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Es ist eine unscheinbare Hügelkette, die das bewohnbare Land von der Hölle trennt. Danach führt die Straße leicht abwärts, zurück ins südwestiranische Tiefland. Innerhalb weniger Fahrtminuten erhitzt sich die Luft, die durch die heruntergekurbelten Fenster strömt, um mehr als 10 Grad, von 30 auf 42 Grad Celsius. Die Sonne ist schon längst untergegangen, aber die Hitze bleibt ungebrochen. Auch die Finsternis scheint noch zu flimmern und die sandige Fahrtluft treibt mir Tränen in die Augen. Jetzt merke ich erst, wie wichtig dieser Tagesausflug in die Berge für meine Vitalfunktionen war. Allein meine Nieren kommen nach drei bis vier Litern Wasser am Tag an ihre Grenzen.
Mehrmals auf dieser Reise in die Region Chuzestan an der Grenze zwischen Iran und Irak muss ich mich fragen, ob ich ein klimaverwöhntes Weichei bin. Immerhin leben mehrere Millionen Menschen in diesem Teil der Erde, auch sie müssen mehr als sechs Monate lang ihren Alltag und ihre Organe mit den unbarmherzigen Temperaturen in Einklang bringen. Wie machen sie das nur?
Ahvaz ist mit seinen eineinhalb Millionen Einwohnern die regionale Hauptstadt dieses Infernos. Bekannt ist die Stadt aber vor allem in ihrer Eigenschaft als heißester bewohnter Ort der Erde. Im Juni 2017 wurden hier knapp 54 Grad gemessen. Auch jetzt, zur Zeit meines Aufenthalts ist das Quecksilber nicht mehr weit davon entfernt. Es ist erst Ende Mai und die Temperaturen erreichen am Nachmittag schon erdrückende 47 Grad, in der ersten Juniwoche soll die 50 Grad-Marke geknackt werden.
„Ihr habt sogar einen günstigen Zeitpunkt erwischt“, sagt Ali, unser Gastgeber. „Wenigstens ist die Luft zurzeit sauber“. Ali hat recht, denn die Stadt ist nicht nur als Backofen unter freiem Himmel berüchtigt, sondern wird von der WHO auch in Sachen Luftverschmutzung als rekordverdächtig angeführt. Wüstenstaub, Abgase und Hitze vermengen sich in Ahvaz zu einem tödlichen Mix. Ali selbst wird dann helfen können. Als angehender Arzt wird er es hier häufiger mit Fällen von Hitzeschlag und Lungenkrebs zu tun haben.
Man mag es kaum glauben, dass ausgerechnet diese Gegend einst als die Kornkammer des alten Mesopotamiens galt. Bereits zu Zeiten der Babylonier war die Region durch hochentwickelte Bewässerungsanlagen erschlossen, die noch heute zum Teil erhalten sind. Das Wasser stellte das nahegelegene Zagros-Gebirge mit seinen zahlreichen Flüssen und Firnfeldern bereit, und dank des warmen Klimas wurden hier gleich zwei Ernten pro Jahr eingefahren – ein Überfluss, wovon das damalige Europa nur träumen konnte.
Heute ist der Überfluss eher unterirdisch zu finden. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden rund um Ahvaz gigantische Ölvorkommen entdeckt. Ein Magnet für ausländische Mächte: Lange Zeit wurde der Iran von westlichen Akteuren, insbesondere Großbritannien, ferngesteuert und in seinen Ressourcen ausgebeutet. Inzwischen schätzen Historiker diese Fremdherrschaft als einen der wichtigsten Gründe ein, weshalb es im Jahr 1979 zur islamischen Revolution und schließlich zum theokratischen Regime kam, das noch heute an der Macht ist.
Von der Anwesenheit dieser angelsächsischen Besatzer lassen sich heute nur noch in der Sprache vereinzelte Spuren finden. Insbesondere das Bachtiarische, die Sprache der Nomaden, die auf den Ölfeldern ihre Herden hüteten, weist nach wie vor solche Einflüsse auf: „gelās“ heißt beispielsweise Glas, und „tomāte“ heißt Tomate.
Für ein paar Tage kommen wir bei Ali und seinem älteren Bruder Modschtaba unter. Sie sind selbst Abkömmlinge bachtiarischer Nomaden, haben den nomadischen Lebensstil aber längst aufgegeben und bewohnen nun eine typische iranische Studentenbude, minimalistisch, aber bequem. Hier trifft globale Moderne auf iranische Tradition, auf dem Sofa wird selbstgebrauter Alkohol getrunken, der Boden ist mit weichen Teppichen ausgepflastert.
Eine gemütliche Wohnung ist in Ahvaz wichtiger als sonst irgendwo, schon allein deshalb, weil öffentliche Räume wie Parks, Spielplätze oder Uferpromenaden im Sommer gar nicht existieren. Die Hitze löscht solche Orte des öffentlichen Lebens einfach aus. Als ich Ali sage, dass ich mir zum Mittagessen ein Falafel-Sandwich holen will – es ist 13 Uhr und die Sonne sticht erbarmungslos – schaut er mich schief an. Niemand geht hier in den Sommermonaten freiwillig zu Fuß irgendwohin, meint er. Schon die wenigen Schritte zwischen Haus und klimatisiertem Auto seien eine Zumutung.
