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Veröffentlicht
am 21.05.2022
LebenFreiheit und ...

Freiheit – ein gefährdetes Gut

Veröffentlicht
am 21.05.2022
Der Angriffskrieg in der Ukraine stellt nicht nur die nach dem 2. Weltkrieg aufgebaute Friedensordnung in Europa, sondern auch jahrzehntelange friedensethische Überlegungen und Projekte radikal in Frage, so Martin M. Lintner.
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Der 24. Februar 2022, als Russland einen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine begann, markiert in der europäischen Nachkriegsgeschichte einen gravierenden Einschnitt. Unabhängig davon, ob die Rede von einer „Zeitenwende“ angemessen ist oder nicht (dies wird sich erst in Zukunft rückblickend zeigen), geht in Europa – ausgenommen die Balkankriege in den postjugoslawischen Ländern in den 1990er Jahren – eine Friedensepoche zu Ende, die dadurch geprägt war, dass gewaltsame Konflikte auf diplomatischem Weg gelöst, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie wechselseitige Abhängigkeiten weitgehend verhindert worden sind oder dass Konflikttreibende rechtzeitig durch Wirtschaftssanktionen zur Raison gebracht werden konnten. Die verlässliche Anerkennung der territorialen Integrität eines Staates, ein zentrales Konzept des Völkerrechtes, war dabei eine Grundlage für die europäische Friedensordnung nach dem 2. Weltkrieg.

Die Anerkennung der territorialen Integrität war übrigens ein wesentlicher Bestandteil des sogenannten Budapester Memorandums von 1994, welches im Rahmen der OSCE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, unterzeichnet worden ist. Damals verpflichteten sich Russland, die USA und Großbritannien gegenüber den postsowjetischen Staaten Kasachstan, Belarus und der Ukraine, ihre Unabhängigkeit und ihre territorialen Grenzen anzuerkennen. Im Gegenzug verpflichteten sich diese drei Staaten zum Verzicht auf nukleare Waffen. Infolge dieses Abkommens lieferte die Ukraine bis 1996 sein ansehnliches Arsenal an Atomwaffen aus Sowjetzeiten an Moskau ab.

Die Annexion der Krim im Jahre 2014 war ein klarer und einseitiger Bruch nicht nur des Budapester Memorandums, sondern auch der völkerrechtlich verbindlichen Unverletzlichkeit der Grenzen eines souveränen Staates.

Die Annexion der Krim im Jahre 2014 war ein klarer und einseitiger Bruch nicht nur des Budapester Memorandums, sondern auch der völkerrechtlich verbindlichen Unverletzlichkeit der Grenzen eines souveränen Staates. Zu keiner Zeit ist die Ukraine übrigens die Bedingung von Neutralität eingegangen, ebenso wenig wurde seitens der NATO gegenüber Russland ein rechtlich verbindliches Versprechen abgegeben, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten, wie in Debatten oft fälschlicherweise kolportiert wird. Dass in den vielen Gesprächen nach dem Fall der Berliner Mauer auch darüber als ein mögliches Element einer künftigen Rahmenbedingung in der Beziehung zwischen Russland und den europäischen Ländern gesprochen worden ist, ist zutreffend, aber dass es rechtlich verbindliche Abmachungen gab, ist falsch.

Krieg als ethische Herausforderung
Der Krieg in der Ukraine ist in vielerlei Hinsicht eine ethische Herausforderung. Wir sind Zeugen eines brutalen Angriffskriegs, der nicht nur die nach dem 2. Weltkrieg aufgebaute Friedensordnung in Europa, sondern auch jahrzehntelange friedensethische Überlegungen und Projekte radikal in Frage stellt.

