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Mara* (32), Silvia* (36) und David* (38) sind in einer Beziehung zu dritt und leben in einem polyamorösen Haushalt im Untervinschgau, gemeinsam mit zwei Kindern. Polyamorie bezeichnet eine Beziehungsform, bei der sich eine Person in mehrere Menschen verlieben und mit mehr als nur einem Partner, eine sexuelle und romantische Beziehung eingehen kann. In diesem Beziehungsmodell sind alle Beteiligten eingeweiht und damit einverstanden.
Wusstet ihr schon immer, dass ihr polyamorös seid?
Silvia: Nein. Ich habe vor Mara und David über sechs Jahre in einer glücklich monogamen Beziehung mit einem Mann gelebt. Nach der Trennung habe ich Mara kennengelernt. Auch wenn ich sie sehr interessant fand, habe ich zunächst mehrere Monate mein Singleleben genossen, Frauen und Männer gedatet und polygam gelebt.
David: Bei mir und Mara war das sehr ähnlich. Wir sind seit acht Jahren in einer ursprünglich monogamen Beziehung. Vor fünf Jahren haben wir unsere Beziehung geöffnet und Polygamie für uns entdeckt. Erst seit 2019 leben wir polyamorös und sind in dieser Dreierbeziehung.
Polygamie und Polyamorie: Wo liegt der Unterschied?
Mara: Zunächst ist es wichtig zu erwähnen, dass diese ganzen Begriffe als Etiketten für alternative Beziehungsmodelle dienen. Es hilft manchen, manchen auch nicht, sich irgendwo einzuordnen oder dem Ganzen einen Namen zu geben. Jede polygame oder polyamoröse Beziehung hat eigene „Regeln“ und eine individuelle Definition.
David: Genau, aber in der Regel dürfen in polygamen Beziehungsmodellen beide Partner mit anderen Menschen sexuelle Beziehungen eingehen. In polyamorösen Beziehungen geht es hingegen nicht nur um sexuelle Beziehungen, sondern um die Liebe für mehrere Menschen.
Wie ist das bei euch? Gibt es noch ein Fremdgehen oder ist alles erlaubt?
Alle lachen
David: Natürlich gibt es No-Goes, Betrug und Fremdgehen in polyamorösen oder polygamen Beziehungen. Mara und ich führen eine romantische und sexuelle Beziehung ausschließlich untereinander und mit Silvia, wir leben also – um es zu etikettieren – rein polyamorös. Wir lieben jeweils zwei Menschen und schlafen ausschließlich mit denen.
Silvia: Bei mir ist das etwas anders. Ich lebe weiterhin polygam, befinde mich aber in der polyamorösen Beziehung mit David und Mara. Das bedeutet, dass ich weiterhin sexuellen Kontakt mit anderen Menschen ohne romantische Gefühle habe, obwohl ich nur David und Mara liebe.
Ich und Mara haben nicht das Bedürfnis mit anderen Menschen in sexuelle Beziehungen zu treten.
Die eine darf, die anderen nicht: Funktioniert das ohne Drama und Eifersucht?
David: Das ist ein typisches Missverständnis. Es geht hier nicht um dürfen, sondern wollen. Ich und Mara haben nicht das Bedürfnis, mit anderen Menschen in sexuelle Beziehungen zu treten. Wenn wir das hätten oder je haben werden, reden wir darüber und dann „dürfen“ wir das auch.
Silvia: Ich denke Eifersucht ist per se nichts Schlechtes, sondern eine Schutzfunktion. Es zeigt uns, welche Bedürfnisse oder Mängel wir haben, was wir gerade brauchen und wo wir vielleicht zu kurz kommen. Daher glaube ich, dass Eifersucht durchaus für Beziehungen gesund sein kann, als Anstoß und Initiative mehr für die eigenen Bedürfnisse einzustehen.
