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Der Wind weht Sandkörner auf. Sie schneiden in meine Haut, einige verirren sich im Labyrinth meiner Computer-Tastatur. Wende ich den Blick vom Bildschirm ab, blicke ich auf türkises Wasser und weißen Sandstrand. An den Nachbartischen des Cafés klappern Tastaturen, Gesichter stecken in Kopfhörern und sprechen in die Kamera des Laptops vor ihnen. Die Gesichter gehören „Digitalnomaden“, also Menschen, die unterwegs in der Welt digital arbeiten. Im Strandcafé von Corralejo, – einer kleinen Hipster-Stadt im Norden von Fuerteventura – beenden sie ihr Meeting, verschicken sie letzte Emails, bevor sie im Meerwasser in einen frühen Feierabend eintauchen werden. So wie ich.
Noch vor wenigen Wochen saß ich im Homeoffice in Bozen, mitten im Lockdown. Dann stieß ich im Internet auf einen Kommentar, der die Kanarischen Inseln als aktuell perfekten Ort für Digitalnomaden beschrieb. Von Party war die Rede, von jungen Leuten und von günstigen Flügen. Wie kann das sein, fragte mein Lockdown-müdes Bewusstsein ungläubig, in Zeiten globaler Pandemie? Ist es tatsächlich möglich, aus dem Homeoffice in den eigenen vier Wänden auszubrechen, auf zum fernen Insel-Office zwischen Palmen, Meer und Strand? Um das herauszufinden, bin ich nach Fuerteventura aufgebrochen.
Das Phänomen der Digitalnomaden hat sich im letzten Jahrzehnt begonnen zu etablieren. Internet, flexible Arbeitszeiten und Globalisierung haben es ermöglicht, ortsunabhängig am Laptop zu arbeiten. Die meisten Digitalnomaden sind selbstständig und führen einen Reiseblog, posieren auf Social-Media-Kanälen als Influencer, geben Yogakurse auf Youtube oder vermarkten Projekte für Start-Ups. Sie haben Sicherheit gegen Freiheit ausgetauscht, Wohlstand gegen einen minimalistischen Lebensstil, ein regelmäßiges Gehalt und bezahlten Urlaub gegen flexible Arbeitszeiten und permanente Weltreise.
Im Flugzeug treffe ich auf die ersten Digitalnomaden. Ich erkenne sie daran, dass er den ganzen Flug über am Laptop ein Reisevideo schneidet, und sie immer wieder ein Selfie für den nächsten Instagram-Post schießt. „Binario 12“ heißt der Reiseblog, den das junge Ehepaar aus Sri Lanka betreibt. Vor drei Jahren haben sie ihren Bürojob in Mailand gekündigt, um nur mehr vom Reisen und den Geschichten darüber zu leben. Mit mehr als 100.000 Abonnenten auf Instagram, lässt sich das gut umsetzen.
In meinem Kopf hatte sich die digitale Wanderarbeit schon länger als ideale Lebensform festgesetzt. Sie galt für mich als die Chance, einem monotonen Büroleben im Rhythmus der Zeiger zu entkommen – neun Uhr, fünf Uhr, Montag, Wochenende, Arbeitszeit, Urlaubszeit. So schrieb ich mich vorfreudig in die journalistische Selbstständigkeit, nur um zu Ende meines Studiums in eine globale Pandemie zu schlittern. Stillstand.
Für Binario 12 ging es trotzdem weiter. Ihr Business ist während der Pandemie sogar noch gewachsen, erzählen sie: „Wegen des Lockdowns saßen die Leute alle zuhause und hatten mehr Zeit, durch Social Media zu stöbern und sich Reiseblogs anzusehen.“ Die Themen gingen Binario 12 selbst im strengsten Lockdown nicht aus: dann wurden eben Wanderungen in die Berge neben Mailand gefilmt. Und Reiseschlupflöcher ließen sich im Sommer zwischen Portugal und Frankreich schnell finden. Nun geht es nach Fuerteventura: „Wir haben von mehreren Bekannten mit demselben Beruf gehört, dass sie nach Fuerteventura fliegen und dass es hier super sein soll fürs digitale Nomadentum. Die Insel wird schon das ‚Bali Europas‘ genannt.“ Aus meinem Flugzeugfenster blicke ich hinab auf dieses Bali Europas, auf die spanische Inselgruppe an der Westküste Afrikas. Je näher Fuerteventura kommt, desto größer werden die Wellen, die sich an der Küste brechen und die Vulkankrater, die das karge Inselgebiet besprenkeln.