Spätestens seit den beiden großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dem 1. und 2. Weltkrieg, ist die Verurteilung des Krieges als ein Übel zu einem breiten Konsens geworden. Während der gesamten abendländischen Geschichte vertrat man weitgehend unwidersprochen die Theorie vom „gerechten Krieg“, d. h., dass man Krieg sowohl aus rechtlicher als auch aus ethischer Perspektive als legitim ansah, wenn folgende Bedingungen erfüllt werden: (1) er muss Reaktion sein auf ein erlittenes Unrecht; (2) gewaltfreie Verhandlungen müssen gescheitert sein; (3) eine legitime Autorität muss den Krieg veranlassen und das Ziel muss die Wiederherstellung von Gerechtigkeit sein bzw. die Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts. (4) Zudem dürfen nur verhältnismäßige Mittel eingesetzt werden, die nicht auf die Vernichtung des Gegners zielen. (5) Zwischen Soldaten und Zivilisten muss unterschieden und die Zivilbevölkerung muss geschützt werden. Es wurde also nicht nur über die Frage nachgedacht, wer unter welchen Bedingungen berechtigt ist, Krieg zu führen, sondern auch darüber, welches Recht auch im Krieg von den kriegsführenden Parteien einzuhalten sei.

„Eine größere Ehre ist es, den Krieg mit dem Wort zu töten und den Frieden mit dem Frieden und nicht mit dem Krieg zu erreichen und zu erlangen, als ihn den Menschen mit dem Schwert zu geben.“ (Augustinus)

Diese Kriterien, die sich im Wesentlichen bereits bei Cicero finden, wurden nach der konstantinischen Wende, als auch die meisten Soldaten innerhalb weniger Jahrzehnte Christen wurden, zu Beginn des 5. Jahrhunderts von Augustinus und damit von der westlichen Kirche übernommen und im Lauf der Jahrhunderte vertieft. Heute gehen manche Historiker davon aus, dass Augustinus durch die Übernahme der im Grunde genommen sehr strengen Kriterien, die sich bereits bei den antiken Autoren finden, die Kriegsführung eigentlich einschränken wollte. Bei einer engen Auslegung, dass alle Kriterien gleichermaßen erfüllt sein müssen, hätten selbst die in der Spätantike geführten Kriege kaum gerechtfertigt werden können. Von Augustinus wird das Wort überliefert: „Eine größere Ehre ist es, den Krieg mit dem Wort zu töten und den Frieden mit dem Frieden und nicht mit dem Krieg zu erreichen und zu erlangen, als ihn den Menschen mit dem Schwert zu geben.“[1] Thomas von Aquin fügte im 13. Jahrhundert unter dem Eindruck der möglichen Gefährdung durch den Islam und der gescheiterten Kreuzzüge hinzu, die Verteidigung des Glaubens und von Heiligen Stätten sei ebenso ein möglicher Grund, der einen Krieg rechtfertigen würde.

Martin M. Lintner hat den Lehrstuhl für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen inne.

Ein Trauma für die abendländischen Christen und Christinnen waren die Konfessionskriege im Gefolge der Reformation, als Christen gegen Christen kämpften und sich dabei wieder verhängnisvoll in politische Interessen verstricken und sich von ihnen missbrauchen ließen. Auch wenn im 16. Jahrhundert katholische Theologen wie Francisco de Vitoria, Francisco Suárez oder Bartolomé de Las Casas, Vertreter der sogenannten spanischen Spätscholastik, bereits die Lehre von der gleichen Würde aller Menschen sowie der gleichen Rechte aller Völker entfalteten und damit ein Fundament für das spätere Völkerrecht legten, gingen die wichtigsten friedensethischen Impulse in der Neuzeit von der Aufklärung aus. Immanuel Kant beispielsweise betonte, dass es wichtiger sei, mögliche Kriegsursachen zu erkennen und zu beseitigen, als den Krieg zu legitimieren.

Damit lenkte er die Aufmerksamkeit darauf, wie Krieg vermieden werden kann, indem Frieden gesichert und möglichen gewaltsamen Konflikten vorgebeugt wird. Dennoch wurde Krieg weiterhin als legitimes Mittel der Politik angesehen, auch wenn die Bedingungen weiter differenziert worden sind: beispielsweise, dass ein Krieg nicht größeres Unrecht schaffen darf, als er zu überwinden versucht, oder dass eine realistische Erfolgsaussicht gegeben sein muss, den Krieg zu gewinnen, Unrecht zu überwinden und Gerechtigkeit wieder herzustellen.

Doch der Paradigmenwechsel, dass Krieg nie als gerecht bezeichnet werden kann, sondern allein der Friede gerecht ist, vollzog sich erst im Zug der Bewältigung der traumatischen Erfahrungen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert mit -zig Millionen Toten und unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, besonders während des 2. Weltkriegs.

