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Die Sonne strahlt senkrecht über den duftenden Alpenwiesen, als Adib sein altes Leben hinter sich lässt. Am Horizont Gewitterwolken, eine Gruppe Wanderer beratschlagt sich am Wegesrand, ob sie ihre Tour verkürzen sollen. Zwei Radfahrer, die der Strecke Lienz-Innichen folgen, keuchen vorbei. „Wie weit noch bis zur Grenze?“ „Sind gleich drüber! Bella Italia, wir kommen.“
Adib hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde, die unsichtbare Linie, die auf der Landkarte zwei Länder trennt, zu überqueren. Ein Schritt, und alles, was er sich bisher aufgebaut hat, gehört auf einmal der Vergangenheit an: sechs Jahre in Wien, die Freunde und Bekannten, die mühsam erlernte Sprache. Keine Grenzkontrolle, kein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel, das der Situation die gebührende Dramatik verliehen hätte.
Das war an einem schwülen Junitag 2021. Zwei Monate zuvor war Adibs zweiter Asylantrag abgelehnt worden. Nach sechs hoffnungsvollen Jahren im Land drohte dem 34-jährigen Afghanen in Österreich nun die Abschiebung.
Zum damaligen Zeitpunkt galt Afghanistan für die österreichischen Behörden noch als sicheres Herkunftsland. 2020 gab es 2.875 positive Asylbescheide für Afghanen, ein Anteil von 41 Prozent. Dazu kamen 1.198 Personen, denen subsidiärer Schutz, also eine temporäre Aufnahme, zugesprochen wurde. Mehr als 3.000 Anträge wurden abgewiesen. Das fifty-fifty-Glücksspiel, zu dem der Asylantrag für Afghanen geworden war, setzte sich auch im letzten Jahr fort, zumindest bis zur Rückeroberung der Macht durch die Taliban im August. Seitdem herrscht für Afghanen Abschiebestopp, neue Asylanträge werden aufgrund der veränderten Sicherheitslage wieder überwiegend angenommen.
In den Wochen nach seiner Ablehnung zieht Adib erratisch durch Wien, taucht mal da, mal dort unter. Einen Monat lang schläft er keine Nacht mehr.
Als Ende April Adibs negativer Bescheid kam, ließ sich noch nichts davon voraussehen. Selbst die westlichen Mächte mit ihren professionellen Nachrichtendiensten waren vom rasanten Vormarsch der Extremisten überrascht worden. Umso mehr Adib. Für ihn stand nur fest: Er konnte jetzt jederzeit aufgegriffen werden, in Abschiebehaft kommen. „Ich hatte riesige Angst vor dem, was in Afghanistan mit mir passieren würde“, sagt Adib.
In den Wochen nach seiner Ablehnung zieht er erratisch durch Wien, taucht mal da, mal dort unter. Einen Monat lang schläft er keine Nacht mehr. Sein ehemaliger Deutschlehrer und Freund, der ihn am Tag der Flucht an die italienische Grenze begleitet, erinnert sich noch gut an seinen damaligen Geisteszustand: „Adib stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.“
Adib, ein untersetzter, stämmiger Typ, trägt markante Gesichtszüge und einen massiven Unterkiefer. Ein Gesicht, das gut in einen Action-Film passen würde. Oder in eine schlimme Schlagzeile. Erst wer Adib besser kennenlernt, merkt, dass hinter dem grobschlächtigen Aussehen ein etwas schüchterner junger Mann mit einer großen Sehnsucht nach Sicherheit steckt. Wenn Adib spricht, dann meist reflektiert, häufig auch über abstrakte Themen – die Existenz Gottes, die Ursache von Kriegen, die Motive der österreichischen Flüchtlingspolitik. Nur wenn es um konkrete Ereignisse geht, kommt er leicht durcheinander. Genaue Daten, Uhrzeiten, kausale Abfolgen. Also all das, was man in einem Asyl-Interview draufhaben muss, um die eigene Geschichte überzeugend zu erzählen – und was man nie gelernt hat, wenn man, so wie Adib, als Straßenkind in Kabul aufgewachsen ist, nie eine Schule besucht hat.
Geringe Bildung, Armutshintergrund – das zeichnete die meisten afghanischen Flüchtlinge aus, die 2015 und 2016 ins Land kamen. Yama S., Rechtsberater bei einer Wiener Kanzlei und Sozialbetreuer, kennt die afghanische Community in Österreich wie wenige andere und weiß: sie hat ein gravierendes Image-Problem. Im Rahmen einer Antisemitismusstudie von 2019, in der das Verhältnis der Österreicher zu ihren Minderheiten untersucht wurde, gaben 41 Prozent der Befragten an, es würde sie stören, Afghanen als Nachbarn zu haben, ein höherer Prozentsatz als bei jeder anderen Minderheit.