Digitalnomaden lassen sich treiben: vom guten Wetter, vom Ruf nach stabilem Internet, von günstigen Preisen. Diese Kriterien machten Bali zum Mekka moderner Wanderarbeiter – zumindest bis 2020, als die Grenzen aufgrund der Pandemie geschlossen wurden. Seitdem füllen die Kanaren mit ihrem ganzjährig sonnig-warmen Klima und günstigen Flügen diese Lücke. Zwar sind die Lebenshaltungskosten hier nicht so niedrig wie in manchen südostasiatischen Ländern, doch liegen die Preise leicht unter dem westeuropäischen Durchschnitt.
Digitalnomaden lassen sich treiben: vom guten Wetter, vom Ruf nach stabilem Internet, von günstigen Preisen.
Ich miete mir einen kleinen Bungalow über Airbnb, fünf Gehminuten vom Strand entfernt, zehn Minuten mehr sind es bis ins Zentrum von Corralejo. Für zwei Wochen erstmal. Pro Nacht zahle ich 30 Euro – auf Dauer ganz schön teuer. Doch ich stelle fest: wer sich eine AirBnb-Wohnung für mehrere Monate nimmt, zahlt weniger. Und wer gleichzeitig die Wohnung zuhause vermietet, kann sogar ohne Mehrkosten auf der Urlaubsinsel leben.
So machen es Robert und Lotti, die seit vier Monaten mit ihrer kleinen Tochter in Corralejo wohnen, in einem Bungalow direkt neben meinem. Robert wachst gerade sein Surfboard, während Lotti daneben mit der Kleinen am Gemeinschaftspool plantscht. Die beiden sind, wie ich, Digitalnomaden auf Probezeit – eine Chance, die sie aufgrund des Lockdowns ergriffen haben, sie planen aber in Zukunft dauerhaft diesen Lebensstil einzuschlagen. Das gute Wetter war ausschlaggebend für die jungen Eltern in einer Zeit, in der Kindergärten regelmäßig für Wochen geschlossen werden: „Hier kann unsere Tochter draußen spielen, und wir sind nicht gezwungen, im Lockdown in einer engen Wohnung aufeinander zu hocken,“ erzählt Robert und schrubbt weiter an seinem Board herum. Die begeisterten Surfer treibt es schon seit Jahren auf die beliebten Surfer-Strände der Insel.
Nach der ersten europäischen Lockdown-Welle im März 2020 war das Surferparadies leergefegt – ein harter Schlag für eine Region, in der die Tourismusbranche mehr als 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. Davon erzählen Uberto und Gianluca, die mit ihrem Tourismusdienst „Fuertenjoy“ Ferienwohnungen vermieten. Der dritte Lockdown im Herbst letzten Jahres zeichnet aber ein neues Tourismusbild auf der Insel: „Dank der Computerarbeiter, die hier zum Smartworking herkommen, konnten wir fast alle Wohnungen wieder füllen,“ erzählen Uberto und Gianluca erfreut, auch wenn der Gewinn mit dieser neuen Art von Besuchern geringer ausfällt: „Digitalnomaden mieten die Wohnungen meist für zwei oder drei Monate. Der Monatspreis ist natürlich viel niedriger als pro Woche berechnet, und wir verdienen jetzt in einem Monat das, was wir sonst in einer Woche verdient hätten.“
Die Kanarischen Inseln punkten damit, dass bei Ankunft mit einem negativen PCR-Testergebnis keine Quarantäne nötig ist. Das war auch für mich ausschlaggebend. Was mich aber besonders reizte, war die Aussicht auf eine blühende Bar- und Restaurantkulisse, dessen Ruf sich bis in die Homeoffice-Wohnzimmer des europäischen Festlandes geschlichen hat, und bis heute durstige Digitalnomaden aus ganz Europa auf die Insel zieht.