„Nie wieder Krieg“ oder „Sicherheit durch Waffen“?
„Nie wieder Krieg“ – lautete fortan die friedenspolitische, beständig wiederholte Devise. Krieg dürfe kein legitimes Mittel der Politik sein. Trotzdem folgten Jahrzehnte des militärischen Auf- und Wettrüstens als Strategie der Einschüchterung und des Kräfteausgleichs mit dem Ziel der Friedenssicherung. „Sicherheit durch Waffen“, lautete die konkrete sicherheitspolitische Devise. Es würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, die Geschichte und die Ansätze der Friedensbewegungen und der Sicherheitspolitik im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen.

Als gemeinsame Aspekte der Friedensbewegungen können folgende benannt werden: Ächtung des Krieges, Ächtung von Massenvernichtungswaffen und Ächtung des Waffenhandels, weiters Forschungen und konkrete Projekte zur gewaltfreien Konfliktbewältigung und zum zivilen Widerstand, zur Friedenssicherung durch Gerechtigkeit, durch wirtschaftliche Kooperation und soziale Entwicklung.

Darf der Ukraine, einem souveränen und unabhängigen Staat, das Recht aberkannt werden, sich gegen den Aggressor zu verteidigen?

In seinem Lehrschreiben „Fratelli tutti“ vom 3. Oktober 2020 fasste Papst Franziskus einige wesentliche Aspekte der friedenspolitischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte zusammen, wobei er im Blick hat, dass entgegen der genannten Devisen gerade in den vergangenen Jahrzehnten und auch gegenwärtig weltweit unzählige, teils äußerst brutale Kriege und gewaltsame Konflikte geführt wurden und werden, sodass er sich veranlasst sah, von einem „Weltkrieg in Abschnitten“ zu sprechen.[2] Ebenso bedachte Franziskus den Umstand, dass der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, im Besondern von Nuklearwaffen, Folgen ungeahnten Ausmaßes haben würden, sodass er festhielt:

„Deshalb können wir den Krieg nicht mehr als Lösung betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm zugeschrieben wurde, überwiegen. Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell ‚gerechten Krieg‘ zu sprechen.“[3]

Und er warnte davor, dass lokale Kriege „eine Kettenreaktion von oft versteckt verlaufenden Gewaltfaktoren auslös[en], die schließlich […] den Weg für zukünftige neue und schlimmere Kriege bereitet“[4].

Papst Franziskus geht so weit, dass er jeglichem Krieg die Legitimität abspricht und nicht nur die Lehre des „gerechten Krieges“ zurückweist, sondern auch in Frage stellt, dass es Situationen geben kann, in denen Krieg überhaupt gerechtfertigt werden kann.

Recht auf Selbstverteidigung
Genau diese Frage stellt sich aber in aller Dringlichkeit angesichts des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine: Darf der Ukraine, einem souveränen und unabhängigen Staat, das Recht aberkannt werden, sich gegen den Aggressor zu verteidigen? So wie auf der individuellen Ebene das Recht auf Notwehr gilt und damit auf Anwendung von Gewalt in einem Ausmaß, die nötig ist, um das eigene Leben zu retten, müsste auch der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zuerkannt werden. Es müsse der ethisch relevante Unterschied zwischen offensiver und defensiver Gewaltanwendung berücksichtigt werden.

Der Innsbrucker Sozialethiker und Präsident von Pax Christi Österreich, Wolfgang Palaver, zitiert Mahatma Gandhi, den wohl „bekannteste[n] Verfechter und Zeuge[n] der Gewaltfreiheit: Auch als gewaltfreier Mensch müsse man unterscheiden können, wer im Recht und wer im Unrecht sei. Man könne nicht moralisch neutral sein.“[5] Dennoch gilt zu bedenken, dass „auch defensive Gewalt eine gefährliche Eigendynamik hat“[6]. So gibt es bereits jetzt deutliche Anzeichen dafür, dass es nicht nur zu Kriegsverbrechen durch russische Soldaten gekommen ist, sondern auch durch ukrainische Soldaten, etwa zu Hinrichtungen von russischen Soldaten, die sich bereits ergeben hatten und entwaffnet waren.

