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Musab, der mich heute herumführt, lächelt verlegen auf die Frage, ob Fotografieren in Ordnung sei. „They don’t mind”, flüstert er, während sein Blick sich im staubigen Müll, der die Straßen säumt, verliert. Er verlässt den Wagen, wechselt einige arabische Worte mit dem Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wendet sich wieder zu uns. „Okay, park the car. We have five minutes.”
Wir sind in Al Baq’a, einem Vorort Ammans, der Hauptstadt des Landes. Was auf der Karte wie ein gewöhnlicher Stadtteil der Millionenmetropole wirkt, ist in Wirklichkeit, so erklärt uns Musab, ein seit dem 6-Tage-Krieg von 1967 bestehendes Flüchtlingscamp für Palästinenser. Über 100.000 leben mittlerweile in Al Baq’a. Musab, der heute in Istanbul arbeitet und lebt, gehörte einmal zu ihnen. Um seinen Hals trägt er ein einfaches Halsband aus Leder, an dessen Ende ein Schlüssel hängt. Auf Arabisch nennt man es „Miftah“. Als tausende Palästinenser vor nun mehr als 50 Jahren ihre Heimat verlassen mussten, glaubten viele an eine baldige Rückkehr in ihre alten Häuser. Weil dies nicht zutraf, wurden die Schlüssel zu den Häusern sprichwörtlich vom Vater an den ältesten Sohn der Familie weitergegeben, da man hoffte, dass dieser – die nächste Generation – eines Tages zurückkehren könne. Der Schlüssel steht für den immer noch währenden Besitzanspruch der damals Vertriebenen. Für den Weg in die „Alte Heimat”, für einen Weg raus aus Al Baq’a.
Wenige Tage vor Al Baq’a und seiner Geschichte betrete ich schlaftrunken und mit zerzauster Frisur die Maschine, die mich nach Amman fliegen soll. Es ist kurz vor 04:00 Uhr morgens. Rom. Sanftes Licht fällt auf den purpurnen Stoff der Sitze. H2, mein Platz. An der Fensterscheibe läuft warmer, feiner Regen hinab, im Hintergrund deuten nur wenige Lichtquellen von der schlafenden italienischen Hauptstadt. Die Maschine hebt ab.
„Man, I loved Italy” tönt es von meiner Rechten. Ich blicke mich verwundert um und schaue in das Gesicht meines Nachbarn. Ein leichtes Schmunzeln, tiefe, glühende Augen. „You’re Italian, right? I saw your passport.” Ich bejahe verlegen, blicke erneut aus dem Fenster und mache damit deutlich, dass es noch zu früh für Small Talk mit Fremden ist. Doch der etwas beleibte Mann im weißen Ralph-Lauren-Polo und gegelten Haaren zeigt sich stur. „It’s a beautiful country you have, full of culture.” Ein erneutes, leicht genervtes „Yes“. Kurzes Schweigen. „I wonder what is bringing you to mine?” Ich begrabe die Hoffnung auf einige Stunden Schlaf, beiße an und beginne zu reden.
Es stellt sich schnell heraus, dass der Fremde perfektes Deutsch spricht und seit Jahren für ein bayerisches Unternehmen Deals in der Türkei und Ägypten abschließt. Studiert habe er in Kairo. „Diplomingenieur, sehr schwierig. Aber guter Lohn.” Nun habe er monatelang Italien und Österreich bereist. „Wir lieben Salzburg, wunderschön.”
„Wir?” frage ich etwas verwundert. In Reihe H sitzen nur er und ich. Dann lacht er kurz auf und deutet ohne sich umzudrehen mit dem ausgestreckten Daumen auf die Sitzreihe hinter uns, während ihm seine Omega vom Gelenk rutscht. „Jaja, ich und meine Frau.” Ich erhebe mich leicht und blicke nach hinten, wo eine schmale, dunkel verhüllte Gestalt stumm an ihrem Platz sitzt. Feine, hellblaue Verzierungen schmücken ihr Haupt, die Hände ruhen auf ihrer beigen Ledertasche. „Anyway, auch Wien wunderschön. So viel Geschichte und alte, prächtige Häuser.” Wir reden noch eine Weile und als die ersten Sonnenstrahlen auf dem Flügel unserer Maschine zu erkennen sind, versuche ich erneut die Augen zu schließen.
