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Arno Kompatscher hat einen Traum. Von dem erzählte er beim Gedenkakt der Europaregion in Polen, als er zu vierhundert Schülern aus Trentino, Süd- und Nordtirol sprach, auf einer Bühne am Krakauer Marktplatz. „I have a dream”, sagte er, und weil wir die Geschichte kennen, können wir erahnen, wovon ein politischer Führer vor einer Menschenmenge träumt: Wir sollen an einer Gesellschaft arbeiten, die in Frieden lebt. Die historische Referenz war nur eine unter vielen auf dieser Gedächtnisreise anlässlich der hundert Jahre, die der Erste Weltkrieg nun vergangen ist.
Es begann schon mit der Abfahrt des Gedenkzuges am Brenner. Weil man dort meistens nur aussteigt und umsteigt und möglichst wenig Zeit verbringt, ist dieser ehemalige Grenzbahnhof eigentlich kein Ort für große Geschichten. Jetzt, in der Retrospektive der Reise, ist er beladen mit Erinnerungen und Erzählungen: Mit der Verabschiedung von 400 Schülern am 16. Oktober 2014, und mit der Abfahrt von hunderten Soldaten fast genau hundert Jahre zuvor. Dazwischen fiel auch noch die Brennergrenze mit großer Feierei, aber dazu später.
Diese Generation wird nicht mehr mit dem Schlaflied in den Traum gewiegt, dass sie es einmal besser haben wird als ihre Eltern, sondern mit der Aufgabe betreut, es einmal besser zu machen.
Die Reise in die Geschichte steht im Zeichen der Gemeinschaft. Das von der Euregio initiierte Projekt des Gedenkzuges nach Galizien will Schüler aus Nord-, Südtirol und dem Trentino gemeinsam zu den Orten bringen, wo ihre Vorfahren sich einst gegenüberstanden. Die Symbolik ist offensichtlich: Seht her, soll das wohl heißen, wie sich das Blatt gewendet hat. Der EU sei Dank.
So sprechen auch die Landeshauptmänner Günther Platter, Ugo Rossi und Arno Kompatscher beim offiziellen Gedenkakt am Samstag: Ihre Stimmen hallen über den Krakauer Marktplatz und nennen die Schüler im Publikum „Botschafter des Friedens“ und „Töchter und Söhne Europas“. Sie erinnern an ein zerrissenes Europa, dessen Völker sich im Kampf als Feinde gegenüberstanden. Die Gegenwart wird in den Fokus gerückt, die aktuelle politische Schieflage thematisiert. Schüler sprechen von ihren Sorgen; man hört die Worte IS, Ebola und Ukraine. Es ist brenzlig, so der einhellige Unterton, und wehmütig denkt man an die Tage zurück, an denen die größte Schlagzeile in allen Medien Bill Clintons Oralverkehr im Oval Office war. Aber auf die Jugend kann man sich verlassen, dessen ist sich Günther Platter zumindest sicher. Sie sollen alles zum Guten wenden. Diese Generation wird nicht mehr mit dem Schlaflied in den Traum gewiegt, dass sie es einmal besser haben wird als ihre Eltern, sondern mit der Aufgabe betreut, es einmal besser zu machen.
Am Ende der Feier wird es noch einmal sinnbildhaft: Jeder im Publikum darf seinen symbolischen, friedlichen Beitrag zur EU geben und betritt mit einer Nelke die Bühne, wo aus den Blumen die Sterne der europäischen Flagge entstehen. Im Hintergrund spielt Tiroler Kaiserjägermusik.
Weil Jean-Claude Juncker gesagt hat: „Wer dieses Europa nicht will, soll Soldatenfriedhöfe besuchen“, und weil die Jugend dieses Europa ja unbedingt wollen soll, geht es am Sonntag zum Soldatenfriedhof in Brylince nahe der ukrainischen Grenze. Die Fahrt von Krakau dauert einige Stunden. Flache Hügel in sattem Grün ziehen sich durch die Landschaft. Endlich lässt sich die Sonne blicken, und die frische Herbstluft und der blaue Himmel machen den Tag schöner, als es für eine Trauerfeier passend ist. Wir legen einen Zwischenstopp ein, irgendwo im Niemandsland. Da hinten, hinter dem Wald, da sei die EU-Grenze.
