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Jörg Oschmann
Veröffentlicht
am 19.02.2020
LebenVolontourismus

Gut gemeint, schlecht getroffen

Veröffentlicht
am 19.02.2020
Wer heute in den globalen Süden fliegt, um vor Ort ein paar Wochen lang zu „helfen“, riskiert, damit mehr Schaden anzurichten als Gutes zu tun.
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Sie sind gekommen, um zu helfen. Mit Sonnenschutzfaktor 50+ im Gesicht, etwas Geld in der Tasche und jeder Menge Idealismus im Gepäck stehen sie im globalen Süden und wollen mit anpacken. Helfen: an sich eine noble Geste und doch nicht immer eine gute Idee. Wenn einer dafür extra um die halbe Welt fliegt, eine Vermittlungsagentur bezahlt und ungefragt fragwürdige „(Entwicklungs-)Hilfe“ leistet, ist es das jedenfalls nicht unbedingt. Volontourismus nennt sich die Mischung aus Volontariat (also Arbeit ohne Bezahlung) und Tourismus (also organisiertes Reisen gegen Bezahlung).

Die Welt ist bekanntlich ein Babylon, ein Sündenpfuhl mit ungleich verteilten Ressourcen und vermehrt kommt man auf den Gedanken, es muss irgendwas getan werden. Aber ist Volontourismus das, was der globale Süden braucht? Braucht es junge Europäer*innen bei der Kinderbetreuung in Waisenhäusern in Kambodscha, beim Bauen von Brunnen in Burkina Faso und für die Englischnachhilfe in Bolivien? Wer braucht eigentlich wen und wie haben es diese Menschen nur diese ganzen Jahrtausende ohne uns geschafft? Tatsächlich kamen sie ja ganz gut zurecht, bis die Eroberer kamen und Land und Leute in Besitz nahmen. Diese erfanden dann den Dreieckshandel, der vor allem ein Sklavenhandel war, und nannten die Länder „Kolonien“.

Unser Reichtum und die Armut der Anderen beruht auch heute noch auf diesem System. Wenn Europa beispielsweise überschüssige Waren aus der subventionierten Landwirtschaft billig nach Afrika verkauft, dann ist das eine Variante des (Neo-)Kolonialismus, der zwar weniger grausam, aber ebenso schädlich ist. Denn so wird Armut und Migration produziert. Das ist alles nichts Neues, aber es bleibt wichtig zu begreifen, dass alle Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, vielschichtig und komplex sind und — auch wenn populistische Schlaumeier anderes behaupten — es dafür keine einfachen Lösungen gibt. Weil das alles nicht so einfach ist, ist die Entwicklungszusammenarbeit ein recht schwieriges und umstrittenes Feld in der Politik und der Volontourismus als individuelle Form der „Helferkultur“ umso mehr.

Der Weiße-Retter-Komplex ist eine Variante des gängigen Helfersyndroms, der nur auf den ersten Blick etwas Positives hat.

Eurozentrismus nennen es die Sozialwissenschaftler*innen, wenn man als Europäer*in davon ausgeht, das eigene Wissen und Verständnis von der Welt seien die „richtige Version“ und stünden über dem Wissen anderer, nicht-europäischer Völker. Und wenn Weiße im Zuge dessen meinen, anderen die Welt erklären zu können oder gar zu müssen, dann gibt es dafür noch ein anderes Wort: Rassismus. Gewachsen aus der eurozentrischen Selbstüberschätzung, genährt durch historisch zufällige Privilegien und basierend auf Reichtum und Konsum, der auf die Kosten anderer Kontinente und Menschen geht. Die „white saviors“, also Held*innen, die nicht-weißen Menschen helfen, ihre Krise zu überwinden, finden wir auch häufig auf der Leinwand. Als wiederkehrende Figur ermöglichen sie in Hollywood-Filmen wie „Blood Diamond“, „Blind Side — die große Chance“ und auch „Avatar“ dem mehrheitlich weißen Publikum, sich gut zu fühlen: Ist es doch eine wunderbare interkulturelle Freundschaft zwischen einem edlen Weißen und den „bedauernswerte, armen Farbigen“. Die afrikanischen, indigenen oder extraterrestrischen Anderen sind demnach größtenteils zur eigenen Rettung unfähig und vom „white savior“ abhängig. Tatsächlich ist der Weiße-Retter-Komplex eine Variante des gängigen Helfersyndroms, der nur auf den ersten Blick etwas Positives hat und in Wirklichkeit auf lange Sicht für alle Betroffenen sehr problematisch wird. Weil der Mensch in seiner Hilfsbereitschaft dabei nicht aus Altruismus, sondern zumeist auch aus Egoismus handelt.

„Resonanz“, nennt Hartmut Rosa dieses positiv bestärkende Gefühl, wenn wir mit anderen Individuen oder der Gesellschaft in eine wahrhaftige Beziehung treten. Wahrhaftig ist sie dann, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht, d.h. es muss etwas zurückkommen, etwas, das uns berührt und herausfordert. In unserem mitteleuropäischen Alltag treten wir jedoch täglich mehrfach in Beziehung mit Dingen und Konsumgütern, unserem Handy zum Beispiel. Aber die Resonanz, die wir für ein erfülltes Leben nach Rosa brauchen, kommt kaum zustande, denn wir treten zunehmend weniger mit anderen Individuen oder gar der Gesellschaft als Ganzes (durch gemeinnützige Tätigkeiten zum Beispiel) in Beziehung. Entfremdung und innere Leere wachsen dadurch weiter an. Ein gefühltes Vakuum, das sich von Agenturen wie „Praktikawelt“ zu Geld machen lässt: Mal ein bisschen die Welt retten verspricht Sinnhaftigkeit mit angenehmen Nebeneffekten im Lebenslauf und verbessert außerdem die Englischkenntnisse. Hat der oder die Volontourist*in seinem zivilisationsbedingt entfremdeten und betrübten Gemüt etwas vermeintlich Relevantes geboten, fliegt er/sie nach dem Sozialquickie ruhigen Gewissens wieder nach Europa, um dort weiter zu studieren oder zu arbeiten.