„Ein Gast meines Landes ist mein Gast.“
Kurz vor der Landung erwache ich aus dem Schlaf, der, mit Kopfhörern im Ohr und einem zum Kissen umfunktionierten Pullover, tiefer war als erwartet. Mit meinem Rucksack über den Schultern verabschiede ich mich, verlasse die Maschine und wandere durch die Gänge des Queen Alia Airport, benannt nach der bei einem Hubschrauberabsturz getöteten Königin Alya Baha’da ad-Din Tuqan, der dritten Frau des 1999 verstorbenen König Husseins. Dessen ältester Sohn Abdullah herrscht seither über das haschemitische Königreich von Jordanien.
Die Passkontrolle hinter mir lassend, halte ich mit erhobenem Arm Ausschau nach einem Taxi, das mich zu meinen Bekannten in die 35 Kilometer entfernte Innenstadt bringen soll. Plötzlich hallt es von einem der Ausgänge laut „Hey…hey, mein Freund.” Ich drehe mich um und erkenne, wie mein Sitznachbar von vorhin, eine Zigarette in der einen und die dazugehörige, hastig aufgerissene Stange in der anderen Hand, mir zuwinkt, während seine Frau einen silbernen Gepäcksträger hinter ihm herschiebt. Er nimmt einen weiteren tiefen Zug, würgt den Qualm aus und schreit: “Hey, Taxi ist viel zu teuer. Wir bringen dich, wohin du willst.” Etwas perplex und unentschlossen stehe ich in der heissen Morgensonne am Straßenrand. Dann schultere ich mein Gepäck erneut und gehe dem Paar entgegen. “Danke vielmals, aber das ist wirklich nicht nötig.” Der Mann klopft mir freundlich auf die Schulter und versichert mir, dass ein Gast seines Landes gleichzeitig sein Gast sei. Dabei legt er die offene Handfläche sanft auf seine Brust.
Als wir etwa eine halbe Stunde später an meinem Zielort eintreffen, öffnet mir der Mann, nach dessen Namen ich aus Verlegenheit und Erschöpfung noch gar nicht gefragt habe, die Tür seines Mercedes. Seine Frau bleibt regungslos auf dem Beifahrersitz. „Siehst du? Kein Problem.” Ich bedanke mich mehrmals. Als ich mich nach dem Namen erkundige, stellt sich der Mann lachend als Mahmoud vor. Wieder legt er dabei die Hand auf sein Herz. Wir verabschieden uns und Mahmoud steigt zurück in seinen Wagen. Den Unterarm auf dem Fensterrahmen lehnend, dreht er sich noch einmal um, bevor er losfährt. „Willkommen in Jordanien, mein Freund.”
Das Haschemitische Königreich Jordanien grenzt an Israel, Syrien, den Irak, Saudi-Arabien und die Palästinensischen Autonomie-Gebiete. Außerdem besitzt es im Süden eine Seegrenze zu Ägypten. Der Verfassung nach ist Jordanien eine konstitutionelle Monarchie, deren Oberhaupt den Staat und die Armee führt. Außerdem ernennt der 57jährige König Abdullah II. bin al-Hussein sowohl den Ministerrat als auch den Ministerpräsidenten. Selbst auf das gewählte Parlament hat der Monarch, gestärkt durch ein umfassendes Veto- und Vorschlagsrecht, enormen Einfluss.
Ein Grund für den anhaltenden Frieden und die vermeintliche politische Stabilität im Königreich ist unter anderem die pro-westliche Haltung der Führungsriegen im Staat. Vor allem durch intensiven und staatlich geförderten Handel mit den Vereinigten Staaten konnte sich Jordanien, dessen offizielle Staatreligion der Islam ist, wirtschaftlich weiterentwickeln. Kritiker und Gegner des Regimes fürchten die Abhängigkeit von den USA, die mehr als jeder andere Staat für die Krisen, Krieg und Blut in der Region verantwortlich gemacht werden. Sie fürchten, dass sich die Gunst von Uncle Sam schnell in Aggression wandeln könnte, sollte dem amerikanischen Präsidenten danach sein; und aus Freunden würden plötzlich Feinde. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Nahen Osten.
Befürworter der Beziehungen mit dem Westen meinen, dass nur eine starke Wirtschaft ein starkes Jordanien formen kann. Sie riskieren die Gratwanderung und spielen nach den Spielregeln der Weltmächte. Seither, so scheint es, mit Erfolg.