Mara: Eifersucht gibt es in jeder Beziehung. Der Anspruch, dass Polygamie nur ohne Eifersucht funktioniert, ist eine Illusion. Sollten sich Silvia oder David in eine andere Person verlieben und mich beginnen zu vernachlässigen, bin ich natürlich eifersüchtig. Eine Beziehung wie unsere ist viel Arbeit, viel reden, reden, reden und die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren. Das kann sehr schwierig sein.
Zahlt sich die ganze Arbeit aus?
Silvia: Auf alle Fälle! Und das auf allen Seiten. Zum Einen ist es unglaublich befreiend zu wissen, zu seinen Gefühlen zu stehen und sich „holen“ zu können, was man braucht und das gleichzeitig kein Tabu darstellt, sondern unterstützt wird. Auf der anderen Seite gibt es auch nichts Schöneres als seine Partner vollkommen zufrieden, glücklich und romantisch sowie sexuell befriedigt zu sehen.
David: Genau das ist es. Unsere alte Beziehung wäre sicher zerbrochen, wenn wir uns nicht die Zeit genommen hätten, etwas auszuprobieren. Wir mussten erst selbst verstehen, was wir brauchen und uns gegenseitig gönnen können.
Mara: Viele denken, eine Beziehung zu öffnen oder ein alternatives Beziehungsmodell zu wagen, bedeutet den Kampf um die Beziehung und den anderen aufzugeben. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Wir hätten die Beziehung „wegwerfen“ können, wie es viele machen, wenn es nicht mehr klappt. Unser Ziel war es, komme was wolle, uns gegenseitig im Leben zu behalten und gemeinsam Lösungen zu finden.
Wie kam es zur „Lösung“ und eurer Beziehung zu dritt?
Mara: Als David und ich eine offene Beziehung führten, habe ich mich ein paar Mal mit Silvia getroffen. Irgendwann traf ich mich ausschließlich nur noch mit Silvia und erzählte ununterbrochen von ihr und gestand David, dass ich glaubte mich in sie zu verlieben.
Wie war das für dich, David?
David: Schmerzhaft. Ich war eifersüchtig und befürchtete, dass mich Mara aufgrund ihrer Gefühle für Silvia nicht mehr lieben würde. Ich war traurig und wütend. Gleichzeitig fand ich Maras Ehrlichkeit bewundernswert und habe sie lange nicht so glücklich gesehen, wie nach den Dates mit Silvia.
Ich wollte, dass sich die zwei Menschen, in die ich verliebt war, kennenlernen.
Wie ging es weiter?
Mara: Ich beichtete Silvia nach dem Gespräch mit David meine Gefühle und lud sie zu einem gemeinsamen Abendessen mit David ein. Ich wollte, dass sich die zwei Menschen, in die ich verliebt war, kennenlernen. Ich erhoffte mir zu keinem Zeitpunkt, dass sie sich ineinander verlieben würden, sondern wollte nur das Okay von David, mich weiterhin mit ihr treffen zu dürfen.
Das Abendessen klingt nach einem Wagnis. Wie war es?
David: Oh ja, ich befürchtete Drama pur (lacht). Das war aber zum Glück nicht so. Wir haben so viel geredet, gelacht und es war eine besondere Chemie zwischen uns allen in der Luft. Ich konnte verstehen, was Mara in Silvia sah und wollte sie besser kennenlernen.
Mara: Wir wiederholten diese Abendessen mehrmals die Woche, weil Silvia und ich uns lieber zu dritt als ausschließlich zu zweit treffen wollten. Irgendwann häuften sich die Abendessen so sehr, dass Silvia quasi bereits halb bei uns wohnte. Den offiziellen Einzug Silvias in unser Haus 2019 betrachten wir als Anfang unserer Dreierbeziehung.
Silvia, wie war es für dich Teil einer bereits existenten Beziehung zu werden?
Silvia: Überhaupt nicht schwierig. Ich hatte Angst mich bei den Treffen wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen, aber es war so spannend, zwei Menschen zur gleichen Zeit auf eine romantische Weise kennenzulernen und zu jedem eine eigenständige Beziehung aufzubauen.