Die Hitze hat weitreichende Auswirkungen auf das tägliche Leben der Ahvazer. Man erkennt es bereits am Straßenbild: kaum ein Fußgänger, dafür Autos, Stau, Abgase, Gehupe. Erst am späten Abend, wenn die Temperaturen unter 40 Grad fallen, trauen sich die Menschen wieder aus ihren klimatisierten Räumen. Dann geht es aber zur Sache: Alles, was tagsüber nicht erledigt werden konnte, wird auf die Abendstunden verschoben. Innerhalb kurzer Zeit füllen sich die Bürgersteige zu einem unüberschaubaren Gewimmel an, Abstände einzuhalten wird unmöglich und zwischen den notorisch hohen Corona-Zahlen in der Region und dieser erzwungenen nächtlichen Nähe besteht möglicherweise ein gewisser Zusammenhang.
Vereinzelt sieht man nun endlich auch Paare, junge Menschen, die sich zum ersten Mal verabredet haben und die Unverbindlichkeit eines Spaziergangs der Enge eines Cafés vorziehen. Romantische Promenadengänge oder Parkbänke kommen in Ahvaz zu dieser Jahreszeit nicht infrage. Auch die Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen, leidet unter der Hitze. Aber die jungen Ahvazer wissen sich zu helfen: „Mach dir darum keine Sorgen“, lacht Ali spitzbübisch, „wir kennen Mittel und Wege.“ Das beliebteste dieser Mittel sind Blind Dates. Über Freunde und Bekannte werden zwei junge Singles in Kontakt gesetzt, die sich daraufhin in der klimatisierten Anonymität eines Cafés oder einer Mall zum ersten Mal gegenübersitzen.
Es ist ja nicht so, dass die Menschen hier deutlich hitzeresistenter wären als anderswo, korrigieren die Ahvazer meine orientalistisch verklärten Vorstellungen. Vielmehr hätten die Bewohner der Tiefebene – darunter Perser, Bachtiaren und Araber – ihre ganz eigenen Strategien gefunden, um der Hitze zu entgehen. Das reicht vom gewöhnungsbedürftigen Tee- und Warmwassertrinken (als würden sich warm und warm gegenseitig aufheben) bis zur Architektur der alten Basare und Zitadellen, die in kleineren Städten wie Schuschtar und Desful noch gut erhalten sind. Die Gassen sind hier oft so eng, dass man nur die Arme ausbreiten muss, um zwei Hauswände zu berühren, und an vielen Stellen sind die Wege durch Lauben oder Unterführungen überdacht. Das spendet nicht nur Schatten, sondern sorgt durch die Zugluft für eine angenehme Brise.
Solche Tricks traditioneller Stadtplanung sind in Ahvaz längst von unästhetischen Klimaanlagen, wie man sie auch in Texas, Süditalien und Australien findet, ersetzt worden. Weiße Kästen mit Ventilator, die an jeder Hausfassade zu mehreren Dutzend prangen, oft hat eine Wohnung gleich mehrere Geräte, eines für jedes Zimmer. Auch in Alis und Modschtabas Wohnung bleibt nur der Abstellraum ohne Klima. In den restlichen Zimmern herrschen kühle 20 Grad, die zur Außentemperatur einen geradezu polaren Kontrast bilden.
Aber die Klimaanlagen muss man sich im Iran erst einmal leisten können. Rund 1000 Dollar kostet ein Gerät, für manche Iraner ist das ein ganzes Jahreseinkommen. Wie es bei der iranischen Jugend aber üblich ist, haben Ali und Modschtabas Eltern beim Kauf der Anlagen einen wesentlichen finanziellen Beitrag geleistet.
Die Abende bei den Brüdern sind ausgelassen und lustig, man trinkt, raucht, kocht gemeinsam. Die Differenzen zwischen den Kulturen scheinen bei der gebildeten Jugend wie wegnivelliert, amortisiert durch soziale Medien und den allgegenwärtigen Einfluss westlicher Intellektueller. Unvermittelt fragt mich etwa Ehsan, ein Freund der beiden Brüder, der an einem Abend vorbeischaut, was ich von Hannah Arendt und ihrer Theorie der Banalität des Bösen halte. Erst vor kurzem hat Ehsan „Eichmann in Jerusalem“ in persischer Übersetzung gelesen. Ich meinerseits zeige mich wie üblich beschämt, dass ich von den iranischen Klassikern, von Rumi bis Khayyam, so gut wie nichts weiß. Die übliche westliche Selbstbezogenheit.
Was an kulturellen Unterschieden bleibt, sind die gegenseitigen Bereicherungen in der Küche, im urbanen Vokabular und die überschwängliche Gastfreundschaft, die einem Europäer manchmal auch zu viel werden kann („Wie, du willst schon schlafen? Hier, nimm eine Zigarette, rauchen wir noch eine. Hast du nicht Durst? Ich setze uns noch einen Tee auf.“).
Die Gastfreundschaft in Chuzestan ist selbst für iranische Verhältnisse außerordentlich. Und die Einheimischen sind auf diesen Ruf sichtlich stolz. „Die wärmsten Leute findet man im Süden“, sagen sie. Zurecht. Innerhalb von fünf Tagen wurden wir auf eine Tour in die Berge eingeladen, durften bei Ali und Modschtaba übernachten und wurden auch sonst immer wieder zu freien Fahrten, Essen und Übernachtungen eingeladen. Was den lokalen Gastbetrieben, Taxifahrern und Touristenführern das Geschäft ruiniert, hat unseren Aufenthalt in Chuzestan zu einer menschlichen Erfahrung gemacht, die wir trotz der gnadenlosen Temperaturen jederzeit wiederholen möchten. Nun scheint mir auch die Logik des Teetrinkens weniger widersprüchlich zu sein. Hitze wird hier besiegt durch Wärme.
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