Mehrere Tage sind seit meiner Ankunft in Amman und meiner Begegnung mit Mahmoud und der Namenlosen in seinem Schatten vergangen. Tage des Fragens und Nachhakens. Einsichtiges Nicken. Manchmal Staunen. Und immer wieder Kopfschütteln. Kopfschütteln vor allem jetzt, vor allem hier in Al Baq’a. Musab führt mich, ich folge schweigend.
Heimat kann oft grausamer sein als die Trennung von ihr.
Nach wenigen Schritten erreichen wir den Markt, das Herzstück des Camps. Faules Obst liegt auf dem weissen, kalkigen Boden der Gassen und gärt in der Sonne. Hühner und Tauben in Käfigen, rohes Fleisch auf Holztischen. Ein schreiender Gestank erfüllt die Luft. Schweiß rinnt von meinem Handgelenk bei dem Versuch, eine weitere Schmeißfliege zu vertreiben. Ich habe das Gefühl, ich atme grellen, glühenden Schotter.
Ich fühle mich unwohl in meiner perversen Position als Beobachter, als Zuschauer der hier Lebenden, die in eine Rolle gedrängt wurden, die, neben Wut und Trotz, kaum Spielraum zulässt. Als Verlierer der Geschichte geboren. Und doch ist die den Markt beherrschende Stimmung eine andere. Wir werden begrüßt, belächelt, freundlich empfangen, ein Imbissbesitzer pocht darauf, dass wir keinen Cent für das Mittagessen bezahlen und die Kinder, die durch die Gassen rennen, bitten um Fotos und staunen laut auflachend und mit den Fingern deutend, sobald sie ihr Bild im kleinen Monitor unserer Kameras wiedererkennen. Wo ich soviel Zorn vermute und so viel Leid spüre, überwiegt das Lachen.
Interessierte Gesprächspartner, feste, ehrliche Handschläge. Diese Diskrepanz zwischen der Situation selbst und dem Sein der sich darin Befindenden gibt mir Rätsel auf. Musab klopft mir von hinten sanft auf die Schulter. „I think it is time to leave“ spricht er mit leicht zitternder Stimme. Das Parken von Mietwagen sei hier nicht so sicher. Und obwohl ich noch gerne länger geblieben wäre, nicke ich und verstehe sofort, dass dies nicht der eigentliche Grund ist, sondern dass Musab das Ganze schlichtweg sehr nahegeht. Sein Großvater lebte und starb in diesem Camp. Seine Eltern wurden hier geboren. Heimat kann oft grausamer sein als die Trennung von ihr.
Obwohl Jordanien nicht zu den Unterzeichnern der Genfer Flüchtlingskonvention zählt, prägt die Aufnahme von Vertriebenen und Fliehenden seine Geschichte und das Bild des heutigen Staates. 30 Prozent der Bevölkerung stellen Flüchtlinge und deren Nachfahren, vorwiegend Palästinenser und Syrer. In Amman sind es über 50 Prozent. Al-Baq’a war eines von sechs „Notcamps“, die mehr schlecht als recht für die Flüchtlinge aus dem Gazastreifen und der West Bank errichtet wurden. Seit 1967 wächst das Camp und die Anzahl seiner Bewohner Jahr für Jahr. Flüchtlinge haben in Jordanien begrenzte Rechte. Je nach Camp dürfen sie einer regulierten Arbeit nachgehen, Verträge abschließen, ihre Wohnungen renovieren. Ein enormes Problem ist und bleibt die Krankenversicherung. Nationale Kassen weigern sich oft weiterhin, Personen mit Flüchtlingsstatus zu versichern. Der jordanische Staat sieht hier noch keinen Grund zum Handeln.
Wir sitzen im Auto und fahren zurück in Richtung Stadtkern. Hinter uns kann man noch leicht die Umrisse des Flüchtlingslagers erkennen. Schwarzer, giftiger Rauch steigt auf und auf meine Frage, ob alle Camps so aussehen wie Al Baq’a, antwortet Musab kurz und klar: „Nein, hier leben Menschen. In den meisten anderen Camps behandelt man sie wie Tiere.“ Dann kneift er die Augen zusammen und blickt noch einmal zurück. Es sei, so Musab, die Hölle dort. „Hell itself.“
Keine 20 Minuten mit dem Auto von Al Baq’a entfernt, unweit von der imposanten Moschee König Abdullahs, beherrschen neue, moderne Wolkenkratzer das Stadtbild. 2006 wurde die City Mall Amman eingeweiht, eine vierstöckige Monstrosität mit über 160 Läden. Strahlbilder westlicher, europäischer Unternehmen zieren die weißen, glänzenden Hallen der Mall. Die teuren Luxusboutiquen und Restaurants kann sich – neben den Touristen aus Europa und den Golfstaaten – nur die reiche Oberschicht der Stadt leisten. Für die Normalverdiener des Landes, deren Durchschnittseinkommen im Jahr 2016 bei umgerechnet etwa 400 Euro im Monat lag, ist allein der Anblick des Kolosses pure Opulenz. Meine einheimischen Begleiter belächeln die Preise der Taschen und Schuhe in den Schaufenstern, während wir durch die auf Hochglanz polierten Gänge schlürfen, die von unzähligen Sicherheitsbeamten bewacht werden. Kopfschütteln und Unverständnis für den Wahnsinn in den Läden. Gucci, Prada, Louis Vitton. Ich stimme zu, nehme einen leisen Schluck von meiner McDonald’s Cola und gehe weiter. Wieder fühle ich mich unwohl.