Fuerteventura erscheint wie eine Covid-freie Parallelwelt; eine frisch gefundene Oase inmitten der monatelangen Lockdown-Wüste: hier können soziale Bedürfnisse aufgetankt werden, es gibt wieder Raum für menschlichen Kontakt, für Tinder-Dates, für ausgelassene Gespräche mit Freunden und Feierabendbierchen. Die Küstenstadt Corralejo erwacht abends zum Leben. Obwohl ab 23 Uhr Ausgangssperre herrscht, und die Guardia Civil um die Straßen schleicht, verlagern die Digitalnomaden ihre wiedergefundene Partystimmung in die Wohnzimmer und Terrassen ihrer Bungalows.
Am ersten Abend werde ich auf eine House-Party eingeladen. Hier blicke ich zum ersten Mal in die Gesichter hinter der Nomadenbewegung. Und ich erkenne ein neues Phänomen, einen neuen Nomadenschwarm, der sich ganz anders bewegt als die Digitalnomaden der 2010er Jahre.
Ich spreche mit jungen Männern und Frauen, die sonst in Berlin, Wien, Paris oder London die Spuren ihres Büroalltags am Wochenende mit Cocktailrausch und Tanz wegwischen konnten, und sich plötzlich mit nichts als dem Rohbau ihres Lebens konfrontiert sahen. Das eigene Ich, die Sinnlosigkeit der Arbeit, ohne weicher Deckenlampen für eine entspannte Atmosphäre, ohne Klimt-Bild vor dem Riss in der Wand. Den Digitalnomaden, die es seit dem dritten Lockdown Europas gibt, geht es primär darum, dieser Nacktheit zu entfliehen, und wieder die Wärme des menschlichen Daseins zu spüren.
Die meisten neuen Nomaden kamen als Urlauber auf die Insel, blieben dann aber in der Palmen-und Partyszenerie Fuerteventuras gefangen. So wie Magdalena aus Schlanders, die neben mir auf der Party tanzt, und ihren Kurztrip mittlerweile auf Woche vier verlängert hat: „Als ich gesehen habe, dass die Arbeit von hier aus gut funktioniert, trotz Zeitverschiebung, das Internet stabil ist, und man ruhige Orte findet, habe ich beschlossen, hier zu bleiben.“ Vom Team des Berliner Startups, in dem sie tätig ist, erhielt sie sofort grünes Licht.
Damit gehört Magdalena zur Ausnahme. Unter den neuen Nomaden, die ich frage, geben viele an, ihrer Firma zuhause nichts erzählt zu haben. Mit blauem Licht vor der Kamera retuschieren sie bei Online-Meetings ihre Sommerbräune und für den Small-Talk mit den Kollegen über das Wetter wird die App konsultiert – „Ja, in Hamburg ist das Wetter echt kacke, inneres Zwinkersmiley.“ Manche leben seit einem halben Jahr auf Fuerteventura, ohne das Wissen der Arbeitskollegen oder Chefs.
Am Ende fahren die meisten der Neuen Nomaden wieder nach Hause. Digital Nomading ist ein permanenter Lebensentwurf, die Neuen Nomaden hingegen sind Wanderarbeiter auf Zeit. Langfristig legen sie Wert auf Sicherheit, brauchen eine Wohnung aus vier Wänden an einem festen Ort. Es sind Menschen, die auf Dauer nicht für den Wanderlebensstil gemacht sind, vor allem auch deshalb, weil sie als Angestellte nicht die Freiheit eines Selbstständigen genießen.
Manche leben seit einem halben Jahr auf Fuerteventura, ohne dem Wissen der Arbeitskollegen oder Chefs.
