „Hunger ist Mord“ in die Schlagzeilen. Was ist damit gemeint?
Wir produzieren und verschwenden heute mehr Lebensmittel – obwohl vielfach auf nicht nachhaltige Weise angebaut – als zur Ernährung der ganzen Menschheit eigentlich notwendig wäre. Dass Menschen verhungern, dürfte es deshalb gar nicht mehr geben. Hunger wird von anderen Menschen erst gewollt. In Kriegen wird Hunger gezielt als Waffe genutzt, dann kann man tatsächlich von Mord sprechen. In anderen Fällen wird Hunger schlicht geduldet oder durch Unverantwortlichkeit verursacht.
Hunger wird bewusst geduldet?
In vielen Ländern, so auch in Mosambik, meinem letzten Einsatzgebiet, werden die allermeisten Güter – auch Lebensmittel – importiert. Früher aus Europa, inzwischen vor allem aus Asien. Einheimische Bauern finden für ihre Lebensmittel keinen Absatz, weil sie gegenüber ausländischen Produkten zu teuer sind. Indem lokale Produktion verhindert wird, bleiben diese Länder in der extremen Armut gefangen. Ein Status quo, der durch internationale Verträge, Abkommen und einseitige Subventionen aufrechterhalten wird.
Wer profitiert davon?
Wenn alles importiert wird, profitieren zunächst einige Händler und Lieferanten. Auch die lokalen Regierungen erhalten – meist über zwielichtige Kanäle – ihren Teil. Letztendlich profitiert aber die ganze westliche Welt davon. Wenn es in manchen Weltgegenden keine lokale Produktion gibt, finden unsere Produkte dort Absatz, umgekehrt werden einzelne Rohstoffe wie Kaffee, Schnittblumen oder Bananen zu Ramschpreisen aus solchen Ländern importiert. Dort werden sie aber zu Hungerlöhnen produziert. Wenn ein Produkt bei uns billig auf den Markt kommt, hat meistens schon jemand anderes den Preis dafür gezahlt.
Wer ist für diese Ungleichheit verantwortlich? Und wer könnte das ändern?
Die Verantwortung liegt bei denen, die durch entsprechende Abkommen solche Strukturen aufrechterhalten. Das sind die allmächtigen multinationalen Konzerne, aber auch die Machenschaften der Welthandelsorganisation (WTO), des Internationalen Währungsfonds (IMF) oder der Weltbank. Und natürlich die lokalen Regierungen, die solche Abkommen oft zu ihrem persönlichen Vorteil und zum Schaden der eigenen Bürger und Bürgerinnen unterzeichnen.
Die Organisationen, die Sie nennen, sind nicht demokratisch legitimiert. Welche Möglichkeiten haben wir, Einfluss auf sie zu nehmen?
Wir sollten vor allem die Parteiprogramme und die politische Performance bewusster und vorsichtiger anschauen: Wie steht die Partei, der wir unsere Stimme geben, zu ernsthaft nachhaltigen regionalen Strukturen oder globaler Ausbeutung und Benachteiligung? Was schlägt sie dagegen vor? Und als Mitarbeiter der Organisation, die gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, muss man Mut zeigen und offen sagen: Nein, allein mit humanitärer Hilfe kommen wir nicht weiter. Wir müssen das Problem auch auf einer anderen Ebene angehen, ungerechte Handelsstrukturen verändern und das System an der Wurzel neu gestalten.
Welche Rolle spielt in diesem System die Entwicklungshilfe, wie Sie auch vom WFP geleistet wird?
In den letzten 30 Jahren, in denen ich im humanitären Bereich aktiv war, haben wir tatsächlich einiges verbessern können. In der Regel ist die Hilfe aber nur temporär, ein Tropfen auf dem heißen Stein. Für das, was wir den Geberländern kosten, lösen wir manchmal zu wenig und oft nicht dauerhaft genug, was aber natürlich nicht nur von uns abhängt. Würden wir uns mehr darauf konzentrieren, die Schaltstellen im System zu beeinflussen, könnten wir den Hunger viel effektiver bekämpfen. Auch in der Prävention von Konflikten ließe sich mehr erreichen. Die UN müsste dringend und umfassend reformiert werden, um effizient und schlagfertig zu sein. Heute ist die UN hauptsächlich ein riesiger und etwas schwerfälliger bürokratischer Apparat.