Dieser Sprung von einem Extrem in das Andere begleitet mich, seitdem ich im Land bin. Und nirgendwo ist er so konzentriert und allgegenwärtig wie in der Hauptstadt Amman. Selbst Musab, der hier geboren wurde und dann fortzog, der bitterste Armut zuhause und Wohlstand in der Ferne erlebte, bleibt immer wieder fragend und vergleichend zurück. Ein Staat sucht seinen Platz in der Weltgeschichte, sein Volk sucht seinen Platz im Staat.
Brüche im Zement der Tradition
Seit Jahrzehnten gilt Jordanien als eines der stabilsten Länder des Nahen Osten. Die Arbeitslosigkeit ist geringer als in den Nachbarländern, die Sicherheit ist hoch. Ein Zeichen hierfür ist das Vertrauen welches große, ausländische Marken in den Staat haben. Investitionen werden getätigt, Geschäfte eröffnet. Dem Land geht es besser, es geht ihm weniger schlecht als seinen Nachbarn, die, so scheint es, von einer Krise in die nächste schlittern.
Von Krisen will Karam nicht reden. Er ist 23 Jahre jung und gehört, wie er selbst sagt, zu der „neuen Generation“ Araber. „Wir denken anders, wir sind offener.“ Karam ist Ammaner durch und durch. Er kennt die Nachtlokale hier, die guten, dunklen Bars, die Orte, wo man noch frühmorgens, im Rausch der Stadt, warmes Essen serviert bekommt. „Viele Leute hier,“ erklärt er „sind immer noch zu stark mit der Vergangenheit beschäftigt. Das interessiert mich nicht. Ich bin mein eigener Herr.“ Vor einem Jahr hat Karam deshalb zusammen mit einem Freund eine Schwimmschule eröffnet. Er selbst galt einmal als eines der größten Schwimmtalente des Landes, qualifizierte sich für Weltmeisterschaften, gewann dutzende Preise.
„Das Geschäft läuft ausgezeichnet. Ausserdem kann ich viel mit Kindern arbeiten, das macht unglaublich Spaß.“ Nur mehr wenige Eltern hätten Probleme damit, dass ihre Kinder, vor allem Töchter, in den Schwimmunterricht gehen. „Denen sage ich es klipp und klar: Sie können gern zu mir kommen, wo Jungs und Mädchen gemeinsam trainieren. Oder sie gehen zu jemand anderem. Bei dem es mehr kostet und man immer noch schwimmt wie vor 20 Jahren.“ Dann lächelt er und zuckt mit den Schultern. Wie Karam, das merke ich schnell, denken viele junge Jordanier. Immer wieder erkenne ich leichte, feine Brüche im Zement des Altbewährten, des vermeintlich Unumstößlichen. Immer wieder weichen religiöse Dogmen neuen Ideen.
