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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 03.11.2016
LebenReportage aus Bosnien

Europas Jerusalem

Veröffentlicht
am 03.11.2016
In Sarajevo leben Moslems, Christen und Juden seit Jahrhunderten zusammen. Das konnte auch der Krieg nicht ändern. Doch nicht alle finden das gut.
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Kurz vor Sarajevo legt Amir (Name geändert) noch einen Halt ein. Es ist fast 19 Uhr und bereits dunkel. Vor einer Moschee bringt er seinen Peugeot zum Stehen. „Nur fünf Minuten“, sagt Amir und zwinkert mir zu. Es ist heute das vierte Mal, dass er betet. Noch ein weiteres Mal und die religiöse Pflicht ist getan. Der 33-jährige Bosnier, der an diesem Tag mich und einen Freund quer durch Bosnien-Herzegowina mitgenommen hat, ist einer der beinahe zwei Millionen Muslime, der sogenannten Bosniaken, die im Land leben. Sie machen die Hälfte der Bevölkerung aus.

Es fällt schon beim Überqueren der Grenze von Kroatien zu Bosnien-Herzegowina auf: Das Landschaftsbild bleibt zwar weitgehend unverändert, geprägt von Hügeln, Mischwäldern und einzelnen höheren Gebirgsgruppen. Doch wo es Dörfer gibt, ragen zwischen den bescheidenen Häusern Minarette statt Kirchtürme in den Himmel. Die „Islamisierung des Abendlandes“, die zurzeit in vielen Regionen Europas gefürchtet wird, hat hier bereits im 15. Jahrhundert stattgefunden. Damals hielten die Ottomanen aus der Türkei im Westbalkan Einzug. Einer schwach organisierten und zerstrittenen christlichen Gemeinschaft war es zu verdanken, dass sich der Islam nachhaltig ausbreiten konnte.

Das Jerusalem Europas

Neben den Muslimen leben in Bosnien auch christlich-katholische Kroaten und orthodoxe Serben. In Sarajevo gibt es außerdem noch immer eine kleine jüdische Gemeinde, die vor ihrer dramatischen Dezimierung im Zweiten Weltkrieg tausende Mitglieder zählte. Hier, in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, steht die Moschee neben der Kirche, und wenige Meter weiter findet man die Synagoge. Die Stadt, die zuweilen „das Jerusalem Europas“ genannt wird, ist stolz auf ihre Multikulturalität. Das Zusammenleben hat sich schon über Jahrhunderte hinweg bewährt. Von Glaubensfragen abgesehen, führen die Stadtbewohner einen sehr ähnlichen, westlichen Lebensstil.

Bis heute trägt das Land die Spuren des Krieges. An vielen Häuserfassaden sind noch deutlich Einschusslöcher zu erkennen.

Amir, selbst ein streng gläubiger Moslem, wünscht sich, dass das Zusammenleben in ganz Bosnien so gut funktionieren würde wie in Sarajevo. Auf der mehrstündigen Fahrt nach Sarajevo erzählt er über sein Schicksal in den Jahren 1992 bis 1995, als Sarajevo unter der ständigen Belagerung serbischer Milizen stand. Unzählige Male musste er, damals ein zehnjähriges Kind, die kilometerweite Strecke zum nächsten Ort, wo es Wasser und Essen gab, zurücklegen. Viele starben dabei, so auch Amirs gleichaltriger Cousin. Sniper, die auf den umliegenden Hügeln der Stadt stationiert waren, nahmen die Straßen immer wieder unter Beschuss. Unter der Führung des Politikers Radovan Karadzic und des Generals Ratko Mladic feuerten die Serben oft auch mit schwerer Artillerie.

Während der Fahrt schaue ich aus dem Fenster: Bis heute trägt das Land die Spuren des Krieges. An vielen Häuserfassaden sind noch deutlich Einschusslöcher zu erkennen. Auch die Tatsache, dass die uns entgegenfahrenden Autos allesamt Kennzeichen tragen, die nicht auf ihre Herkunftsstadt schließen lassen, hat seinen Grund. Verwaltungstechnisch ist der Staat in Föderation von Bosnien-Herzegowina und Republika Srpska unterteilt. Und es ist besser, nicht auf den ersten Blick erkennen zu können, aus welcher Region ein Mensch stammt. „Wenn die Menschen in der Republika Srpska erfahren, dass ich Bosniake bin, sehen sie mich sofort mit anderen Augen“, erklärt Amir. Als Verantwortlicher für verschiedene Softwares in Krankenhäusern muss er die überwiegend serbisch bevölkerte Republika Srpska trotzdem manchmal bereisen. Er tut es nur ungern.