Wo die Dürre früher nur alle zehn Jahre kam, stellt sie sich inzwischen fast jährlich ein.
Die UN und auch die G7 hatten das Ziel, bis 2030 eine Welt ohne Hunger zu ermöglichen. Ist das noch realistisch?
Ich habe das nie für ganz realistisch gehalten. Aber es ist ein nobles Ziel und es war sicher nicht falsch, sich dieses – übrigens vollkommen authentische – Ziel vor Augen zu setzen.
Welche Gebiete sind zurzeit am stärksten betroffen?
Syrien und Jemen sind Beispiele dafür, wie das Aushungern der Menschen als Kriegsmittel eingesetzt wird. Im Irak hat sich die Situation etwas gebessert, schlechter ist die Versorgungslage in den langanhaltenden Konfliktgebieten Afghanistan, Pakistan, Südsudan und Somalia. Düster sieht es vor allem in Westafrika zwischen Mali, Burkina Faso, Tschad und Niger aus, wo Boko Haram aktiv ist.
Wo sind vor allem klimatische Veränderungen die Ursache?
In der Karibik, Zentralamerika, entlang des gesamten Sahelgürtels bis zum Horn von Afrika und in Asien werden Ernten immer häufiger durch Stürme und Überschwemmungen oder Heuschreckenplagen zerstört. Gleichzeitig werden weite Gebiete von Dürren heimgesucht. Wo die Dürre früher nur alle zehn Jahre kam, stellt sie sich inzwischen fast jährlich ein.
Unser Umgang mit dem Virus war kleinkariert und absolut unverantwortlich.
Sie haben auch die Lockdowns in westlichen Staaten als Ursache für die aktuellen Hungersnöte genannt.
In der westlichen Welt haben die meisten genug Polster, um sich einen Lockdown leisten zu können. Das ist in Ländern, wo viele Menschen nur für ihre tägliche Mahlzeit arbeiten, nicht der Fall. Die meisten Entwicklungsländer haben es daher tunlichst vermieden, einen Lockdown zu verhängen, weil das den Menschen ihre Lebensgrundlage entzogen hätte. Trotzdem haben unzählige Menschen ihr Einkommen verloren, weil die Nachfrage aus den reichen Ländern ausblieb. Zudem wurden Importgüter – auch Lebensmittel – wegen der Handelsbeschränkungen teurer.
Wurden diese „Kollateralschäden“ der Lockdowns genügend mitberücksichtigt?
Wenn man die Folgen der Lockdowns im globalen Maßstab betrachtet, dann kann es einen nur ratlos machen, dass solche Maßnahmen überhaupt ergriffen wurden. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die durch die Bekämpfung des Virus verursacht wurden, übersteigen die gesundheitlichen Schäden durch das Virus um ein Vielfaches. Man hat die Maßnahmen gerechtfertigt durch die Gefahr, dass ein Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung zu vielen Toten führen könne. Die wirtschaftlichen Folgen töten aber schon seit Monaten Millionen von Menschen durch Hunger. Unser Umgang mit dem Virus war kleinkariert und absolut unverantwortlich.
Was macht es mit einem Menschen, wenn man, so wie Sie, dem Kontrast zwischen europäischem Überfluss und dem ständigen Überlebenskampf in anderen Weltgegenden täglich ausgesetzt ist?
In den Krisengebieten versuche ich, mit Mut und Professionalität meine Arbeit zu verrichten und nicht zu verzweifeln. Wenn ich wieder in Europa und speziell in Südtirol bin, dann genieße ich bewusst die Berge. Ich habe gelernt, beide Welten auseinanderzuhalten. Dass etwas nicht stimmt, merke ich, wenn ich die lokalen Nachrichten höre und erfahre, was in Südtirol unsere größten Probleme sind. Dann muss ich nur lachen.
Verrichten Sie Ihre Arbeit im Gefühl, einen Unterschied zu machen?
Diese Überzeugung habe ich, sonst hätte ich schon längst meinen Job gewechselt. Im Gegensatz zu vielen anderen mache ich diese Arbeit nicht des Geldes wegen.
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