In Österreich leben heute zwischen 42.000 und 47.000 Afghanen, das sind rund 0,5 Prozent der Bevölkerung. Woher stammen die Ressentiments? Yama S. führt sie zum Teil auf Populismus, zum Teil aber auch auf das Verhalten einiger Afghanen zurück, die 2015 und 2016 kamen: „Man muss es offen sagen, viele haben hier Scheiße gebaut.“ Die Leidtragenden seien integrationswillige Afghanen wie Adib, deren Anträge in den letzten Jahren oft pauschal und mit zweifelhaften Begründungen abgelehnt worden seien.
Trotz der hohen Anzahl negativer Bescheide wurden die wenigsten tatsächlich abgeschoben. Zwischen 2017 und 2020 kehrten kaum mehr als 2.100 Afghanen in ihr Geburtsland zurück. Was stattdessen folgt, ist meist eine Odyssee durch andere EU-Staaten, ein Leben in der Schwebe zwischen Illegalität und Hoffnung auf ein schutzgebendes Papier.
Unmittelbar nach seinem zweiten negativen Bescheid hört Adib von einem Freund, dass mehrere Afghanen, die in Österreich oder Deutschland in seiner Situation waren, nach Südtirol geflohen sind. Italienisches System, aber deutsche Sprache, das ist der Vorteil dort. Im Gegensatz zur österreichischen Auffassung galt Afghanistan auch vor der Machtergreifung der Taliban hier nie als sicheres Herkunftsland. Im zweisprachigen Südtirol durften Afghanen deshalb auf subsidiären Schutz hoffen und waren auch bei der Sprache nicht komplett auf null zurückgeworfen. Der Entschluss ist bald gefasst. Anfang Juni überquert Adib die Grenze Lienz-Innichen nach Südtirol. Er glaubt an jenem Tag, Österreich nicht mehr wiederzusehen.
Auf die Frage, was ihm besonders an Europa gefalle, antwortet er: „Hier gibt es keinen Krieg.“
Ein Jahr zuvor bemerkt die Sozialarbeiterin Emira Kola, dass in Südtirol eine neue Kategorie von Migranten entstanden ist. Ein bis zwei Afghanen täglich sollen laut Kola in dieser Zeit den Brenner überquert haben, um in Italien jenen Schutz zu suchen, der ihnen nach mehreren Jahren in Deutschland oder Österreich verwehrt blieb. Kola, die selbst vor über 20 Jahren aus Albanien nach Italien gezogen ist, kritisiert damals das Vorgehen der Nachbarländer. Auch wenn Afghanistan laut deren Behörden als „sicher“ gelte, könne die individuelle Situation eines Flüchtlings dennoch lebensgefährlich sein. „Das wird aber nicht berücksichtigt.“
Die pauschale Einstufung von Drittländern als „sicher“ geht auf Kosten von Menschen wie Suleiman. Der 35-jährige Afghane gehört wie Adib der Volksgruppe der Hasara an, einer schiitischen Minderheit, die von den Taliban seit über 20 Jahren als unislamisch verfolgt wird. Seit September 2020 lebt Suleiman in Bozen, der Südtiroler Hauptstadt. Auch sein Asylantrag wurde in Österreich abgelehnt, nachdem er sich fünf Jahre zuerst in Klagenfurt, dann in Wien gut eingelebt hatte. Zum Zeitpunkt der Ablehnung war er Inhaber einer eigenen Bäckerei mit zwei Angestellten. Trotzdem drohte ihm die Rückführung an einen Ort, wo Dörfer, Plätze und Schulen regelmäßig von sunnitischen Extremisten bombardiert werden.
Bereits am Morgen nach dem negativen Bescheid hatte Suleiman Wien verlassen, und damit seinen Betrieb, seine Mutter und Schwester und seinen Deutschkurs, den er so gerne beendet hätte. Seine Mutter und die Schwester, sie hatten denselben Fluchtgrund, doch einen anderen Richter, der über ihr Schicksal entschied. Sie durften bleiben. „Ich konnte nicht nach Afghanistan zurückgehen. Mir gefällt es hier“, erklärt Suleiman seinen Aufbruch über Nacht. Auf die Frage, was ihm besonders an Europa gefalle, antwortet er: „Hier gibt es keinen Krieg.“
Suleiman kommt eher zufällig nach Südtirol, weil er nach seiner Flucht aus Österreich zuerst weder in Deutschland noch in Frankreich sein Glück findet. Umso überraschter ist er, als er bei seiner Einreise in Italien immer wieder Deutsch hört. Doch anders als die österreichischen Hobbyradfahrer, die sich auf ihrem Sattel jauchzend auf „Bella Italia“ freuen, erwartet Suleiman hinter der Grenze nicht die Südtiroler Gastfreundschaft, die auf Werbeplakaten angepriesen wird. Stattdessen landet er auf der Straße.
