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Lisa Maria Kager
Veröffentlicht
am 16.12.2015
LebenWir Ypsiloner

Generation Langeweile

Veröffentlicht
am 16.12.2015
Wir haben es verlernt, uns zu langweilen, und uns selbst dabei verloren.
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Ich sitze im Bus nach Berlin. Ab in die Stadt, die niemals schläft und so auch keine Langeweile kennt. Zehn Stunden Fahrt liegen vor mir. Um mit möglichst leichtem Gepäck zu reisen, liegt mein Laptop zu Hause, Bücher ebenso. Mobiles Internet habe ich im Ausland auch keines. Einziges Utensil der Beschäftigung in nächster Zeit sind Block und Kugelschreiber. Und ein Turnbeutel voll mit Essen. Ich starre aus dem Fenster, beobachte die dicken Schneeflocken und fühle mich eingeschüchtert von dem ganzen Haufen Zeit, der so fett und leer vor mir liegt.
Schon paradox, wenn man bedenkt, dass es mich unruhig macht, zur Abwechslung einmal Ruhe zu haben. Einfach so dazusitzen, ohne den Stress zu verspüren, irgendwelche Dinge erledigen zu müssen, virtuellen Nachrichten Antworten zu schulden, mit Neuigkeiten überhäuft zu werden oder zukünftigen Plänen hinterherzujagen.
Gedanken einfach da sein lassen, ohne sich darum kümmern zu müssen, was in den nächsten Stunden passiert. Wie lange habe ich diese zeitlose Welt schon nicht mehr besucht. Deshalb kann ich mich wohl auch gar nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt wirklich Langeweile hatte. Und das scheint keineswegs ein untypisches Ypsiloner-Phänomen zu sein.

„Jeder Moment muss voll genutzt werden. Die Zeiten zwischen den Zeiten gibt es für uns nicht mehr.“

Wir jammern, weil wir keine Zeit haben. Was wir hingegen schon haben, ist Schiss vor zu viel Zeit. Freiraum, auf dem wir am Ende eventuell tatenlos sitzen bleiben könnten. Und deshalb stopfen wir als Vorbeugung zur Langeweile jedes noch so kleine Zeitfenster mit Terminen zu. Ein Treffen mit Freunden da, eine Reise dort. Eine schnelle Joggingrunde, Skype-Gespräche und Tinder-Dates nicht zu vergessen, die sich jeweils perfekt in die Zwischenzeiten legen lassen. Und für die winzigen Zeiten zwischen den Zwischenzeiten wurden die social networks für uns erfunden. Anstatt einfach mal dazusitzen und die lange Weile des Nichts-zu-tun-Habens zu genießen, ertappe ich mich dann gerne dabei, wie ich über Pinnwände scrolle, Newsfeeds lade oder mich durch irgendwelche Fotoalben auf Facebook klicke. Natürlich ohne konkret etwas zu suchen. Verschwendung kostbarer Zeit, die doch so viel besser und auch gesünder in einfache Langeweile investiert wäre.

„Langeweile ist ein Nest von Kreativität.”

Doch der Drang nach Beschäftigung liegt einfach in den Ypsiloner-Genen. Wir verplanen jede Minute am Tag, jede Stunde in der Woche und jeden Tag im Monat. Sogar das Jahr haben wir meistens schon im Voraus durchgebucht. Nur, um das Risiko so gering wie möglich zu halten, die Langeweile mit uns allein verbringen zu müssen. Dabei ist „Jeder allein“, denn „Leben ist Einsamsein“, wie Hesse so schön sagte. Glauben wir den weisen Worten des Dichters, gibt es also keinen anderen Ausweg. Wir müssen diese Langeweile endlich zulassen und lernen, mit ihr umzugehen. Denn auch wenn wir jede noch so kleine Zeitlücke mit Beschäftigung zukleistern, werden wir uns am Ende irgendwo im Leben doch wieder selbst einholen. Und genau dann, wenn wir diese ewig gemiedene Langeweile an dem Punkt willkommen heißen, wird sie uns nicht mehr einschüchtern, sondern die Antwort auf all unsere offenen Fragen bringen. Sie ist nämlich der Ort, an dem wir sein können. Weil uns nichts und niemand bedrängt. Sie schafft einen Raum, in dem wir uns selbst begegnen und verlegte Gedanken endlich weiterspinnen können. Langeweile füttert unsere Kreativität mit fetten Zeitfenstern, durch die neue Ideen die Luft zum Atmen kriegen, die sie so dringend gebraucht haben, um wieder aufblühen zu können. Langeweile tut einfach gut, weil sie Freiraum schafft im Chaos unseres Alltags. Und genau darum lehne ich mich jetzt zurück und mache nichts – außer Langeweile haben.

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