Politik kann doch manchmal glücklich machen.
Wir gehen durch den Wald, der in allen Herbstfarben glänzt, und irgendwann lichten sich die Bäume, und man steht auf einem Fleckchen Wiese. Auf dem steht ein Schild mit polnischer Schrift. Das Geschriebene muss wohl Staatsgrenze heißen, weil dahinter ein Drahtzaun den Weg abschneidet, und weil weit hinter dem Drahtzaun ein bewaffneter Soldat patrouilliert. Touristendeko, denkt man im ersten Moment, weil man das Bild bewaffneter Grenzen glücklicherweise schon weit hinten im Gedächtnis vergraben durfte. Ob hinter dem Zaun ein Minenfeld sei, fragt eine Schülerin ihre Lehrerin. „Das ist voll gruselig“, sagt eine andere.
Die älteren Mitreisenden lassen sich von solchen Dingen nicht beeindrucken, sie haben so etwas und auch schon mehr gesehen. Ein Mann erzählt von damals, als nach Schengen die Brennergrenze geöffnet wurde. „Das war das größte Fest“, erinnert er sich. Alle saßen sie da und soffen und tranken „bis der Wein bei den Ohren rauskam“. Er erzählt vom Feuerwerk, und dass man glaubte, mittendrin zu sitzen, so groß und hell war das. Jeder kennt wohl die elterlichen Erzählungen vom Fall der Berliner Mauer, wie alle gebannt vor dem Fernseher saßen und den Leuten beim Weinen und Feiern zusahen, die nun endlich die Mauer passierten. Politik kann doch manchmal glücklich machen.
Die Reise geht weiter, an die Gedenkstätte eines politischen Desasters. Am Soldatenfriedhof in Byrlince wird der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht, die an der Front in Galizien den Tod fanden. Eine Schülerin nimmt das sichtlich mit, und sie weint laut- und trotzdem hemmungslos. Vorne stehen die uniformierten Tiroler Kaiserjäger in stiller Andacht. Sie gedenken ihren Tiroler Landsmännern. Tiroler Landsmänner – wie zeitgemäß sind dieses Wort und diese Haltung noch in einer Europäischen Union? Und ist unser Vaterland nur größer geworden (weil nun eingebettet in Euregio und EU), würden aber manche einen Kampf immer noch als angemessenes Mittel seiner Verteidigung sehen?
Die Frage stellt sich bei der Diskussionsrunde am letzten Tag. Die Debatte wird hitzig, als die Frage aufkommt, ob man das Thema Gedenken nicht teilweise von der falschen Seite angegangen sei. Gab es zuviel der Heldenverehrung? Muss man tote Soldaten nur betrauern, darf man sie und ihren etwaigen Nationalismus posthum noch hinterfragen? Ein Diskussionsteilnehmer wirft die Frage auf, warum diese Generation denn so enthusiastisch in den Krieg gezogen sei; ob es nicht einen Vaterlandsfanatismus gab, der im Gedenken nie zur Sprache kam.
Im Anschluss wird einer der mitgereisten Schützen sagen, dass der, der die Kritik vorgebracht hatte, ja auch Historiker sei – die seien ja auch immer ein wenig links geprägt, das müsse man bei der Wertung der Objektivität der Aussage schon beachten. Die optimistischste Wortmeldung der großen Runde ist aber die eines anderen Teilnehmers der alten Garde: Diese Jugend, die er in diesen Tagen erlebt hatte, hätte ihm die Angst vor der Zukunft genommen. Das hat man doch schon mal gehört. „Young people are gonna save us“, lässt die Fernsehserie Mad Men in ihrer Version der Vergangenheit der 60er-Jahre eine Figur sagen, und vielleicht hat man daran immer schon geglaubt.
Am Montagabend geht es zurück. Im ersten Waggon des Zuges wird gefeiert, obwohl es in Krakau keine Schlacht zu schlagen und nichts zu gewinnen gab. Trotzdem sind sie Helden, irgendwie. Drei Tage habe er schon durchgemacht, erzählt ein Schüler zufrieden. Ein anderer erzählt von knapp zehn Stunden Schlaf in fünf Tagen, und sie klopfen sich auf die Schulter wie alte Veteranen.
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