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In einem gemütlichen Wiener Universitätsgarten, bei Vogelgezwitscher und Bienensummen, treffe ich Johannes Kramer, Doktorand am Institut für Zeitgeschichte, und Alexander Fontó, Sozialarbeiter. Die friedliche Atmosphäre passt schlecht zum Thema. Es geht um Gewalt, fehlgeleitete Jugendliche und euopaweit organisierten Hass, der auch in Südtirol grassiert. Kramer (37) und Fontó (32), die zusammen mit ihren Mitstreitern Lukas Tröger und Max Volgger ein umfassendes Dokumentationsprojekt über die Südtiroler Neonazi-Szene ab 1990 fertiggestellt haben, identifizierten eine aktive, hochgradig organisierte und international vernetzte Szene.
Die Neonazi-Szene in Südtirol zu dokumentieren ist ein Mammutprojekt. Wie seid ihr dazu gekommen? Gab es persönliche Motive?
Kramer: Schon in unserer Jugend gab es immer wieder Auseinandersetzungen und Ärger mit Neonazis. Als wir im Jahr 2014 festgestellt haben, dass es kein wirklich vollständiges Forschungs- oder Dokumentationsprojekt zu diesem Thema gibt, haben wir überlegt, was man machen kann. Durch Zufall haben wir dann bemerkt, dass sich relevante Artikel aus den wichtigsten regionalen Printmedien ab den 90er-Jahren in einschlägigen wissenschaftlichen Datenbanken finden lassen. Dann starteten wir das Projekt und den Aufbau einer eigenen Datenbank. Wir haben auch sonstiges Archivmaterial hinzugezogen und eine größere private Sammlung von Zeitungsausschnitten.
Fontó: Aufgrund des vorhandenen Datensatzes beschränkten wir uns auf die deutschsprachige Neonazi-Szene und durchforsteten die Medien nach allfälligen Berichten zum Thema. So konnten wir vor allem die Geschichte der größeren Ermittlungs- und Verhaftungswellen nachzeichnen. Außerdem sind in unserer Sammlung Innenansichten aus der Szene enthalten, etwa durch neonazistische Flugblätter, Szenezeitschriften oder sogar eine CD der Meraner Rechtsrock-Band „Südfront“.
Eine Dokumentationsarbeit, die also an die fünf Jahre in Anspruch genommen hat …
Kramer: Wir haben überwiegend ehrenamtlich und mit Hilfe unserer Kollegen Max Volgger und Lukas Tröger viel Zeit und Aufwand in diese Arbeit gesteckt Jetzt sind wir froh, eine Grundlage geschaffen zu haben, um weiter und tiefer zu dem Thema zu arbeiten. Nach dem Vorbild des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) und der Arbeit der dortigen Abteilung Rechtsextremismus soll unsere Datenbank aber nicht nur der Wissenschaft, sondern insbesondere der Präventionsarbeit dienen. Sie kann eine Basis sein, um Unterlagen und Strategien zur Aufklärung von Jugendlichen zu erarbeiten, zum Beispiel an Schulen. Wir würden uns wünschen, dass die Arbeit institutionalisiert und fortgesetzt wird.
Ihr habt Auseinandersetzungen mit Neonazis in eurer eigenen Jugend erwähnt. Was ist geschehen?
Fontó: Wenn man in den 90er- und Nuller-Jahren in einer alternativen Jugendsubkultur unterwegs war, sich auf Konzerten oder Stadt- und Dorffesten aufhielt, traf man zwangsläufig auf Leute aus neonazistischem Umfeld. Es hat meistens gereicht, „alternativer“ auszusehen oder sich in gewissen Jugendzentren aufzuhalten, um den Hass dieser Leute auf sich zu ziehen. Es ist auch durchaus der Fall, dass bekannte Neonazis in der eigenen Dorfgemeinschaft sehr gut integriert waren und sind.
Was auch hervorsticht, ist der hohe Vernetzungsgrad der Szene. In Südtirol involvierte Organisationen sind etwa Blood and Honour, die junge NPD und nicht zuletzt das NSU-Umfeld.
Wie ausgeprägt ist die Südtiroler Neonazi-Szene, wenn man sie mit dem gesamten deutschsprachigen Raum vergleicht?
Kramer: Das kann man schwer sagen. Es fehlen für solche Vergleiche schlicht die empirischen Grundlagen. Wenn man sich die letzten 30 Jahre aus der Vogelperspektive anschaut, ist es überraschend, wie viel da los war. Zu Beginn der 90er-Jahre geht es mit den ersten Hausdurchsuchungen los, um 2000 findet dann eine Wende statt. Es gibt die ersten Verhaftungswellen und zwischen 2006 und 2009 erreichen die Ermittlungen einen Höhepunkt. Da gab es teilweise auf einen Schlag Hausdurchsuchungen bei über 40 Personen, mit über hundert Beamten im Einsatz. Das sind in einem kleinen Land wie Südtirol beachtenswerte Dimensionen. Was auch hervorsticht, ist der hohe Vernetzungsgrad der Szene. In Südtirol involvierte Organisationen sind etwa „Blood and Honour“, die junge NPD und nicht zuletzt das NSU-Umfeld (siehe Infokasten rechts, Anm. der Redaktion).