David: Durch Silvia hat sich auch die ursprüngliche Beziehung zwischen Mara und mir verändert. Es war niemand das fünfte Rad am Wagen, weil wir uns alle in einer komplett neuen Situation mit individuellen Gefühlen befanden. In der Polyamorie spricht man auch von der New Relationship-Energy.
Liebt ihr euch alle im selben Ausmaß oder habt ihr individuelle Beziehungen untereinander?
Mara: Wir führen eine gemeinsame Beziehung, aber haben natürlich individuelle Gefühle und Beziehungen zueinander. Die Liebe füreinander lässt sich dabei aber nicht auf die Waagschale stellen. Meine Liebe zu David ist eine ganz andere Liebe als die zu Silvia und dennoch ist sie gleich groß (David und Silvia stimmen Mara nickend zu).
Mit welchen Vorurteilen werdet ihr konfrontiert?
Silvia: Die Vorurteile gegenüber unserer Beziehung sind sehr geschlechterbezogen und basieren auf Rollenverständnissen von Frau und Mann (alle lachen und verdrehen die Augen). Ich mache aus meinem polygamen Lebensstil kein Geheimnis, weshalb ich oft als Schlampe und notgeil abgestempelt werde.
Mara: Oh ja. Bei mir ist das etwas anders, da ich ja „nur“ mit David und Silvia schlafe. Viele meiner alten Freundinnen und auch meine Familie dachten, dass ich „arme Frau“ mich nicht wehren könne und den wilden Affären-Phantasien von David nachgeben würde. Die meisten glauben mir gar nicht, dass das ursprünglich meine Idee war.
Ich werde ausschließlich mit blöden Macho-Sprüchen, oft eifersüchtiger Männer, konfrontiert, wie großartig es sein müsse, zwei Frauen zu „haben“.
Und wie ist das bei dir David?
David: Ich werde ausschließlich mit blöden Macho-Sprüchen, oft eifersüchtiger Männer, konfrontiert, wie großartig es sein müsse, zwei Frauen zu „haben“. Häufig wird mir gratuliert mit den Worten: „Gönn dir!“ „Gut gemacht!“ „Immer eine zur Reserve wenn eine keine Lust hat!“ Diese Kommentare stören mich extrem, weil ich damit in das Licht eines Patriarchen mit zwei Frauen, die wie Objekte behandelt werden, gerückt werde.
Wie lebt ihr eure Beziehung in Südtirol aus?
David: Anfangs ganz offen. Wir waren so glücklich uns und diesen Lebensstil gefunden zu haben, dass wir es zu Beginn jedem quasi auf die Nase gebunden haben und mit vielen Vorurteilen und Missverständnis konfrontiert wurden.
Mara: Jetzt sind wir da etwas diskreter, da wir sowohl auf dem Arbeitsmarkt sowie im Kindergarten unserer Söhne Diskriminierung und Benachteiligung erlebt haben. Wir stehen immer noch offen zueinander. Unsere Freunde und Familien wissen Bescheid, aber wir vermeiden es unsere Beziehung öffentlich zu thematisieren.
Iniwefern?
Silvia: Wir küssen uns nicht mehr in der Öffentlichkeit zu dritt. Wenn wir mit den Kindern unterwegs sind, denken die meisten: eine „normale Familie“ und die Freundin der Mama oder eine Tante. Manchmal nervt das Verstecken, aber es ist auf Dauer einfach leichter, sich nicht immer rechtfertigen zu müssen.
Mara und David ihr habt gemeinsam einen sechsjährigen und einen fünfjährigen Sohn. Ist Silvia jetzt auch ihre Mama?
Mara: Nein.
Silvia: Mara ist ihre Mama und David ihr Tata. Ich bin die zusätzliche Freundin der Eltern. Natürlich übernehme ich hin und wieder eine Erziehungsrolle, bin Teil der Familie, passe auf die Kinder auf und liebe die beiden. Trotzdem sehe ich sie nicht als meine Kinder an.
Erst neulich meinte unser Sechsjähriger, dass ein Kindergartenfreund ihn gefragt habe, wie das bei uns zu Hause mit drei Erwachsenen funktioniert. Er meinte dazu nur, dass das doch etwas ganz Normales sei.