„Kein Gott kann wollen, dass du unglücklich bist. Kein Gott sollte dich zum Weinen bringen.“
Eine der ersten, die mit diesen Dogmen auf Konflikt ging, so erzählt mir Karam, war Samiha, seine Mutter. Es ist ein unglaublich schwüler, drückender Samstagvormittag, an dem uns Karam mit zu sich nach Hause nimmt. Im Wohnzimmer sitzt Samiha rauchend und begrüßt uns mit einem breiten, ehrlichen Lächeln und einer Umarmung. Ganz ohne Worte und doch so überaus freundlich heißt sie uns in ihrem Zuhause willkommen. Ich fühle mich wohl. „Mutter spricht leider kein Englisch. Ich dolmetsche“, witzelt Karam. Dann erzählt er die Geschichte einer jungen Frau, die eines Tages, vor über 20 Jahren, auf die wahnwitzige Idee kam, in einem islamischen Staat wie Jordanien mit Minirock und bauchfreiem Shirt durch die Straßen zu schlendern. Ein Skandal, der nicht nur die Familie und die Freunde Samihas auf eine harte Probe stellte. „Mein Vater“, so Karam „hat sich wahrscheinlich deshalb in Mama verliebt. Entweder wegen ihrer Courage. Oder wegen ihres Outfits.“ Ich muss schmunzeln, während Karam das Gesagte seiner Mutter ins Arabische übersetzt. Dann blickt sie zu mir, nickt zustimmend und unser aller Lachen erfüllt den Raum. Samiha spricht weiter und erzählt, dass sie sich nie mit der strikten Auslegung der Religion zurechtfinden konnte. „Kein Gott kann wollen, dass es dir schlecht geht, du unglücklich bist. Kein Gott sollte dich zum Weinen bringen.“ Deshalb habe sie ihre vier Kinder atheistisch großgezogen. Sie sollen selbst entscheiden, an was und an wen sie glauben. Oder ob überhaupt. Ich spüre, wie stolz Karam auf die Worte seiner Mutter ist. „Auch deshalb“ erzählt er, „gehe ich so offen auf Menschen zu. Egal, welcher Religion. Was zählt, ist der Respekt und die Ehrlichkeit. Ich brauche keinen Gott, der mir das sagt, dafür reichen meine Eltern.“
An einem meiner letzten Abende sitzen wir bei klarer Nacht in einer Bar, die einen grandiosen Ausblick über die Stadt bietet. Amman, das kann man von hier oben gut erkennen, wurde auf wenigen Hügeln erbaut, sieben sollen es laut antiken Schriften sein. „Wie Rom, nicht wahr?“ lächeln meine Gesprächspartner. Heute erstreckt sich die Metropole über insgesamt 19 Anhöhen und ein Gebiet, das größer als London ist. Laut offiziellen Zahlen mit rund fünf Millionen Einwohnern. Wir setzen uns und genießen den lauen Wind, der über die Dachterrasse zieht. Ich habe Lust auf ein kühles Bier und hoffe inständig, dass hier Alkohol serviert wird. „You never know”, prophezeit Marianne. Sie ist Französin und studiert hier sechs Monate lang Arabisch. Ein schneller Blick auf die Getränkeliste und ich bin beruhigt. Man serviert hier nicht nur Bier, sondern auch ausgefallene Cocktails für umgerechnet etwa 20 Euro. Die Kellner, in weißem Hemd oder Bluse, sprechen perfektes Englisch. Mit den Getränken bringt man uns Datteln, Nüsse und eingelegte Oliven. Von den anderen Tischen tönen immer wieder mir bekannte Sprachen. Ich wage zu glauben, dass irgendwo jemand Bayerisch schwatzt. Mit den Touristen und Expats, erklärt man mir, verdiene der Durchschnittsjordanier gutes Geld und könne sein Leben verbessern. Expats steht für „ex patriae“, „heimatsfern“. Viele meiner europäischen Bekannten hier sind Expats. Was ist mit Musab, dem ehemaligen Campbewohner? Wo ist seine Heimat, sein Zuhause?
Man unterhält sich und lacht. Ich erkundige mich nach der Arbeitssituation im Land. Wie geht es jungen Jordaniern. Jungen Frauen vor allem. Dabei denke ich an Samiha, wie sie selbstsicher auf einem vergilbten Lederstuhl in ihrem Wohnzimmer sitzt und genüsslich Zigarette raucht. Ich denke an Mahmoud, sein europäisches Leben und seine schweigende Frau.
Kurz nach Mitternacht und einigen Cocktails, die vor allem der zierlichen Marianne zu Kopf zu steigen scheinen, gesellt sich Musab zu uns. Er winkt freundlich einen Kellner her und bestellt einen doppelten Whiskey ohne Eis. Dann blickt er einen Augenblick lang gedankenlos in die Ferne über die Lichter der Hauptstadt, streicht sein langes, braunes Haar zurück und schmunzelt leicht. Er hebt das volle Glas. „Cheers to us.“ Ob es sich gerade wie Heimat anfühlt, frage ich. Er schüttelt den Kopf. Dann schluckt er und spricht leise. „Im Moment nicht. Das ist eher wie Urlaub. Al-Baq’a, da vorne,“ zeigt er „das ist mein Zuhause.“
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