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Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit neun Jahren vor unserem viereckigen, schwarzen Kasten-Fernseher stand und mir die Bilder von zwei Türmen ansah, in die ein Flugzeug flog. Damals, als ich noch nicht einmal wirklich verstand, wo Amerika lag, sprang mein Bruder auf der Couch herum und mein Vater rief meine Mutter ins Wohnzimmer, damit beide entsetzt in den Flimmerkasten schauen konnten. Ich weiß nicht, ob ich zu diesem Zeitpunkt verstanden hatte, was 9/11 bedeutete. Schon gar nicht wusste ich, welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft haben würde. Aber eines steht fest: Das Bild des Terrors hat sich erhalten und ist zusammen mit uns Ypsilonern groß geworden. Die ständige Konfrontation mit solchen Bildern hat uns kalt gemacht. Kalt gegenüber Armut, kalt gegenüber Krieg, kalt gegenüber Terror.
Wenn unsere Eltern in jungen Jahren noch keinen Fernseher hatten und das einzige Medium die frisch gedruckte Tageszeitung im Postkasten war, so wurden wir Ypsiloner – die Digital Natives – vom Anfang unseres Lebens an auf Bildschirmen von den Nachrichten des Schreckens begleitet. Auf 9/11 folgte der Tsunami, auf den Tsunami Hurrikan Katrina, auf Katrina Fukushima, auf Fukushima die Flüchtlingskrise und auf die Flüchtlingskrise erneut der Terror. Wie schön muss die Welt ohne die Medien gewesen sein, als man noch nicht den ganzen Tag lang mit Bildern und Texten vom Schrecken der Welt konfrontiert wurde.
Tragische Bilder und Töne laufen bei uns nicht nur auf dem Flatscreen eines Restaurants, während wir unsere Pizza verdrücken, sondern auch auf den Bildschirmen in den U-Bahnen, beim Zahnarzt im Radio und natürlich auf unseren Smartphones – und das ständig. Im Alltag sind wir ihnen hilflos ausgeliefert. Selbst wenn wir wollten, könnten wir sie nicht ignorieren. Immer und immer wieder die gleichen Bilder: Krieg, Flüchtlinge, Terror, Tote. Tote, Flüchtlinge, Terror, Krieg. Seit wir denken können, brennen sich im Stundentakt weinende Kinder, nach Hilfe schreiende Eltern, Maschinengewehre, Panzer und Leichen in unser Unterbewusstsein.
Und das macht stumpf.
Anstatt uns zu berühren und uns zu besseren Menschen zu erziehen, nervt uns Ypsilonern das Leid in der Welt allmählich. Wir können und wollen es nicht mehr sehen und fangen an, es zu übersehen. So nehme ich mittlerweile kaum mehr das Bild eines toten Flüchtlingskindes wahr, das das Meer an den Strand angespült hat. Ich zögere nicht, klicke weiter ohne mit der Wimper zu zucken und schäme mich gleichzeitig dafür, ein abgestumpfter Ypsiloner zu sein. Aber ich kann nicht anders.
Und es kommt noch schlimmer. Ich werde diesen Nachrichten gegenüber nicht nur stumpf wie eine alte Messerklinge, sondern auch noch misstrauisch. Obwohl ich selbst von den Worten, die ich aufs Papier bringe, lebe. Ich fange an, Medien nicht mehr zu glauben. Ich zweifle am Wahrheitsgehalt der Informationsflut, zweifle an Massenvergewaltigungen und Terror und daran, ob überhaupt irgendetwas von dem, was wir tagtäglich an Nachrichten konsumieren, der Realität entspricht. Und auch an der Moral der Menschen, die diese Nachrichten produzieren, zweifle ich. Schlimmer als verlogene Politiker tischen sie uns Tag für Tag frische Lügen auf und steuern so unsere Meinungen.
Und alles, was wir Ypsiloner dagegen tun können, ist weiter zu leben mit diesen Medien und zu lernen, sensibler im Umgang mit ihnen zu werden. Oder eben stumpf zu bleiben.
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