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Bevor sich die Tür des Aufzugs hinter ihm schließt, wünscht mir Hoteldirektor Philippe Clarinval „eine gruselige Nacht“. Ein Witz? Vielleicht. Doch nach all den Geschichten über hysterische Mörder, verborgene Tresore und geheimnisvolle Zaren, die er mir zuvor erzählt hat, klingt das wie eine Drohung. Außerdem ist heute Halloween. Na dann gute Nacht.
Ich bin plötzlich allein in der größten Suite des Nobel-Skiorts Sankt Moritz, allein im Luxushotel Carlton. Es ist Nebensaison. In wenigen Wochen werden Gäste aus aller Welt bis zu 30.000 Franken bezahlen, knapp 26.000 Euro, um eine einzige Nacht in meiner Penthouse Suite zu verbringen. Fünf Terrassen, drei Schlafzimmer samt Badezimmer, Wohnzimmer, Essbereich, Arbeitszimmer, Küche, begehbarer Kleiderschrank, 386 Quadratmeter. Während ich mir kurz den Luxus ausmale, wandern meine Gedanken bereits durch dunkle Gänge und leere Zimmer tief unter mir. Ich stelle mir wippende Schaukelstühle vor, von Geisterhand gespielte Pianos und blutverschmierte Schranktüren. Zuhause meide ich jede Art von Horrorfilm, um nicht auf düsterere Gedanken zu kommen. Hier kommen sie von alleine.
Dennoch wage ich mich hinaus aus meiner sicheren Suite. Mit Handy und Taschenlampe bewaffnet, betrete ich den suite-eigenen Aufzug, eine Treppe gibt es nur für Notfälle. Sieben. Sechs. Fünf. Vier, die Mitte des hohen, 1913 errichteten Hotelkolosses. Weicher Teppichboden schluckt meine Schritte. Rumpelnd schließt die Tür. Dann ist es dunkel. Schlagartig wird mir kalt. Ich knipse meine Taschenlampe an. Ihr schmaler Strahl tastet sich die Wand hinauf. Plötzlich überfällt mich eine übergroße Libelle. Ölfarben, weiß auf schwarzem Hintergrund. Zwischen den Flügeln des Insekts funkelt ein blauer Stein. Er stammt aus dem Schmuck des russischen Zaren Nikolaj II. Der Spross der Romanoff-Dynastie soll den Bau des Carlton persönlich in Auftrag gegeben haben. So die Legende, die sich bis heute hartnäckig hält.
Philippe Clarinval hat sie mir erzählt. Am Esstisch in der warmen Suite, keine zwei Stunden zuvor. Eine beiläufige Anekdote. Jetzt, im dunkeln Hotelflur, wirkt sie bedrohlich. Zu viele Mythen und Spukgeschichten ranken sich um den Zaren und vor allem um geheimnisvolle Hotels. Das „Stanley Hotel“ in Colorado inspirierte Stephen King zum Thriller „Shining“. Im „Myrtles Plantation“ in Lousiana berichten Gäste von Handabdrücken, die über Nacht an den Wänden erscheinen. Im „Russell Hotel“ in Sydney soll der Geist eines Seemannes den Bewohnern von Zimmer 8 beim Schlafen zusehen. Sogar Clarinval selbst erzählt, wie er einst als Direktor des „Shangri-La Hotels“ in Jakarta von seinen Mitarbeitern vor den Geistern gewarnt wurde, die auf dem ehemaligen Friedhofsareal herumspuken würden. Einer von ihnen saß auf den Polstersesseln im 23. Stock des Hotels, der zweite fegte das Laub im Hof. Kein Zwinkern, als er mir davon erzählte. Der Hoteldirektor meinte es ernst.
Eine Eichenholztreppe wie auf dem Luxusdampfer Titanic führt in die Halle mit angeschlossenem Festsaal und Restaurant im ersten Stock. Eine einzelne Lampe brennt. Während ich darüber nachdenke, wer sie wohl eingeschaltet hat, taste ich mich über das ächzende Parkett. Schwere Vorhänge rahmen die großen Fenster, dahinter spiegeln sich weit unten die Lichter von St. Moritz im tiefschwarzen See. An beiden Seiten der Halle thronen Kamine aus gegossenem Stein, dazwischen Sesselgruppen und ein mit dunklem Laken abgedecktes Piano. Ich denke an „Shining“: Was, wenn irgendwo ein irrer Mörder mit einer Axt lauert? Niemand würde meine Schreie hören, niemand mich vor Tagesanbruch vermissen.
Ich sinke in einen braunen Ledersessel. Mein Blick folgt der Taschenlampe zur Decke. Üppiger Stuck, vergoldete Kronleuchter, die den doppelköpfigen Adler, das Logo des Hotels, tragen. In den 30er-Jahren trafen sich hier Gäste aus aller Welt zum Afternoon Tea. Es waren glanzvolle Jahre für das Carlton. Ein Vorfall aber überschattete sie. Im Januar 1930 verliebte sich die Engländerin Simone Boulter in den Schweizer Schriftsteller Cuno Hofer. Die Avancen der Londoner Witwe, der Ärzte später eine schwere Hysterie attestierten, überforderten den verheirateten Hofer. Als er Boulter ein Jahr später ein weiteres Mal zurückwies, tötete sie ihn mit vier Pistolenschüssen. Anschließend setzte sie ihrem eigenen Leben ein Ende – in einer Suite irgendwo in den Etagen über mir.
Das plötzlich einsetzende Surren des Kühlschranks hinter der Bar schreckt mich auf. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich denke an die zähnefletschende Fratze von Jack Nicholson in „Shining“, an die liebestolle Boulter und den unschuldigen Hofer, an den Zaren, der überall im Haus verewigt ist, obwohl er doch nie hier übernachtete. Ich nehme den Aufzug zurück in den achten Stock.
Die Penthouse Suite ist warm, überall brennt Licht. Ich gehe durch den Ess- und Wohnbereich in den Master Bedroom. Hinter dem Doppelbett mit seinen vielen Decken und Kissen ist ein kleiner, gelber Schrank in die Wand eingelassen. Ich drücke gegen die Tür, sie öffnet sich. Ein massiver Panzerschrank mit Drehschloss kommt zum Vorschein. Vor zwei Wochen ist der einstige Bewohner der Suite, der Eigentümer des Carlton und Besitzer dieses Tresors, im Alter von 94 Jahren verstorben. Den Code zum Tresor hatte er schon vor Jahren vergessen.
Um sechs Uhr, meine Alpträume und Träume habe ich vergessen, wache ich mit Blick auf den ins Morgenlicht getauchten See auf. Ich trete auf eine der fünf Terrassen, es ist erstaunlich warm, die Vögel zwitschern. Dann fahre ich noch einmal in den vierten Stock zum Gemälde mit der Libelle. Später nehme ich die Treppe in die Halle. Der Kühlschrank surrt noch immer, schnurrt jetzt friedlich. Die Gespenster von gestern Nacht, sie sind verschwunden. Ich aber will raus und wieder unter Leute.
Am Weg nach draußen treffe ich den Hoteldirektor. Wer alles vor mir in der Penthouse Suite übernachtet hat? Er verrät es nicht. Nur eines: „Prinzessinnen waren auch darunter.“
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