Die geringe Anzahl an Schlafplätzen in Aufnahmezentren und damit verbundene lange Wartezeiten für Schutzsuchende sind eines der größten Probleme für Flüchtlinge in Südtirol. Vier Monate lang lebt Suleiman im Zelt unter der Brücke. „Ich hörte zwei auf der Straße meine Muttersprache Farsi sprechen, daher bat ich sie um Hilfe“, erinnert er sich an seinen ersten Tag in Bozen. „Sie sagten: Du siehst wie ein guter Mensch aus, dich lassen wir in unser Zeltlager.“ Suleimans warmer Blick und sanfte Stimme wirken tatsächlich auf Anhieb vertrauenswürdig.
Seit einem Jahr lebt Suleiman in einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge am Rande von Bozen. Es ist für Suleiman ein langweiliges Leben, ohne Sinn. Denn arbeiten darf er noch nicht. Mit diesem Problem ist er nicht allein. Seit eineinhalb Jahren wartet Suleiman schon auf einen Termin, um Asyl beantragen zu können. Im Schnitt dauert es mehr als ein Jahr.
Bis heute plagt ihn die Frage nach dem Grund für den negativen Bescheid. Immer wieder sucht er die Schuld bei sich selbst: Passt er so, wie er ist, einfach nicht zu Europa?
Auch Adib gibt Bozen nicht das Gefühl, dass hier jeder seinen Platz finden kann. Nur wegen seiner anhaltenden Schlaflosigkeit, deretwegen ein Arzt ihm eine Depression attestiert, hat er Anspruch auf einen Schlafplatz, der von 22 Uhr bis acht Uhr offensteht. Im Flüchtlingsheim gehen viele Drogen um, immer wieder gibt es Konflikte: „Wer nicht auf seine Sachen aufpasst, sieht sie nicht wieder.“ Adib versucht dennoch, sich in der neuen Stadt einzuleben. Zwei bis drei Stunden am Tag treibt er Sport, trainiert in einem öffentlichen Park an den Geräten. Einmal kauft er ein Rad für 40 Euro – in seiner Lage eine beträchtliche Investition. Am nächsten Tag kommt ein anderer Flüchtling auf ihn zu, schreit ihn an, zückt schließlich ein Messer. Der Mann behauptet, es sei sein Fahrrad, Adib habe es gestohlen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als es an den Besitzer zurückzugeben. Offenbar hatte er ein gestohlenes Fahrrad gekauft.
Am schlimmsten setzt ihm aber die Angst vor einer Rückführung nach Österreich zu: Die italienischen Behörden haben seine Fingerabdrücke, wissen, dass er zuerst in Österreich war. Nach der Dublin-Regelung könnten sie ihn jederzeit zurückschicken, auch wenn das in der Praxis so gut wie nie geschieht. Nachdem Adib mehrmals durch Bekannte zu Ohren kommt, dass in Frankreich keine Fingerabdrücke kontrolliert werden, kauft er sich ein Ticket nach Paris.
Der große Talferpark im Herzen der Bozner Altstadt ist Suleimans Lieblingsort. Er fühlt sich wohl in der Natur, beim Gehen. Oft spaziert er von hier bis nach Schloss Runkelstein, das auf einem Felsvorsprung die Stadt überragt. Jetzt wagt er im Gespräch auch erstmals zu träumen: Eines Tages, ja, da könnte er seine eigene Bäckerei aufmachen, wie damals, in Wien.
Bereits in Afghanistan hat Suleiman als Bäcker gearbeitet, aber erst in Wien erlebt er, was es heißt, sein eigener „Chef“ zu sein. Mit der finanziellen Hilfe seines Schwagers eröffnet er seinen kleinen Backbetrieb, bietet selbstgebackenes orientalisches Brot an und baut sich eine Kundschaft aus aller Welt auf. „Ich hatte arabische und türkische Kunden, auch viele aus dem Balkan und anderen europäischen Ländern“, erinnert sich Suleiman. Gearbeitet habe er viel, von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Aber er war zufrieden.