Dennoch gilt zu bedenken, dass „auch defensive Gewalt eine gefährliche Eigendynamik hat“.

Wenn das Recht auf Selbstverteidigung zuerkannt wird, stellen sich zudem weitere Fragen wie: Besteht gegenüber der Ukraine eine Unterstützungspflicht seitens dritter Staaten, konkret durch Lieferung von Waffen? Falls ja, lediglich von Verteidigungs- und Abwehrsystemen oder auch von Angriffs- und letalen Waffen? Und wie ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass letztlich jede Waffenlieferung den blutigen Konflikt verlängert und damit die Zahl der Opfer vergrößert? Besteht überhaupt die realistische Aussicht, dass der militärische Widerstand der Ukraine längerfristig Aussicht auf Erfolg hat?

Kritik an Waffenlieferungen wird besonders von pazifistischen Bewegungen geäußert, die hingegen auf die längerfristige Wirksamkeit von gewaltfreien Methoden der Konfliktlösung wie des gewaltfreien zivilen Widerstands verweisen. Besonders zu Beginn des Krieges zirkulierten in den sozialen Medien Videos von ukrainischen Bürgern und Bürgerinnen, die den russischen Soldaten entgegengetreten sind, sie am Weiterkommen gehindert haben und ihnen unmissverständlich deutlich gemacht haben, dass sie unerwünscht sind und das Land verlassen sollen.

Dieser Umstand, nicht als Befreier, sondern als Besatzer wahrgenommen zu werden, soll der Kampfbereitschaft vieler russischer Soldaten zugesetzt haben. Doch die willkürlichen Gräueltaten und Verbrechen beispielsweise in Butcha und vielen anderen Ortschaften, wo russische Soldaten Zivilisten gefoltert und ermordet haben, zeigen die Grenze bzw. den hohen Preis dieser Strategie auf. Lässt sich dieser hohe Blutzoll rechtfertigen oder sogar einfordern?

Auf individualethischer Ebene würde man differenzieren: Die Entscheidung zur radikalen Gewaltfreiheit und damit die Bereitschaft, lieber Gewalt bis hin zum gewaltsamen Tod in Kauf zu nehmen als selbst zu gewaltsamen Mitteln der Selbstverteidigung zu greifen, ist ein pazifistisches Ethos, das hohen Respekt verdient, das aber nicht normativ eingefordert werden kann. Zudem kann jemand diese Entscheidung treffen, wenn es ihn selbst betrifft, aber es wäre höchst problematisch, dieses pazifistische Ethos zum Vorwand zu nehmen, Dritten nicht beizustehen, wenn sie Opfer von Aggression werden. Nach Palaver würde dies einen „Pazifismus der Bequemlichkeit“ bedeuten: „Ich halte mich heraus und lasse andere den Preis zahlen.“[7]

Den Frieden sichern durch Rechtsstaatlichkeit und Wahrhaftigkeit
Eine besonders verhängnisvolle und negative Rolle spielt beim Krieg Russlands gegen die Ukraine die russisch-orthodoxe Kirche. Patriarch Kyrill hat den Krieg nicht nur vom ersten Tag an gutgeheißen, sondern ihn auch ideologisch legitimiert als Kampf gegen die westlichen liberalen Werte, für die er die Gay-Pride-Paraden als Sinnbild nimmt. Zudem vertritt er die aus historischer Perspektive irrige These der historischen Einheit der Völker der Rus, die es wiederherzustellen gälte.

Er teilt damit auch den Geschichtsrevisionismus Putins, der den Zerfall der Sowjetunion als größten historischen Fehler des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat, der zu revidieren sei. Der Münchner Sozialethiker Markus Vogt weist zu Recht darauf hin, dass „dauerhafter Friede Vergebung und Versöhnung auch mit der eigenen Geschichte braucht. Die historische Dimension heutiger Konflikte wird dadurch deutlich, dass geschichtsklitternde Narrative zur Konstruktion eines Kriegsgrundes herangezogen worden sind.“[8]

Der Münchner Sozialethiker Markus Vogt weist zu Recht darauf hin, dass „dauerhafter Friede Vergebung und Versöhnung auch mit der eigenen Geschichte braucht.”