Wie erklärt ihr den beiden euren Lebensstil?
Mara: Das ist erstaunlich einfach. Sie kennen quasi keine Zeit ohne Silvia. Sie wissen, dass ich ihre Mama bin, David ihr Tata ist und wir eine Familie sind. Gleichzeitig verstehen sie aber auch, dass wir noch eine weitere Person in unserer Familie haben und sie lieben: die Tante Silvia.
David: Kinder sind einfacher als Erwachsene. Erst neulich meinte unser Sechsjähriger, dass ein Kindergartenfreund ihn gefragt habe, wie das bei uns zu Hause mit drei Erwachsenen funktioniert. Er meinte dazu nur, dass das doch etwas ganz Normales sei. Er könne sich schließlich auch nicht für nur einen besten Freund zum Spielen entscheiden. Unsere Söhne hatten nie großartig Fragen über unsere Beziehung, für sie war das normal. Das hat sich mit dem Kindergartenbesuch schlagartig geändert.
Was ist passiert?
Mara: Wir glauben, dass die Kindergartenpädagoginnen sowie andere Eltern und Kinder ihnen viele Fragen zu uns gestellt haben. Irgendwann kam Leon* weinend mit so vielen Fragen, die ihn verunsicherten nach Hause, dass wir ihn kaum beruhigen konnten.
Was waren das für Fragen?
David: Sind wir eine richtige Familie? Kommen noch mehr Mamas und Tatas dazu? Liebst du Silvia mehr als Mama? Liebst du Silvia mehr als uns usw.?
Silvia: In dieser Zeit habe ich viel Unmut von den Kindern zu spüren bekommen. Ich hatte immer eine gute Beziehung zu den Kindern, aber plötzlich sahen sie mich als Eindringling und Zerstörerin der „Normfamilie“ an. Mir war klar, dass schnell eine Lösung her musste, weshalb wir zu einer Familientherapeutin gingen, die uns und den Kindern sehr helfen konnte.
Angst, dass durch dieses Interview der Pfarrer vom Dorf hinter die Beziehung kommen und sie sich nicht mehr in der Kirche blicken lassen könnte.
Trotz eurer Offenheit habt ihr euch für ein anonymes Interview entschieden, warum?
(Alle lachen)
David: Um ehrlich zu sein, war es die Bitte meiner Mutter. Obwohl sie unsere Beziehung mittlerweile akzeptiert hat und dieses Jahr sogar Silvia zum ersten Mal offiziell zum Weihnachtsessen eingeladen wurde, hat sie große Angst. Sie hat Angst, dass durch dieses Interview der Pfarrer vom Dorf hinter die Beziehung kommen und sie sich nicht mehr in der Kirche blicken lassen könnte.
Mara: Weil wir merken, dass sie uns in kleinen Schritten immer mehr entgegenkommt, wollten wir den Fortschritt nicht riskieren und ihr mit dem anonymen Interview ein sagen wir „kleines Weihnachtsgeschenk“ machen.
Silvia: Außerdem will ich nicht wieder vom Weihnachtsessen ausgeladen werden (lacht).
Wie feiert eine polyamoröse Familie Weihnachten?
David: Wie jede andere nur mit einer Person mehr. Wir werden bei meiner Mutter inklusive des Restes der Großfamilie Abendessen und Bescherung feiern.
Mara: Na ja, nicht ganz. Wir werden sicherlich das Essen hinweg blöde Blicke und Kommentare erdulden und die gleich dummen Fragen beantworten müssen: „Das ist doch nur eine Phase, oder?“ Aber das ist es wert, weil sich die Kinder so über die große Bescherung mit den ganzen anderen Cousins freuen.
Silvia: Ich glaube, dass fast jedes Weihnachten auch bei den „normalen“ Beziehungsmodellen, Familien und Singles stressig und nervig sein kann. Wir haben den Vorteil, dass wir uns unserer sicher sind und danach zu dritt mit den Kindern glücklich nach Hause gehen können.
*Namen wurden geändert
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