Umso verständnisloser erinnert sich Suleiman an den Tag seiner Ablehnung, als er die Schlüssel der Bäckerei seinem Schwager übergibt und ihm sagt: „Mach damit, was du kannst.“ Bis heute plagt Suleiman die Frage nach dem Grund für den negativen Bescheid. Immer wieder sucht er die Schuld bei sich selbst: Passt er so, wie er ist, einfach nicht zu Europa? Aber auch das reicht nicht als Erklärung, obwohl sie sich immer wieder in seinen inneren Monolog schleicht: „Ich habe doch immer versucht, fleißig zu sein. Der Stadt etwas Neues zu bringen.“
Der Tag, als der negative Bescheid kam, war für Suleiman ein schlimmer Schock. „Ich habe alles verloren: meinen Job, meine Familie.“ Traurig erinnert sich Suleiman daran, was er seiner Mutter sagte, als er Wien verließ: „Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird.“ Er weiß es bis heute nicht.
Seit Suleimans und Adibs Flucht aus Österreich hat sich die weltpolitischen Lage neu sortiert. Im August 2021 haben die Taliban in Afghanistan die Macht endgültig zurückerobert, über dem ausgehungerten Land weht seitdem wieder die Flagge mit dem Glaubensbekenntnis der Extremisten. Für die Geflüchteten in Europa wirkt sich die bedrohliche Lage im Heimatland zumindest in einem Punkt positiv aus: In den EU-Staaten herrscht bis heute Abschiebestopp nach Afghanistan, ein vorläufiges Aufatmen für jene mit abgelehntem Asylantrag.
Seitdem beobachtet Sozialberater Yama S. einen neuen Trend: Afghanische Flüchtlinge kommen seit Oktober 2021 vermehrt freiwillig aus anderen EU-Ländern zurück nach Österreich. „Warum auch nicht?“, sagt der Österreich-Afghane, heute 31, der selbst als minderjähriger Geflüchteter nach Österreich gekommen ist. Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen in Afghanistan hätten viele Afghanen jetzt die Möglichkeit, einen neuen Asylantrag zu stellen – mit guten Aussichten auf Erfolg.
Nach seiner Rückkehr habe er endlich wieder schlafen können, drei Tage habe er durchgeschlafen, nach einer fast halbjährigen Odyssee, die ihn zum Ausgangspunkt zurückgeführt hat.
Adib ist schon einen Monat lang in Frankreich, als er von der neuen Situation erfährt. Die Kommunikationskanäle unter Geflüchteten in Europa sind unübersichtlich und verzweigt, doch sprechen sich relevante Informationen über Chatgruppen und Telefonate schnell herum. Adib entschließt sich, wieder seine Sachen zu packen: Es geht zurück nach Österreich. Diesmal, so hofft er, wird ihm seine Wahlheimat weniger feindselig begegnen.
Ob er sich in Wien inzwischen zu Hause fühlt? Adib zögert: „Es ist schwierig, aber ja, doch. In ganz Europa fühle ich mich hier am wohlsten, ich kenne die Stadt, habe meine Freunde hier, habe gute Erinnerungen.“ Nach seiner Rückkehr habe er endlich wieder schlafen können, drei Tage habe er durchgeschlafen, nach einer fast halbjährigen Odyssee, die ihn zum Ausgangspunkt zurückgeführt hat. Doch noch steht die Antwort auf seinen neuen Asylantrag aus. Sein Leben fluktuiert weiterhin im Limbus der Ungewissheit.
Auch Suleimans Zukunft ist unsicher. Zwar wurde ihm vor Kurzem in Bozen endlich eine temporäre Aufnahme genehmigt. Sie gilt jedoch nur für drei Monate und muss regelmäßig verlängert werden. Ob er damit Arbeit findet, die er jetzt formell ausüben darf, weiß er nicht. Eine eigene Bäckerei scheint noch in weiter Zukunft.
Seine alte Backstube in Wien hat Suleimans Schwager mittlerweile aufgegeben. Einmal rief ein Mitarbeiter der Firma an, die Suleimans Bäckerei mit Mehl belieferte. Wo er denn bleibe, fragte man sich im Betrieb. Suleiman lächelt bei dieser Erinnerung. Die Stadt Wien war am Anfang gut zu ihm, und er mochte sie auch. Doch jetzt noch einmal zurückgehen? „Nein!“ reagiert er vehement, fast schon erschrocken auf diese Frage. “Ich kann nicht wieder herumziehen und ein weiteres Leben wegschmeißen. Irgendwann muss man eines auch behalten.“
Text: Teseo La Marca & Julia Tappeiner
Illustrationen: Nicolas Stavik
Die Veröffentlichung dieser Geschichte wurde durch ein Stipendium des NewsSpectrum Fellowship-Programms unterstützt. Sie erscheint zeitgleich im österreichischen Magazin DATUM.
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