Fontó: Südtiroler Neonazis waren in einer sehr lebhaften und aktiven Szene miteinander vernetzt und sind es weiterhin. Das ist vielen nicht bewusst. Stattdessen erzählt man in der öffentlichen Aushandlung des Problems lieber die Mär von ein paar einzelnen verirrten Jugendlichen, den oft zitierten „Jugendspinnereien“.
Man denke an Sätze wie „Südtirol bleibt deutsch“. Das schafft mehr als nur einen romantischen Heimatbezug. Das ist eine Sprache, die jener der Neonazi-Szene schon sehr nahesteht.
Wer hat Interesse an solchen Augenwischereien?
Kramer: Es gibt in Südtirol einen politischen Mainstream, dem sehr daran gelegen ist, sich von den Neonazis zu distanzieren. Das Phänomen ist aber immer ein Problem der Mainstream-Gesellschaft, die Grundkonzepte entnehmen die jungen Menschen ihrem unmittelbaren Umfeld. In Südtirol haben wir es zum Beispiel mit einer sehr ethnisierten Politik zu tun. Patriotische Organisationen liefern ein bestimmtes Wording und bestimmte Ideen, die dann unter Umständen radikalisiert werden können. Es gibt Anführer und Anhänger der Neonazi-Szene, die gleichzeitig Mitglieder des Südtiroler Heimatbunds oder des Schützenbunds sind. Das ist kein Zufall.
Fontó: Der ethnisierte Diskurs in Südtirol führt auch dazu, dass hier Slogans salonfähig sind, die anderswo, etwa in Deutschland, nicht in diesem Ausmaß oder in dieser Intensität vorstellbar wären.
Kramer: Man denke an Sätze wie „Südtirol bleibt deutsch“. Das schafft mehr als nur einen romantischen Heimatbezug. Das ist eine Sprache, die jener der Neonazi-Szene schon sehr nahesteht.
Dabei haben es die Nazis mit Südtirol nicht gut gemeint. Ist es nicht ein Widerspruch, Tiroler Patriot zu sein und sich gleichzeitig für den Nationalsozialismus zu begeistern?
Kramer: Das Argument ist bei deutschsprachigen Rechtsparteien in Südtirol sehr beliebt. Wer die Geschichte Südtirols kennt, der könne sich nicht für Hitler begeistern. Was bei Interviews mit Neonazis und Hausdurchsuchungen zum Vorschein kommt, ist eine andere Realität. Da existieren nazistische Symbole und „Ein Tirol“-Schilder nebeneinander. Die historischen Widersprüche sind für Südtiroler Neonazis offenbar irrelevant. Oder es wird mit Propagandalügen geantwortet, wie sie noch der Völkische Kampfring (VKS) verbreitete. Hitlers Abkommen mit Mussolini erklärt man sich damit, dass es sich nur um eine Aufschiebung der Südtirol-Frage gehandelt habe, um einstweilen den Krieg zu gewinnen.
Auch Südtirols Nationalheld Andreas Hofer spielt eine zweideutige Rolle. Einst Namensgeber der antinazistischen Widerstandsgruppe „Andreas-Hofer-Bund“, ist er heute auch eine volkstumspolitische Leitfigur für viele Rechtsextreme.
Kramer: Gerade an Hofer lassen sich die Widersprüche gut illustrieren. Für die antinazistischen Widerstandskämpfer war er ein Vorbild als Freiheitskämpfer gegen die Fremdherrschaft. Sogar Österreicher in der französischen Resistance bezogen sich auf ihn. Nach 1945 avancierte Hofer allerdings zur Ikone der Südtiroler Patrioten, als ein Symbol für den Kampf um die Südtiroler Identität. Da werden bestimmte Motive von der historischen Persönlichkeit entkoppelt und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Diese Motive – etwa der Kampf um das Deutschtum – sind auch für Neonazis sehr ansprechend. So fanden sich bei den sogenannten „Andreas-Hofer-Wander- und Vortragswochen“ ab 2004 regelmäßig Rechtsextreme aus dem deutschsprachigen Raum ein. Auch der NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben soll anwesend gewesen sein. Ein gutes Beispiel, wie unter der Überschrift „Andreas Hofer“ alles Mögliche zusammenfindet.
Gibt es so etwas wie einen Neonazi-Archetypen? Springer-Stiefel, Glatze, Tattoos mit einschlägigen Symbolen?
