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Mit gespreizten Beinen sitzt Lina*, 26, auf dem gynäkologischen Stuhl. Routineuntersuchung. Zuerst kommt der Gebärmutterhalsabstrich, es folgt die Sonographie. Die Gynäkologin trägt kaltes Gel auf Linas Bauchdecke auf. Das Bild am Monitor flimmert. „Es sah so aus, als sei mein Eierstock mit einer Perlenkette behangen “, sagt Lina heute, fünf Jahre später. Polyzystisches Ovarialsyndrom kritzelte ihre Gynäkologin auf die Rückseite des Ultraschallbildes: sie solle ruhig später im Internet darüber recherchieren. „Dann riet sie mir noch, die Antibabypille zu nehmen, um die Symptome in den Griff zu bekommen“, sagt Lina. Wenig später stand sie gegen die schwere Eingangstür der Praxis gelehnt. Eilig scrollte sie durch pseudomedizinische Beiträge im Netz und begriff, dass sie wohl niemals Kinder bekommen würde.
Ein Irrtum, weiß Gynäkologe Ulrich Andergassen. Und er erklärt: „Es ist völlig unzureichend, die Diagnose bloß aufgrund des Ultraschallbildes zu stellen.“ Das Polyzystische Ovarialsyndrom, kurz PCO-Syndrom, ist eine der häufigsten Hormonstörungen bei Frauen. Schätzungen zufolge sind im mitteleuropäischen Raum zwischen sechs und acht Prozent der erwachsenen Frauen betroffen. Bislang ist die Ursache des PCO-Syndroms unbekannt. Im Jahr 2003 wurden die sogenannten Rotterdam-Kriterien formuliert. Demnach müssen von drei möglichen Symptomen mindestens zwei vorliegen, um eine Diagnose stellen zu können. Dazu zählen chronische Zyklusstörungen, polyzystische Ovarien und ein Überschuss an männlichen Hormonen. Andergassen sagt: „Gerade durch die Einnahme der Antibabypille wird das PCO-Syndrom oft erst spät festgestellt. Die Antibabypille kaschiert die unregelmäßige Menstruation und den damit einhergehend seltener gewordenen oder gar nicht mehr stattfindenden Eisprung.“ Bei Verdacht auf die Hormonstörung müsse ein Arzt in jedem Fall durch eine Blutabnahme den Hormonstatus bestimmen. Erst dann lasse sich eine Diagnose stellen.
Eine solche Untersuchung legte ihre Gynäkologin Lina nie nahe. Lina sagt: „Die Bläschen an meinem Eierstock reichten meiner Gynäkologin aus, um zu einem Befund zu gelangen.“ Unfähig, die Informationen zu verarbeiten, die sie im Netz zusammengetragen hatte, mied sie die gynäkologischen Visiten. Sie entschied, die Antibabypille auf eigene Faust abzusetzen – mit schweren Folgen: „Anfänglich bemerkte ich vereinzelt Härchen an meiner Oberlippe, weniger werdendes Haupthaar und schließlich einen völlig aus dem Rhythmus geratenen Zyklus“, so Lina. Mal sei die Menstruationsblutung monatelang ausgeblieben, mal habe sie wochenlang angedauert mit ungewöhnlich heftigen Unterleibsschmerzen.
„Das PCO-Syndrom zeigt sich in vielfältiger Weise“, erklärt Ulrich Andergassen. Das namensgebende Perlschnur-Phänomen – also die Eizellen, die sich wegen des ausbleibenden Eisprungs am Eierstock festsetzen – muss nicht unbedingt auftreten. Und auch Akne, partieller Haarausfall oder die typisch männliche Körperbehaarung wie Härchen auf der Oberlippe treffen nicht auf alle Patientinnen zu. Fest steht bloß, dass die betroffenen Frauen zu viele männliche Hormone ausschütten und der komplexe Hormonhaushalt dadurch gestört wird.
Was viele Patientinnen eint, ist eine Insulinresistenz. Das körpereigene Hormon Insulin reguliert den Blutzuckerspiegel und fördert die Aufnahme des Zuckers in die Muskeln. Reagiert der Körper unempfindlich auf dieses Hormon, wird es in immer größeren Mengen produziert. Infolgedessen erhöht sich die Ausschüttung der männlichen Hormone.
Durch die Insulinresistenz speichern Betroffene die durch die Nahrung aufgenommene Energie eher als Fettreserve anstatt sie zu verbrennen. Tatsächlich sind etwa 75 Prozent der am PCO-Syndrom leidenden Frauen übergewichtig. Außerdem haben sie ein höheres Risiko, an Diabetes zu erkranken. Andergassen sagt: „Primär rate ich daher zu Bewegung und einer Ernährungsumstellung.“ Studien haben gezeigt, dass bereits eine Reduzierung des eigenen Körpergewichts um fünf Prozent einen positiven Effekt erzielen kann.