Im Licht von ideologischen Positionen wird Geschichte verfälscht, es wird etwa geleugnet, dass es eine ukrainische Nation oder einen souveränen Staat der Ukraine gibt. Ebenso werden Begriffe umgedeutet. Z.B. wird mit der angeblichen Notwendigkeit der „Entnazifizierung der Ukraine“ einerseits der russische Nationalstolz über das Verdienst im Sieg über Hitlerdeutschland als Motivation für den Krieg missbraucht, andererseits wird „Nazi“ kurzerhand umdefiniert: als Nazis werden jene Ukrainer diskreditiert, die für die Souveränität der Ukraine als eigenen Staat und eigene Nation eintreten und die Annexion durch Russland ablehnen. Diese ideologischen Motive machen auch deutlich, dass Putin den Krieg mit Argumenten zu rechtfertigen versucht, die erstens faktisch nicht zutreffen – so die Behauptung von der angeblichen Naziregierung in Kiew – und zweitens lediglich einen vorgeschobenen Grund bieten – so etwa die Behauptung von der angeblichen Bedrohung Russlands durch die NATO-Osterweiterung und das verletzte nationale Sicherheitsinteresse Russlands.

Abgesehen davon, dass de facto von der Ukraine aus keine Gefahr für Russland ausging, würde dies keinen so brutalen Angriffskrieg rechtfertigen. Dieses Narrativ gehört mittlerweile zu den vielen Halb- und Unwahrheiten, die in den sozialen Medien verbreitet werden, um um Verständnis für den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu werben oder um letztlich die NATO und den Westen für den Krieg verantwortlich zu machen. Hier findet eine radikale Täter-Opfer-Umkehr statt. Ich halte es für höchst problematisch, dass selbst Papst Franziskus dieses Narrativ bedient, wenn er gemeint hat, „das Bellen der NATO an Russlands Tür“ habe Putin bewogen, den Konflikt auszulösen.[9]

Freiheit – ein gefährdetes Gut
Der Krieg in der Ukraine stellt uns nicht nur vor neue ethische Herausforderungen, sondern ist auch eine eindringliche Mahnung: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht einfachhin als selbstverständliche Gegebenheiten hinzunehmen, sondern dafür achtsam zu sein, dass es gefährdete Güter sind, die es proaktiv zu erhalten und zu verteidigen gilt. Die ukrainische Bevölkerung bezeugt, dass die Freiheit ein derart hohes Gut ist, dass sie dafür bereit ist, im gewaltsamen Widerstand einen hohen Blutzoll zu zahlen. Nachdem der Krieg gegen die Ukraine vom russischen Präsidenten Putin und dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill als Kampf gegen die westlichen liberalen Werte stilisiert wird, halte ich die Deutung für gerechtfertigt, dass die Ukraine nicht nur für die Unabhängigkeit und territoriale Integrität ihres Staates kämpft, sondern für politische Rechtsstaatlichkeit und ein freiheitliches Gesellschaftsmodell.

Text: Martin Lintner

[1] Zitiert nach: Papst Franziskus: Fratelli tutti (03.10.2020), Nr. 258, Anm. 242.

[2] Vgl. Franziskus, Fratelli tutti, Nr. 25; 259.

[3] Ebd., Nr. 258.

[4] Ebd., Nr. 259.

[5] Interview mit Wolfgang Palaver: Gewaltfreiheit wirkt – hat aber ihren Preis (04.05.2022); online: https://neuestadt-online.de/de/index.php/2022/05/gewaltfreiheit-wirkt-hat-aber-ihren-preis/ (Zugriff: 07.05.2022).

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Markus Vogt: Christsein in einer fragilen Welt. Revisionen der Friedensethik angesichts des Ukrainekrieges (09.03.2022); online: https://www.kaththeol.uni-muenchen.de/aktuell_fakult/nachrichten/vogt_revisionen/vogt_fragile-welt.pdf (Zugriff: 10.05.2022).

[9] Vgl. Luciano Fontana: Intervista a Papa Francesco, in: Corriere della Sera vom 03.05.2022; online: https://www.corriere.it/cronache/22_maggio_03/intervista-papa-francesco-putin-694c35f0-ca57-11ec-829f-386f144a5eff.shtml (Zugriff: 07.05.2022).

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