Kramer: In dem Zeitraum, mit dem wir uns befasst haben, erfüllte die neonazistische Szene sehr häufig solche Klischees, sie war stark am Skinhead-Kult orientiert (siehe Infokasten rechts, Anm. der Redaktion). Inzwischen hat sich dieses Bild verändert. Die Szeneanhänger haben ein weniger auffälliges Erscheinungsbild, deswegen ist inzwischen auch von sogenannten „Hipster-Nazis“ die Rede. Da gibt es viele Überschneidungen mit den Identitären. Generell rückt bei Rechtsextremen der Nationalsozialismus aber auch der Nationalismus in den Hintergrund, stattdessen taucht vermehrt ein Narrativ auf, welches das christliche Europa im Kampf gegen nichtchristliche Invasoren sieht.
Bei jungen Menschen trifft man noch ein Zeitfenster, wo die ideologische Identität nicht so gefestigt ist. Innerhalb dieses Fensters sind die jungen Menschen für Alternativen ansprechbar.
Jeder Neonazi ist grundsätzlich auch ein Mensch. Was treibt einen Menschen in eine solche Szene hinein?
Kramer: Wo es um Individuen und ihre biographischen Hintergründe geht, stößt unser Dokumentationsprojekt, das sich als Fundament für weitere Arbeiten versteht, auf Grenzen. Das Selbstbild der meisten Neonazis ist jedenfalls in unserem Fall ein proletarisches, man begibt sich dabei gerne in die Rolle des Devianten und Randständigen. Warum die Menschen das machen, kann verschiedene Gründe haben. Zum einen gibt es die älteren, ideologisch gefestigten Akteure. Bei ihnen kann man meist nur noch wenig bewegen, sie werden immer wieder auffällig. Zum anderen gibt es Jugendliche, die in die Szene geraten und dort Erfahrungen von Zugehörigkeit und Gruppensolidarität machen, die sie in ihrem sonstigen Umfeld vermissen.
Fontó: Genau da kann man mit der Präventionsarbeit ansetzen, oft mit Erfolg. Bei jungen Menschen trifft man noch ein Zeitfenster, wo die ideologische Identität nicht so gefestigt ist. Innerhalb dieses Fensters sind die jungen Menschen für Alternativen ansprechbar.
In Südtirol dominiert in Hinsicht auf die eigene NS-Geschichte noch immer das Opfer-Narrativ. Könnte eine konsequentere Aufarbeitung der eigenen Geschichte auch etwas bewirken?
Kramer: Erinnerungskultur ist sehr wichtig, aber kann nicht alleine das Problem lösen. Auch in Deutschland gab es in den 90er-Jahren, gerade dann, als sich die Gesellschaft sehr intensiv und offen mit der NS-Zeit auseinandersetzte, regelrechte Peaks in den Aktivitäten der Neonazi-Szene.
Fontó: Erinnerungskultur ist nur eine von mehreren Präventionsmaßnahmen und gehört in den Bereich „Bildungspolitik“. Daneben gibt es aber auch andere Maßnahmen.
Man muss den Jugendlichen Alternativen bieten, ansonsten wird es den Rechtsextremen leichtfallen, die Jugendlichen anzusprechen.
Welche wären das?
Kramer: Grundsätzlich wäre es wünschenswert, wenn in der politischen Kultur die exkludierenden Heimatbezüge weniger präsent werden würden.
Fontó: Auf der Mikroebene geht es zudem um spezifische pädagogische und sozialpolitische Angebote, die direkt an Jugendliche gerichtet sind. Man muss den Jugendlichen Alternativen bieten, ansonsten wird es den Rechtsextremen leichtfallen, die Jugendlichen anzusprechen. Oft sind diese Gruppierungen ungemein geschickt darin, Räume für Jugendliche zu schaffen, mit Konzerten, Festivals und einem starken Solidaritätsgefühl innerhalb der Gruppe.
Wer ist gefragt, wenn es darum geht, Alternativen zu schaffen?
Fontó: Wir haben einen klaren Appell an die Landespolitik, mehr Geld bereitzustellen für Aufklärungsarbeit und offene Kinder- und Jugendarbeit. Auch Freiräume für alternative Jugendkultur sind ein wesentlicher Präventionsfaktor. Da sind wiederum Gemeinde- und Stadtpolitik sehr stark gefragt, sich nicht an Klauseln und Paragraphen zu hängen, sondern für die Jugend ansprechende und partizipative Angebote zu schaffen. Mitbestimmung ist eine der wichtigsten Säulen für eine funktionierende Demokratie.
Vertiefte Informationen bietet der Aufsatz „Die Südfront im Kontext. Neonazistische Szene in Südtirol 1990-2015. Ein Dokumentationsprojekt, ein Ereignisabriss und erste Erkenntnisse” von Johannes Kramer/AlexanderFontó/Lukas Tröger/Max Volgger, erschienen im Sammelband „Der identitäre Rausch. Rechtsextremismus in Südtirol” (Edition Raetia 2019).
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