Auch Lina, die immer normalgewichtig war, hatte nach dem Absetzen der Antibabypille zugelegt. Sie erinnert sich: „Ich wog mich wöchentlich und sah das Gewicht steigen. Aber ich war unfähig, etwas dagegen zu tun.“ Ihr Umfeld fragte sie, ob sie schwanger sei: „Unverschämt!“, schimpft sie heute. Doch damals verzerrten solche Äußerungen ihr Selbstbild: „Wenn ich mich im Spiegel ansah, sah ich nur noch meine Makel. Ich sah den Flaum an meiner Oberlippe, meine üppigen Rundungen. Ich sah einen Körper, der wohl niemals Kinder gebären würde. Ich fühlte mich weder als vollständige Frau noch begehrenswert“, so Lina.
Ihre Geschichte ist kein trauriger Einzelfall, sondern Berufsalltag von Gynäkologe Andergassen. Immer wieder wenden sich junge Frauen an ihn, die fürchten, nicht schwanger werden zu können. Er sagt: „Viele von ihnen hadern jahrelang damit, ehe sie sich in meine Sprechstunde trauen.“ Das liege vor allem an den voreiligen Diagnosen vieler Berufskolleginnen und Kollegen und an der unsachgemäßen Information im Netz. Der Gynäkologe stellt klar: „Fakt ist, dass eine Schwangerschaft trotz PCO-Syndrom möglich ist. Die Diagnose ist ganz bestimmt nicht ein in Stein gemeißeltes Urteil.“ Zwar ist die Hormonstörung nach wie vor nicht heilbar, jedoch könne schon durch die Reduzierung des eigenen Körpergewichts eine spontane Schwangerschaft gelingen. Sollte der Kinderwunsch so nicht realisierbar sein, ist eine medikamentöse Therapie möglich. Um die Wahrscheinlichkeit eines Eisprungs zu erhöhen, wird etwa das Antiöstrogen Clomifen verabreicht. Per Ultraschall wird dann regelmäßig kontrolliert, ob Eizellen heranreifen und ein Eisprung eintritt. Häufig verschrieben wird auch das orale Diabetes-Medikament Metformin, das der Insulinresistenz entgegenwirken und so dazu führen kann, dass das männliche Hormon im weiblichen Körper zurückgeht. Die Chance schwanger zu werden kann sich dadurch deutlich erhöhen. „Wichtig ist, jede Patientin für sich zu betrachten und sie nach ihren individuellen Bedürfnissen zu therapieren“, sagt Andergassen.
Vor anderthalb Jahren las Lina ein Interview mit der Britin Harnaam Kaur, bei der das PCO-Syndrom diagnostiziert worden war. Bei der 30-jährigen Kaur trat als ein Symptom der Krankheit Hirsutismus auf – männliche Körperbehaarung. Sie wurde gemobbt, dachte darüber nach, sich das Leben zu nehmen – bis sie beschloss, ihren Körper ganz und gar zu akzeptieren und öffentlich gegen die optischen Erwartungen anzukämpfen, die an Frauen gestellt werden. Im Jahr 2016 wurde sie zur jüngsten Frau mit Vollbart gekürt. Heute arbeitet sie als Influencerin und Life Coach und wurde bereits für die Londoner Fashion Week gebucht.
Die Erzählungen von Harnaam Kaur rüttelten Lina wach. Sie wechselte die gynäkologische Praxis und ließ sich gründlich untersuchen. Auf den Rat ihres Arztes hin änderte sie ihre Essgewohnheiten radikal. Sie verzichtete weitestgehend auf Kohlenhydrate und wechselte zu einer proteinreichen Kost gepaart mit gesunden Fetten, viel Gemüse und Obst. Dazu macht Lina regelmäßig Sport. Mindestens jeden zweiten Tag trainiert sie, vorwiegend Intervall- und Krafttraining. Ihr Körpergewicht konnte sie so um fünfzehn Kilogramm reduzieren.
Und tatsächlich ließen die Symptome des PCO-Syndroms nach, ihr Zyklus pendelt sich allmählich ein. Sie sagt: „Wenn ich mich heute im Spiegel ansehe, sehe ich meinen Körper nicht mehr als ein Sammelsurium an Makeln. Jedes Oberlippenhärchen gehört zu mir, jedes Fettpölsterchen, mein dünnes Haar. Ich sehe einen Körper, der mich durchs Leben trägt, der vielleicht, vielleicht auch nicht eines Tages ein Kind gebärt. Vor allem aber sehe ich einen Körper, für den ich uneingeschränkt dankbar bin.“
Vor wenigen Wochen: Mit gespreizten Beinen sitzt Lina auf dem gynäkologischen Stuhl. Routineuntersuchung. Der Gebärmutterhalsabstrich zuerst, dann der vaginale Ultraschall. Der Monitor flimmert. Ihr Gynäkologe nickt: „Wie ich sehe, steht der Eisprung unmittelbar bevor.“ Lina weint Freudentränen.
*Name von der Redaktion geändert
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