In der Volontourismus-Werbung wird eine bestimmte Sicht auf die Länder des Südens produziert und re-produziert.

Nun kostet das Selfie mit afrikanischen Kindern natürlich etwas, den Flug mindestens, Vermittlungsgebühren, Aufenthalt usw. und bleibt deshalb ein Privileg, das sich nicht jede*r leisten kann. Apropos Selfie: Man darf davon ausgehen, dass die Eltern bzw. Verantwortlichen der Kinder nicht um Erlaubnis gefragt worden sind, bevor der oder die Volontourist*in das Foto auf Facebook oder Instagram hochlädt. Grundsätzlich haben die Weißen in ihren „Kolonien“ in Asien, Afrika oder Amerika ja kaum um Erlaubnis gefragt: nicht bei der Kolonialisierung, nicht beim Abräumen der Bodenschätze, nicht beim Versklaven der Arbeitskräfte. Jetzt wird allzu häufig in ebenso kolonialer Manier geholfen — und auch da wird leider nicht immer gefragt. Wer in exotische Länder fahren muss, um seine Überlegenheit zu spüren, sollte sich vor allem eines vor Augen führen: Die Überlegenheit, die zunächst vor allem auf die Gnade des Geburtslandes und an zweiter Stelle auf das Elternhaus zurückgeht, ist der große Zufall, für den wir alle nichts können und den wir uns weder „verdient“, noch erarbeitet haben.

In der Volontourismus-Werbung wird eine bestimmte Sicht auf die Länder des Südens produziert und re-produziert. Kontinente, unzählige Ethnien, Kulturen und Biografien werden auf eine Handvoll Klischees reduziert, die letztlich weniger der tatsächlichen Lebenswelt dieser Menschen, als unserem vorgefertigten Bild von ihnen entsprechen. „Stereotypes harm dignity“ — Stereotypen fügen der Würde der Menschen Schaden zu, ist der Slogan der mit satirischen Mitteln arbeitenden Initiative „Radi-Aid“. Sie setzt sich mit der fehlerhaften Vermittlung von Stereotypen im Zusammenhang mit Wohltätigkeitskampagnen auseinander und zeigt auf, dass mit der stereotypen Realitätsverzerrung vor allem ein Helfer-Reflex zugunsten der Organisationen provoziert werden soll. Natürlich gibt es Armut in Brasilien, Hunger in Eritrea, Probleme mit Plastikmüll in Indonesien. Trotzdem sind die Lebensrealitäten dieser Menschen darauf nicht zu reduzieren und diese komplexen Probleme sind durch Volontourismus auch nicht ansatzweise lösbar.

Wer helfen will, muss dafür nicht um die halbe Welt fliegen. Wer es trotzdem tut, der prüfe seine eigenen Motivationen und bleibe kritisch in der Auswahl der Organisationen.

Tatsächlich wirkt sich der Volontourismus oft sogar tragisch aus, beispielsweise auf Waisenhäuser. Zum einen sind es ständig wechselnde Bezugspersonen, die die Herzen der Kinder für drei Monate erobern wollen, zum anderen führt der Boom des Volontourismus auch dazu, dass Kinder von besonders skrupellosen Geschäftsleuten den Eltern abgeschwatzt werden, um sie temporär in einem „Waisenhaus“ unterzubringen – denn mit helf-wütigen jungen Menschen aus Europa lässt sich gutes Geld verdienen. So ist der Volontourismus inzwischen vor allem zu einem Geschäftsmodell mit dem globalen Ungleichgewicht und mit der Gutmütigkeit junger Weißer verkommen, bei dem das extreme Machtgefälle zwischen Hellhäutigen und Dunkelhäutigen ausgenutzt wird, damit erstere vor allem mal wieder sich selbst helfen können. Weniger Hilfeleistung als Scheinheiligkeit, bringt Volontourismus zwar ein gutes Gefühl und den vermittelnden Organisationen eine Stange Geld, gleichzeitig kann es einheimische Kinder in Gefahr bringen und den Erwachsenen die Würde nehmen. Deshalb ist es unerlässlich, dass jeder und jede sich selbst ehrlich fragt, warum er oder sie um die Welt fliegen und Menschen helfen möchte und ob er oder sie damit nicht vor allem sich selbst und einer gewinnorientierten Hilfs-Industrie hilft.

Armut, Einsamkeit, Vernachlässigung und Klimaprobleme gibt es auch vor der eigenen Haustür. Wenn man seinen Mitmenschen helfen möchte, was zweifellos ein edler und im Zwischenmenschlichen absolut notwendiger Zug ist, könnte man in der Nachbarschaft beginnen. In der Obdachlosenküche oder in Notunterkünften, bei solidarischen Einrichtungen wie dem Haus der Solidarität oder der Caritas, im Bürgerheim oder bei der Lebenshilfe, beim Weißen Kreuz oder bei der Zeitbank – es gibt genügend von der Politik und unserem Wirtschaftssystem benachteiligte Menschen ganz in der Nähe und Organisationen, die diese zu unterstützen suchen. Wer helfen will, muss dafür nicht um die halbe Welt fliegen. Wer es aber trotzdem tut, der prüfe seine eigenen Motivationen und bleibe kritisch in der Auswahl der Organisationen. Vor allem aber halte er oder sie sich stets eines vor Augen: Das Gegenteil von “gut” ist “gut gemeint”.

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