So kam es zum Krieg

In Serbien und in der Republika Srpska sieht man die Geschichte etwas anders. Nicht nur Gavrilo Princip, der mit seinem Attentat auf den austro-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand den Ersten Weltkrieg auslöste, wird hier immer noch als Volksheld gefeiert. Auch der ehemalige Serbenführer Radovan Karadzic, der international als Kriegsverbrecher gilt, wurde in der Republika Srpska erst vor kurzem wieder offiziell geehrt, indem ein Studentenwohnheim nach ihm benannt wurde. Der Nationalismus und der Traum von Großserbien, der hier noch immer in manchen Köpfen grassiert, leben vom selben Geist, der bereits 1992 zum Krieg geführt hat.

Der Partisanenführer Tito, Gründer und Machthaber des sozialistischen Jugoslawien, war schon zehn Jahre tot, als die Auflösung Jugoslawiens begann. Nachdem bereits Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, organisierte im Frühjahr 1992 auch die bosnische Regierung – auf Anraten der Europäischen Gemeinschaft – ein Referendum. Als klar wurde, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Unabhängigkeit will, eskalierte die Situation schlagartig. Serbische Separatisten errichteten im Zentrum Sarajevos Barrikaden. Ihr Ziel war es, mit allen Mitteln zu verhindern, in einem Staat zu leben, der von Serbien abgespalten war. „Blut und Boden“ lautete das Motto: Der Traum, dass alle Serben auf demselben Boden eines großen, serbischen Staates leben, schien in greifbarer Nähe. Auch die Kroaten verfolgten diese Politik.

Das Problem mit der Blut-und-Boden-Idee in Jugoslawien war aber: Auf demselben Boden lebten meistens nicht nur Serben, sondern auch Bosniaken oder Kroaten, und umgekehrt. Bald war klar, dass sich die nationalistischen Träume nur durch ethnische Säuberung verwirklichen ließen.

Als sich nach Errichtung der serbischen Barrikaden in Sarajevo ein Protestmarsch bildete, um die Teilung der Stadt zu verhindern, schossen die ersten Heckenschützen auf die Demonstranten. Serbische Milizen und zunächst auch die jugoslawische Volksarmee umzingelten die Stadt. Die Belagerung, die insgesamt 1.425 Tage dauern sollte, begann.

„Es wird wieder Krieg geben“ – Amir, bosniakischer Familienvater

Die Tatsache, dass der Westbalkan in seiner Heterogenität noch immer so gespalten ist, stimmt Amir nicht optimistisch. Amir liebt das Studium der Geschichte. Daher weiß er, wie sehr die Geschichte Jugoslawiens von Kriegen geprägt ist. Keine Volksgruppe stand in den Verbrechen einer anderen Volksgruppe nach. Wenn im Bosnienkrieg vor allem die Serben die Angreifer waren, so waren es unter dem sogenannten faschistischen Ustascha-Regime während des Zweiten Weltkriegs auch die Bosniaken, die zum Teil als SS-Angehörige die Serben massakrierten.

„Es gibt hier alle 50 oder 60 Jahre einen Krieg. Und es wird wieder einen geben“, sagt Amir. Der Ton in seiner Stimme ist auffällig gelassen. Als würde er nur eine Wahrheit aussprechen, die allbekannt ist und mit der man sich schon längst abfinden musste. Trotzdem hofft Amir auf eine Veränderung. Das alltägliche Leben in Sarajevo scheint dieser Hoffnung rechtzugeben. Die beschossenen Hausmauern wirken hier eher als stille Mahnungen, anstatt als Erinnerung an offene Rechnungen.

Das beschränkt sich nicht nur auf Sarajevo. In der Republika Srpska innerhalb von Bosnien-Herzegowina ist die Situation noch schwierig. Aber wenn Amir nach Serbien geht, merkt er, dass er freier mit den Menschen reden kann. Auch der flüchtlingsfreundliche Kurs der serbischen Regierung beeindruckt ihn: „Die Serben sind wirklich sehr gastfreundlich zu denen, die in letzter Zeit, auf der Flucht, ihr Land durchquerten“. Mit seiner Familie lebte Amir einige Monate lang selbst als Flüchtling in Rotterdam. Das war für ihn, der heute selbst Familienvater ist, die schlimmste Zeit. „Wenn ich die Familien sehe, die heute aus Syrien und anderen Konfliktregionen nach Europa fliehen, sehe ich mich selbst“, sagt er und sein Gesicht wird ernst: „War is a big shit!“

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