„Ich würde jetzt nicht gleich als digital nomad unterwegs sein und meine Wohnung kündigen. Das wäre mir zu krass,“ findet auch Magdalena. „Aber so was dazwischen, also dass ich zum Beispiel mal zwei Monate von einem anderen Land aus arbeite, kann ich mir sehr gut vorstellen. Das ist auch eine super Gelegenheit, um Gleichgesinnte zu treffen, und beruflich zu netzwerken.“
Auf Fuerteventura bildet sich gerade ein Präzedenzfall: Ein digitales Nomaden-Dasein 2.0, das die Sicherheit eines festen Bürojobs mit dem gelegentlichen Freiheitsgefühl des Ausbrechens kombiniert; das zeitlich begrenzt und somit einer breiteren Masse an Arbeitern zugänglich ist. Es ist ein Kompromiss, den immer mehr Menschen fordern werden, nachdem sie ihn einmal geschnuppert haben. Darauf sollten sich Firmen einstellen, und flexible Modelle verwirklichen, die ihren Angestellten ein gelegentliches Nomadentum erlauben. Denn es ist zum Vorteil beider Seiten.
Immer öfter hört man von Burn-out oder Depression unter jungen Leuten aufgrund mangelnder Work-Life-Balance. Wie wichtig sozialer Ausgleich ist, zeigt die Fluchtwelle von Digitalnomaden nach Fuerteventura. Könnte eine Arbeitskultur, die verstärkt auf smartworking setzt und Mitarbeitern erlaubt, eine Weile vom Ausland aus zu arbeiten, dem Gefühl der Sinnlosigkeit entgegenwirken? Dem Alltagsstress die Leichtigkeit des Strandlebens entgegensetzen? Berufskrankheiten vorbeugen? Oder bräche damit, wie einige starr hierarchische Unternehmen befürchten, die Produktivität der Mitarbeiter ein?
Meine Erfahrung und Gespräche mit Gleichgesinnten sprechen für das Digitale Nomadentum 2.0 als Arbeitsmodell der Zukunft. An der Bushaltestelle am Flughafen wartet eine junge Frau neben mir. Elke kommt aus Belgien und arbeitet als Marketingexpertin in einem Logistikunternehmen. Auch sie will in den Nomaden-Hub Corralejo, nachdem sie ein paar Monate auf Teneriffe, einer kanarischen Nachbarsinsel, verbracht hat. Sie wirkt ausgelassen, entspannt. Das Digitale Nomaden-Dasein, erzählt sie, hätte nichts an ihrer Produktivität geändert, doch sie lebe ausgeglichener und glücklicher: „Zuhause ist es immer kalt, grau und regnerisch. Hier aber scheint meist die Sonne, sodass ich nach der Arbeit für einen Spaziergang am Strand rausgehen kann. Das motiviert sehr.“
Auch mich motiviert die Aussicht auf Meer dazu, effizienter zu arbeiten. Zwar sitze ich weniger Stunden am PC, denn spätestens um vier zieht mich das Geräusch der Wellen wieder Richtung Strand, doch erledige ich in der verkürzten Zeit dieselbe Arbeit, wie zuhause. Etliche Studien belegen: Glückliche Mitarbeiter sind produktiver und effizienter bei der Arbeit.
Bleibt die Frage, wie weit die Unternehmerwelt für diesen Wandel bereit ist. Nicht alle Branchen können ihre Mitarbeiter auf Digital-Nomading-Tour schicken, und aufgrund der doppelten Versteuerung muss darauf geachtet werden, wohin und wie lange festangestellte Digitalnomaden fliegen können.
Doch erkennen einige progressive Firmen die Entwicklung und stellen sich darauf ein. „Unsere Firma war vorher schon digital, hat jetzt aber die Fernarbeit in ihre Unternehmenskultur noch mehr integriert,“ erzählt zum Beispiel Magdalena von ihrem Software-Startup. Auch Elkes Chef hat kein Problem mit Fernoffice, solange sie ihre Arbeit ohne Hindernisse verrichten, und stetige Internetverbindung garantieren kann: „Unsere Firma fängt bereits an, über flexiblere Arbeitsmodelle nachzudenken. Viele Unternehmen haben kein Vertrauen in ihre Angestellten, doch bei uns ist zum Glück ein gutes Verhältnis gegeben.“ Sie hofft, in Zukunft öfter für eine Weile ihr Homeoffice in ein fernes Land zu verschieben. „Wenn man für ein oder zwei Monate ein Airbnb mietet, fühlt es sich an, als wärst du zuhause. Nur eben irgendwo anders.“
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